CDU: Irrungen und Wirrungen!
Die Bundesführung der CDU scheint Schwierigkeiten zu haben, die Ursachen des niederschmetternden Ergebnis der Europawahl wirklich zu verstehen. Das deutete sich schon an, als die Bundesvorsitzende am Sonntagabend ausgerechnet die CDU zum Wahlsieger erklärte – weil sie nämlich, trotz starker Verluste, wieder stärkste Partei geworden sei. Man verharmlost aber nur den eigenen Abstieg, wenn man auf noch schwächere Andere verweist.
Schon gar nicht kommt die Bundesführung der CDU strategisch mit der Tatsache zurecht, dass Deutschland faktisch aus zwei recht verschiedenen Wahlgebieten besteht, in denen sich für die Union sehr unterschiedliche Herausforderungen stellen. In den Altbundesländern – und nur in den Großstädten der neuen Bundesländer – sind die Grünen auf der Siegerstraße und haben die SPD vom Rang des Champions zwischen der politischen Mitte und dem linken Rand verdrängt. Mit Ausnahme Bayerns gibt es in den alten Bundesländern nicht mehr jene stabilen Mehrheiten zwischen der politischen Mitte und dem rechten Rand, in denen sich die Union so lange als Stabilitätsanker unseres politischen Systems festmachen konnte. In den neuen Bundesländern hingegen gibt es klare – politisch allerdings bis auf Weiteres nicht nutzbare – Mehrheiten zwischen der Mitte und dem rechten Rand. Dort aber befindet sich inzwischen die AfD auf der Siegerstraße und hat sogar Chancen, bald die CDU als Champion zwischen der Mitte und dem rechten Rand abzulösen.
Bundesweite Durchschnittsbetrachtungen ebnen diese politisch hochbrisanten Unterschiede ein verharmlosend ein. Und weil es im Westen nun einmal eine viel größere Wählerschaft gibt als im Osten, prägt leicht der bequeme Blick auf den Westen die Lagebeurteilung der Führung auch einer bundesweit agierenden CDU. Tatsächlich beruhigen sich die meisten westdeutschen CDU-Landesverbände über die Aufwärtsentwicklung der AfD mit dem Hinweis, diese Partei habe doch nur ein paar Prozentpunkte dazu gewonnen. Doch in Ostdeutschland ist die AfD in zwei Bundesländern die stärkste und allenthalben sonst die zweitstärkste politische Kraft. Eine weitere Fortsetzung jenes CDU-Kurses, der die AfD in den neuen Bundesländern so stark werden ließ, wird die dortigen Landesverbände der CDU gegen Ende des Jahres vermutlich in jene verzweifelte Lage gebracht haben, in der sich die überall die SPD hinsichtlich der Grünen als ihrer viel attraktiveren Konkurrenzpartei befindet.
Das scheint die Bundesführung der CDU aber nicht ernstzunehmen. Vielmehr glaubt sie, sich mit den Grünen als der neuen Führungspartei eines – meist möglichen – grün-rot-roten Bündnisses gutstellen zu sollen. Schwarz-Grün – oder bald wahrscheinlicher: Grün-Schwarz – scheint dann jenes politische „Bündnis der Mitte“ zu sein, das in Fortsetzung der früher bewährten Unions-FDP-Koalitionen unsere Gesellschaft zusammenhalten kann. Tatsächlich wirken auf breite Teile der deutschen Öffentlichkeit Politikstil und Programmangebot der Grünen wie vorbildlich, zukunftsträchtig und alternativlos richtig. Deshalb hat inzwischen – nach SPD und Linken – auch die CDU das politische Ringen gegen die Grünen weitgehend eingestellt. Vielmehr versucht die CDU, in der „Mitte“ dadurch Anhänger an sich zu binden, dass man sich selbst als „die besseren Grünen“ vorstellt. Die CDU scheint beim Blick auf die Grünen vergessen zu haben, dass Wähler im Zweifelsfall lieber zum Original als zur Kopie greifen – also lieber die Grünen wählen als eine CDU, die so tut, als wäre sie „endlich auch“ eine irgendwie grüne Partei.
Gewiss dürfen auch Unionspolitiker der Ansicht sein, die politischen Positionen der Grünen – vom Atomausstieg über den Kohleausstieg bis hin zur Klimapolitik und zum Lob einer multiethnischen-multikulturellen Gesellschaft – wären alternativlos richtig und sollten deshalb auch von der CDU vertreten werden. Doch es ist für die CDU nicht wirklich ratsam, die folgende Tatsache zu übersehen: Unser ganzes Parteiensystem schichtet sich seit einigen Jahren um, nämlich im politischen Spannungsfeld zwischen Grünen und AfD. Beide Parteien vertreten in sich gut zusammenpassende, doch einander völlig entgegengesetzte Positionen im seit einigen Jahren zugespitzten, wohl noch jahrzehntelang unser Land prägenden gesellschaftlichen Großkonflikt („Cleavage“): Was soll die Rolle des Nationalstaats samt seiner Souveränität, sozialstaatlichen Solidarität, Kultur und Bevölkerungszusammensetzung im Zeitalter von Globalisierung, Europäisierung und vielfach bewirkter Massenmigration sein? In diesem Großkonflikt tendiert eine Mehrheit der Westdeutschen (vor allem der jüngeren) zum Pol der Grünen, eine Mehrheit der Ostdeutschen (zumal der Älteren) aber zum Pol der AfD. Eben das zeigt sich im Aufstieg der Grünen im Westen (sowie in den „kulturell westdeutsch“ geprägten ostdeutschen Großstädten) und im Aufstieg der AfD im Osten außerhalb der Großstädte.
Eine CDU, die sich mit den Grünen zusammentut, eröffnet somit der AfD einen noch viel weiteren politischen Entfaltungsraum, als ihn die AfD derzeit ohnehin schon hat – und zwar nicht nur im Osten, sondern eben auch im Westen. Am Ende wird die den Grünen zugetane CDU deshalb nicht nur in den neuen Bundesländern den politischen Raum zwischen der Mitte und dem rechten Rand vollends der AfD überlassen haben, sondern sie wird auch im Westen zugunsten der AfD in jene strukturelle Minderheitsposition geschrumpft sein, mit der sich mittlerweile die SPD abfinden muss. Im Grunde steht die CDU deshalb vor der Entscheidung, ob sie sich zwischen Grünen und AfD ebenso zerreißen lassen will, wie das – zwischen Grünen und Union – der SPD widerfahren ist, oder ob sie Positionen zu finden versucht, die ihr die Behauptung ihrer früheren Führungsrolle zwischen politischer Mitte und rechtem Rand erlauben.
Es kommt im Übrigen einem Ausweichen vor solchen Richtungsentscheidungen gleich, wenn man einfach erklärt, „rechts“ und „links“ taugten nichts mehr bei der Vermessung des politischen Raums. Denn zwar kann man statt dieser einen Entscheidungsdimension gedanklich mit zwei, drei oder noch mehr politischen Orientierungsdimensionen arbeiten. Am Ende muss man aber trotzdem sagen, wo man im Verhältnis zu den Grünen sowie zur AfD steht. Und vor allem muss man einer Wählerschaft, die – etwa beim „Kampf gegen rechts“ – ihre eigene Position weiterhin zwischen „links“ und „rechts“ verortet, mit für sie verständlichen politischen Orientierungsbegriffen kommen.
Was aber hat die Bundesgeschäftsstelle der CDU in einer wirklich viel zu kurzen „Kurzanalyse“ an Ursachen jenes Wahldebakels ausfindig gemacht und der vom Wahlergebnis schockierten Parteiführung als Verständnisschlüssel vorgelegt?
- Die JU (Junge Union) sei, wenigstens in der öffentlichen Wahrnehmung, „zu weit nach rechts gerückt“ – gerade so, als ob nicht die Sozialdemokratisierung und Vergrünung der CDU selbst viele jahrelang auf die CDU vertrauende Wähler der AfD zugetrieben hätte!
- Die Werteunion sei medial mit ihrer Kritik am Kurs der CDU-Spitze zu präsent gewesen – gerade so, als ob die Werteunion eine ansonsten populäre CDU gleichsam madig gemacht und nach unten gezogen habe! In Wirklichkeit aber fordert die Werteunion nichts anderes, als dass sich die CDU wieder zu jenem Original erneuere, das seit Angela Merkels Energie-, Eurozonen und Migrationspolitik sehr vielen im Lande zu fehlen scheint – weshalb sie begonnen haben, ihre Stimme der AfD als einer (nun wirklich nicht guten!) Kopie jenes entschwundenen Originals zu geben.
- Man habe auf die falschen Themen gesetzt. Das stimmt insofern, als die im Großkonflikt zwischen „Grünen-Pol“ und „AfD-Pol“ entscheidenden Frage nach Europas Zukunft nicht mit einer sowohl sachlich tragfähigen als auch wählerattraktiven Position verbunden wurde. Unklar blieb nämlich: Steht die CDU für einen künftigen europäischen Bundesstaat – oder für einen Verbund eng zusammenwirkender Nationalstaaten mit, je nach Politikfeld, „variabler Geometrie“? Hingegen zu hoffen, mit Themenfeldern wie „Digitales“ oder „Umwelt/Klima“ erreiche man die Denk- und Gefühlswelten derer, die sich von der Union hin zur AfD abgesetzt hätten, führt schlicht in die Irre. Allenfalls Sympathisanten der Grünen spricht man damit an; doch die sind von der Union ohnehin nur um den Preis noch viel größerer Stimmenverluste an die AfD zu gewinnen.
Richtig lag die Kurzanalyse nur in drei Punkten:
- Es gab keinen „Merkel-Bonus“. Wie denn auch in einer Zeit, in der die für das Sozialdemokratisieren und Vergrünen der CDU verantwortliche Kanzlerin einer der Hauptgründe für einen sehr großen Teil ehemaligen Unionswählerschaft ist, die AfD zu wählen! Und warum sollten grüne oder sozialdemokratische Bewunderer der Kanzlerin, deren es sehr viele gibt, eigentlich lieber die CDU als ihre eigene Partei wählen?
- Es gab keinen „Weber-Effekt“. Wie denn auch, wenn es bei diesem Spitzenkandidaten nur um einen politischen Schönheitswettbewerb ging, nicht aber um die Personalisierung einer wichtigen europapolitischen Streitfrage?
- „Junge Wähler wurden abgeschreckt“. Ja, weil die Mehrzahl von denen ohnehin dem „grünen Pol“ der deutschen Politik zuneigt und ihre Wahlentscheidung für die Grünen dadurch nur bestätigt findet, wenn die CDU nun auch selbst grüne Positionen vertritt! Den eigenen Parteinachwuchs aber demotiviert man nur, wenn dessen politische Zukunftschancen durch grundsätzliche Fehlpositionierungen der Bundes-CDU verdüstert werden.
Leider wird man nicht viel Hoffnung haben dürfen, dass die Bundesführung der CDU aus ihren Irrungen und Wirrungen herausfindet, bevor CDU-Niederlagen bei den kommenden, für ganz Deutschland weichenstellenden ostdeutschen Landtagswahlen auch den jetzt noch Einsichtsunwilligen gezeigt haben, dass sie die Union auf einen Holzweg geführt haben. Warum nur muss eine Partei, die jahrelang pragmatisch zu sein und vorauszudenken vermochte, erst dadurch klug werden, dass sie unwiederbringlich ihre Rolle als Volkspartei von der Mitte bis zum rechten Rand verspielt? Und wie schön wäre es hingegen, wenn mehr und mehr in der CDU den Ernst der Lage begriffen und die richtigen, auch in dieser Analyse wieder einmal vor Augen geführten Konsequenzen zögen!