Zum Scheitern in Afghanistan

Zum Scheitern in Afghanistan

erschienen auf „Hallo Meinung“ am 12. September

Wenn die Welt anders ist, als man sie sich vorstellt, und wenn man deshalb in ihr scheitert, muss das nicht an der Schlechtigkeit der Welt liegen. Oft liegt derlei einfach an falschen Vorstellungen, die man sich selbst von der Welt gemacht hat, und daran, dass man an genau ihnen sein Handeln ausrichtete – meist auch noch unbelehrbar, gar voll von Empörung über jene, die einem widersprachen. Gerade so gingen Deutschland und der Westen mit Afghanistan um. Das scheiterte – absehbar und erwartbar. Und das auf Kosten vieler Gefallener, außerhalb von Kampfhandlungen Getöteter, körperlich und seelisch Verletzter, sowie zu Lasten derer, denen mit den im Afghanistan-Krieg ausgegebenen Milliarden zu einem wirklich besseren Leben hätte verholfen werden können.

Was lief schief? Sehr vieles, und zwar in einer durchaus nicht aufgezwungenen Verkettung von Irrtümern! Diese begannen mit dem weit verbreiteten Unwillen, aus der Geschichte zu lernen. Seit jeher war Afghanistan aufgrund seiner geographischen Beschaffenheit und des Selbstbehauptungswillens der dort lebenden Völkerschaften ein „Friedhof der Imperien“. Doch die Sowjetunion wollte klüger sein als das dort gescheiterte Britische Reich, und die USA samt ihren Verbündeten dünken sich ohnehin stets klüger als Russland. Also zogen auch sie mit Siegeswillen nach Afghanistan und kehrten dann, wie noch jede auswärtige Macht, nach Selbstaufgabe durch Zermürbung ganz ohne nachhaltigen Erfolg ins eigene Land zurück. Offen ist, ob China in den nächsten Jahrzehnten dort die gleiche Erfahrung machen wird. An dazu verleitender Selbstgefälligkeit fehlt der chinesischen Führung jedenfalls nicht.

Überheblichkeit ist der zweite Schlüssel zum Verständnis westlichen Scheiterns in Afghanistan – und nicht nur dort. Denn nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion verstand sich der Westen nicht mehr als Teil eines – sich eben auch an ihm vollziehenden – geschichtlichen Werdens und Vergehens. Vielmehr schien manchen seiner Eliten die Geschichte nun ihrerseits zum Stillstand gekommen zu sein, da sich die einzig richtige Gesellschaftsform im großen Ringen zwischen Ost und West durchgesetzt hätte. Also gehe es nur noch darum, „den Westen“ auf unserer Erde flächendeckend heimisch zu machen. Alles Wichtige in der Weltgeschichte sei anscheinend hinausgelaufen auf die jetzt siegreichen Vorstellungen von allgemeinen Menschenrechten, von Rechtsstaatlichkeit und von Demokratie. Samuel Huntington, der solchen Träumen vom „Ende der Geschichte“ widersprach und auf das Fortbestehen sehr unterschiedlicher Kulturen und mannigfacher identitätsbildender Kräfte verwies, galt da nicht nur als Störenfried, sondern auch als nachgerade kulturrassistischer Menschenfeind, weil er auf wohl nicht ausbleibende Zusammenstöße zwischen den weiterhin unterschiedlichen Zivilisationsformen auf der Erde hinwies. 

Doch dem Westen galt es als ausgemacht, dass er sich nach dem Sieg im Ost/West-Konflikt nicht länger um den Schutz der eigenen Identität und Grenzen kümmern müsse. Das alles könne nämlich niemand mehr bedrohen. Vielmehr sei es fortan die Aufgabe des Westens, überall seine eigenen Wirtschafts-, Gesellschafts- und Politikmuster durchzusetzen. Im weltweiten Kapitalismus unter der Fahne des Liberalismus geeint, könne man nämlich überall Demokratien errichten, die – durch Globalisierung verwoben und künftig von Ideologie oder Religion unbehelligt – den Weltfrieden sichern würden, natürlich gemäß den für universell gehaltenen westlichen Interessen sowie unter westlicher Führung. Alsbald wandelte sich die NATO von einer Verteidigungsallianz zu einem Interventionsbündnis, dem Anspruch nach zu einem kollektiven Weltpolizisten. Anfangserfolge auf dem geopolitisch winzigen Balkan ermunterten dazu, aufgezwungene Ordnungspolitik in „Koalitionen der Willigen“ unter US-Führung auch im größeren Rahmen des Irak oder Afghanistans zu versuchen. Seit einiger Zeit hätte aber das Scheitern westlicher Ordnungsversuche im Nachgang des erhofften „arabischen Frühlings“ unseren Politikern Warnung genug sein können.

Hinzu kam – „militärpolitische Naivität“ zu nennen – der gerade in Deutschland sehnsüchtig verfolgte Wunsch, auf militärische Macht wenn schon nicht überhaupt zu verzichten, so sie doch auf die Absicherung ziviler Politikprojekte zu beschränken. Das ist zwar vom Grundsatz her nicht verkehrt, denn ethisch vertretbar ist militärische Gewalt stets nur dann, wenn sie im Dienst ihrerseits ethisch vertretbarer Politik steht. Doch falsch wird ein solcher Politikansatz immer dann, wenn Militär für ohnehin nicht erreichbare Zwecke eingesetzt wird – und dabei vor allem: für den Aufbau pluralistischer Demokratie in Gesellschaften, denen es an den Voraussetzungen einer so anspruchsvollen und störanfälligen Politikform schlechterdings fehlt. Und zum vorwerfbaren Missbrauch von Soldaten gerät solche Politik, die bestenfalls gut gemeint ist, immer dann, wenn vom Militär ganz anderes verlangt wird als das, was Soldaten wirklich gut zu leisten vermögen. Sehr gut ist staatlich geführtes Militär nämlich bei der Durchführung von Kommandoaktionen, bei der Erfüllung von Organisations- und Transportleistungen, bei der raschen Entfaltung von zielgenauer Feuerkraft und bei der Zerschlagung zentral geführten Widerstands. Unzulänglich aber sind staatliche Truppen stets dann, wenn es um viele, rasch wechselnde kleine Ziele geht, bei deren Bekämpfung erhebliche Nebenschäden drohen; wenn sich dauerhaft dezentraler Widerstand regt; und wenn eine neue politische Ordnung in einer die Invasoren ablehnenden Gesellschaft errichtet werden soll. Genau das war, erkennbar für jeden mit klarem Tatsachenblick, in Afghanistan der Fall. 

Sogar ganz aussichtslos wird eine solche „asymmetrische Kriegführung“, wenn sie sich ein demokratisch verfasster Staat mit kritischer, politisch aktionsfähiger Öffentlichkeit antut. In einer Demokratie sinken nämlich Kriegsbereitschaft und Durchhaltefähigkeit im Zeitverlauf stets drastisch ab, wenn es nicht eindeutig um die Bedrohung des eigenen Landes und seiner Kultur geht. Falls dann auch noch klar unrealistische Kriegsziele vertreten werden wie die Errichtung von liberaler Gesellschaft und Demokratie in einem dafür nicht bereiten Land, ist die Niederlage an der Heimatfront eigentlich schon besiegelt. So war es in Vietnam, so im Irak, so in Afghanistan – und so wird es für Frankreich und Deutschland auch in Mali sein. Mühsam haben diese Lektion inzwischen die USA gelernt – und dann freilich jene im Stich gelassen, die gutgläubig oder verzweifelt genug waren, sich wieder einmal auf das Abenteuer eines „demokratievorbereitenden Krieges“ einzulassen.

In diesem größeren Zusammenhang wäre es sehr leicht, sich über die Fehler gerade Deutschlands zu erregen, das weiterhin traumatisiert ist durch – nicht nur, aber eben auch – die Fehler seiner Kriege von 1914-1918 und 1939-1945. Doch Häme muss da nicht sein, zumal viele neuere deutsche Fehler gerade aus gutem Willen erwuchsen. Die wichtigsten davon waren: der westlichen Führungsmacht nach den Anschlägen von 9/11 trotz falscher Politik loyal beistehen; „Frieden schaffen ohne Waffen“ als Grundinstinkt; zivile Wiederaufbauarbeit nur quasi-polizeilich absichern; nicht militärisch wirksam Gegner bekämpfen, sondern parolenstark „die Freiheit verteidigen“ – die von Frauen und Mädchen in Afghanistan, die von Deutschland am Hindukusch. Doch benennen muss man diese Fehler sehr wohl, zumal sich Deutschlands Politiker durch sie an unseren Soldaten versündigt haben. Dabei ist es zu billig, die Schuld allein der Bundesregierung zuzuschreiben – obwohl es empörend ist, wenn sich Deutschlands Kanzlerin so äußert, als wäre die Koordination der Ministerien nicht gerade ihre Pflicht gewesen, und als hätte sie nie eine andere Verantwortung gehabt als die einer Kommentatorin, die Tatsachen nicht schafft, sondern bloß feststellt.

Tatsächlich war es genau der Bundestag, der Jahr für Jahr die Inhalte und Grenzen des Bundeswehrmandats für Afghanistan beschlossen hat. Als Auftraggeber einer Parlamentsarmee war er deshalb höchst pflichtvergessen, als er zunächst unsere Soldaten mit unzulänglicher Bewaffnung nach Afghanistan schickte und ihnen dann eher mit Vorwürfen als mit Unterstützung kam, wenn sie sich dem Kampf auch stellten, also nicht, wie so viele Politiker, das Hasenpanier ergriffen. Ganz dem beschämenden Nicht-Empfang unserer heimkehrenden Soldaten durch ausbleibende persönliche Worte von Politikern an den Zielflughäfen entspricht übrigens Deutschlands politisch fahrlässiger, ja unmenschlicher Umgang mit jenen Afghanen und deren Familien, die unseren Truppen oder unseren zivilgesellschaftlichen Hilfsorganisationen jahrelang Übersetzer- und Versorgungsdienste geleistet haben. Sofern man von einem Staat „erwachsenes Verhalten“ verlangen kann, hat der unsere ein solches während des Afghanistan-Einsatzes oft gerade nicht in an den Tag gelegt. Dabei geht dieser Vorwurf klar nicht an unsere Soldaten, sondern an unsere Parlamentarier und an die zuständigen Regierungsmitglieder – wenn auch nicht an alle, oder gar an alle gleichermaßen.

Zu welchen Einsichten sollten wir uns angesichts des Afghanistan-Desasters durchringen? Erstens: Wir müssen eine öffentliche Diskussion darüber führen, was ein richtiger und dann auch im weitgehenden gesellschaftlichen Konsens zu praktizierender Umgang mit der Bundeswehr und mit dem Soldatentum in unserem Land wäre. Zweitens: Wir brauchen eine Neubelebung kritischen geopolitischen Denkens, das der deutschen Öffentlichkeit – über das beliebt gewordene Moralisieren hinaus – eine vernunftgeleitete Orientierung über sicherheitspolitisch Tunliches oder zu Unterlassendes ermöglichte. Drittens: Wir müssen akzeptieren lernen, dass eine pluralistische Demokratie auf der Grundlage liberaler Gesellschaftsstrukturen zwar die menschenfreundlichste aller Staatsformen ist, dass diese aber Voraussetzungen benötigt, die weder überall gegeben sind noch – wenn überhaupt – sich in für praktische Politik ausschlaggebenden Zeiträumen schaffen lassen. Deshalb brauchen wir, viertens, auch eine öffentliche Debatte über tragfähige Leitlinien eines nachhaltig unseren eigenen Interessen dienenden Zusammenwirkens mit den – gewiss noch zu Lebzeiten unserer Enkel – weiterbestehenden Diktaturen. 

Es reicht jedenfalls weniger denn je das modische Wetteifern um das rhetorisch attraktivste Weltbild. Es zahlen sich für unser Land und für jene, denen es helfen will, auch nicht länger die beliebten Schönheitswettbewerbe um das medial bestmöglich ankommende Gutmenschentum aus. Wir brauchen vielmehr eine Debatte zur Erarbeitung eines politischen Weltbilds, welches mit der Funktionslogik und Entwicklungsdynamik der Wirklichkeit soweit übereinstimmt, dass wir auf dieses Lagebild eine realistische und genau deshalb nachhaltig wirksame Politik gründen könnten. Das muss gewiss weiterhin eine solche Politik sein, die Ideale wie Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und pluralistische Demokratie nicht verrät. Doch sie darf nicht länger eine solche Politik sein, die vorgibt, mit dem Beschwören von Idealen sei auch schon das Geringste in jener Welt erreicht, die wirklich besteht.

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