Hochmut kommt vor dem Fall
Der Sinkflug der Unionsparteien im Bundestagswahlkampf und die eher verzweifelte Lage ihres Kanzlerkandidaten ist der – nun auch von Gesundbetern nicht mehr abstreitbare – größere Zusammenhang, in dem am letzten Wochenende auf „Hallo Meinung“ meine nachstehende, absichtlich in Alltagssprache gehaltene Analyse erschien.
Im Grunde enthält sie auch nichts Neues. Die dort dargestellten Zusammenhänge beschreibe ich ja seit vielen Jahren, und ich warnte – auf diesem Blog nachlesbar seit 2015 – bei jeder passenden Gelegenheit die Unionsparteien vor jener strategischen Sackgasse, in welche sie bei weiterer Selbstgefälligkeit unweigerlich geraten würden. Und genau in der befinden sie sich nun auch wirklich.
Jetzt also nähert sich die „Stunde der Wahrheit“. Das ist wohl auch gut so. Denn eine Therapie für die Ursachen des Ansehensverfalls der Union kann erst dann entwickelt werden, wenn wenigstens die meisten Verantwortlichen jene zutreffende Diagnose akzeptieren, die sie nun schon jahrelang zwar immer wieder zu hören bekamen, doch zu keinem Zeitpunkt ernsthaft erörtern wollten.
Warten wir aber erst einmal ab, ob die Union wenigstens aus Schaden klug wird – nachdem sie sich zu guten Zeiten ganz irrtümlich für unfehlbar hielt.
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Hochmut kommt vor dem Fall. Dieser fast immer richtige Satz bewahrheitet sich derzeit am Beispiel der Unionsparteien. Siegesgewiss gingen sie monatelang aus auf eine Koalition mit den Grünen – herabschauend auf FDP und SPD, angewidert von der AfD. Und nun beschleicht sie Angst, nicht nur wieder einmal ihr bislang schlechtestes Wahlergebnis zu erzielen, sondern auch noch in der Opposition zu landen. Solche Furcht lindert nicht einmal mehr die Hoffnung, jetzt schon den Spitzenkandidaten Laschet als Sündenbock in die politische Wüste schicken zu können und sich in Deutschlands Süden nach einer Lichtgestalt umzusehen. Denn auch die CSU des immer opportunistischer auftretenden bayerischen Ministerpräsidenten ist im Sinkflug. Derzeit erklären das viele als Strafaktion der Bürgerschaft wegen der Unterstützung eines falschen Kanzlerkandidaten. Doch mit einigem Abstand werden auch jene Gesundbeter erkennen, dass selbst im weiß-blauen Freistaat die Union sehr viele ihrer Anhänger vergrault hat, weshalb sie politisch mehr und mehr vereinsamt.
Durchaus absehbar war das alles für den Fall, dass die mehrheitliche Journalistensympathie für grüne und sozialdemokratische Politik nicht länger über Angela Merkel auch der Union zugute kommen würde. Natürlich hat man in der Union ebenfalls um diesen Zusammenhang gewusst, ihn aber anders gedeutet und formuliert. Denn Friedrich Merz galt es als Parteivorsitzenden zu verhindern, weil grün-sozialdemokratische Merkel-Wähler nicht abgeschreckt werden sollten; die WerteUnion war als Krebsgeschwür aus dem Parteigewebe der Union zu entfernen, damit die Union nicht – durch deren Duldung – Beifall von der falschen Seite bekomme; und erst Kramp-Karrenbauer, dann Laschet mussten an die Spitze der CDU und somit der Union, weil sie Kontinuität, also eine Fortsetzung jenes Merkel-Kurses verhießen, der Deutschlands Journalisten so lieb und für die Union scheinbar alternativlos gut war.
Dass es für die Union aber eine „Zeit nach Merkel“ geben würde, behandelte man als strategisch ebenso belanglos wie die Frage, ob die Hoffnung wirklich weise wäre, man könne die – auch aufgrund eigener schroffer Zurückweisung – endgültig zur AfD abwandernden Unionswähler durch die Bindung ansonsten grüner Stimmbürger an die Union kompensieren. Tatsächlich erklärten gerade CDU und CSU die meisten Positionen der Grünen zu solchen „aus der Mitte der Gesellschaft“ und machten sie auf diese Weise mehrheitsfähig. Zugleich flaggte die Union etliche ihrer früheren Positionen als rechtsradikal aus und trennte sich so von jenem Teil ihrer einstigen Wählerschaft, dessen fortan nicht mehr gewinnbaren Stimmen man jetzt eben doch als Verlust erlebt. Beides waren jene Strategiefehler, deren Folgen nun die Union nach unten ziehen. Es macht für CDU und CSU nun einmal einen fühlbaren Unterschied, ob man dauerhaft mit einer AfD leben muss, die in den neuen Bundesländern bis auf 20 Prozent, im Westen bis auf zehn Prozent der Wählerstimmen kommen kann; und es macht im Wahlkampf einen Unterschied, ob man in auch personalpolitisch glaubhafter Weise eine Korrektur Merkelscher Europa-, Energie- und Migrationspolitik in Aussicht stellen kann.
Offenkundig vermag die Union das nicht, zumindest nicht in diesem Wahlkampf. Also wählt nun die Grünen oder die SPD, wer eine Alternative zu bisheriger Politik ohnehin für entbehrlich, ja für gefährlich hält, weil an Merkels Kurs und Kurswechseln nichts wirklich falsch gewesen wäre. Wer aber beides als oft fehlerhaft erachtet, der wählt nun entweder die AfD als klarste Alternative zum Bestehenden – oder, falls ihn der Zustand dieser Partei abschreckt, stimmt für die FDP. Und wer Merkels Politik vor allem darin als falsch ansieht, dass sie zu wenig grün und nicht links genug gewesen wäre, der stimmt jetzt eben für die Linke. Letzteres fällt für die Union zwar nicht sehr ins Gewicht. Doch sehr wohl tut das die Abwendung von Merkel-Fans hin zu den Grünen und zur SPD – und erst recht der vermutlich dauerhafte Wählerverlust an die AfD.
Beide Lecks im Pool ihrer bisherigen Wählerschaft kann die Union bis auf Weiteres nicht mehr abdichten. Ohnehin werden sie von der Unionsführung bis heute gar nicht als Lecks begriffen, sondern wurden von dieser als „wünschenswerte Öffnung zur Mitte“ bzw. als „notwendige Abgrenzung nach rechts“ sogar selbst verursacht. AfD-Wähler wären nämlich – so die Mehrheitsmeinung der Unionsführer – immer schon rechtsradikal und somit eine Hypothek der Union, die man nun endlich los sei. Und den Positionen von Grünen und SPD gehöre ohnehin die Zukunft, weshalb diese Positionen auch ihrerseits einzunehmen die Union dauerhaft auf die Siegerstraße bringen werde.
Im Grunde kann man den im politischen Tagesbetrieb befangenen Unionspolitikern solche Fehleinschätzungen nicht einmal allzu sehr verübeln. Sie beteten da einfach nach, was viele Journalisten und Berater ihnen vorbeteten. Immerhin entspricht Sympathie für die Grünen und Verachtung für die AfD dem Durchschnittscredo der deutschen Journalistenschaft. Genau deshalb bescherte diese auch der anfangs so skeptisch betrachteten Grünenfreundin und AfD-Verächterin Merkel ihre – für deutsche Kanzler so unübliche – Rolle als Dauerliebling von Medien sowie als Spitzenreiterin bei Beliebtheitsumfragen. Davon profitierte die Union nun viele Jahre lang. Leichtfertig – und zu Unrecht – nahm die Union das für eine in ihrer „guten Politik“ begründete Dauertatsache, nicht aber für einen flüchtigen Vorteil, der sich nur einer zeitweisen, an Merkels Regierungsrolle gebundenen journalistischen Gunstgewährung verdankte.
Zweifel an der dauerhaften Erfolgsträchtigkeit ihres für alternativlos gehaltenen Kurses kamen der Unionsführung erst, als die Grünen die Union bei der demoskopischen Standardfrage nach dem Abstimmungsverhalten bei einer Bundestagswahl „am kommenden Sonntag“ einholten. Sie wuchsen, als Annalena Baerbock wie eine jugendliche Vollenderin von Angela Merkels journalistisch bewundertem Werk zum Medienliebling wurde. Kurzfristige Entlastung für die Union schuf dann die rasche Entzauberung der grünen Kanzlerkandidatin. An deren Stelle als wenn schon nicht politischer Liebling, so doch als politische Respektsperson trat dann aber der sozialdemokratische Kanzlerkandidat. Auch der steht für eine Fortsetzung vieler Politiken Angela Merkels und macht somit eine Stimmabgabe zugunsten der Sozialdemokraten umso plausibler, je weniger die Esken & Kühnert-SPD in Erscheinung tritt – und als je schwächer der Unionskandidat sich erweist oder immerhin beschrieben wird.
Aus dieser misslichen Lage gibt es für die Union bis zum Wahltag keinen selbst zu öffnenden Ausweg mehr. Traute man Grünen und Linken solchen strategischen Weitblick zu, könnte man sogar sagen: Deren Plan, die Union dauerhaft um ihre traditionelle Machtposition zu bringen, ist voll aufgegangen. Denn erst lockte man CDU und CSU auf sozialdemokratische und grüne Positionen; dann zwang man sie zur dauerhaften Abgrenzung von einem auf diese Weise ihr endgültig entfremdeten Teil ihrer früheren Wählerschaft; und fortan kann man die Union – als Partei allein der politischen Mitte – nach Belieben politisch erpressen, weil sie fortan ohne einen linken Koalitionspartner nicht mehr mehrheitsfähig ist, bei einer Zusammenarbeit mit der AfD aber politisch zerfleddert würde.
Obwohl mehrfach vor einem Hineinschlittern in genau diese Lage gewarnt, verfolgten die Merkelianer in der Union ihren Kurs bis heute starrsinnig. Insofern erweist sich ihr parteipolitischer Sieg sogar noch in jenen Wochen als umfassend, in denen er sich als ein Pyrrhussieg herausstellt.