Europawahl 2019

Europawahl 2019

Wahlanalyse zur Europawahl 2019, auf Facebook veröffentlicht am Sonntag, 26. Mai 2019, gegen 17:00, also noch vor Schließung der Wahllokale:

So wird es kommen: Die SPD verliert dramatisch, die Union schmerzhaft, FDP und Linke verändern sich wenig, und Grüne sowie AfD gewinnen wuchtvoll.

Fransen da die früheren Volksparteien zu ihren Konkurrenten aus? Ja, und mehr noch: Unser Parteiensystem schichtet sich tiefgreifend um! Es wird, wie früher schon, vom zeitgenössisch zentralen gesellschaftlichen Großkonflikt geprägt. Das ist heute der um die wünschenswerte Rolle des Nationalstaats mitsamt seiner Souveränität und Kultur, und zwar unter dem Druck von Globalisierung, Europäisierung und Migration.

Hier vertreten Grüne und AfD ganz gegensätzliche, in den Augen ihrer Sympathisanten aber völlig stimmige Positionen. Die SPD wurde in diesem Großkonflikt schon zerrissen; der Union droht Ähnliches. Nur Linke und FDP bleiben in ihren Nischen halbwegs ungeschoren. Unterm Strich gibt es eine starke nicht-linke Bevölkerungsmehrheit, die seitens der Union aber politisch nicht genutzt werden kann. Auf diese Weise verliert sie als verbliebener Stabilitätsanker unseres Staates mehr und mehr an Kraft.

Außerdem wurde den EU-Wählern im Wahlkampf gerade nicht die im derzeitigen Großkonflikt gestellte Alternative vorgelegt: Soll die EU ein Bundesstaat werden – oder eine Gemeinschaft von Vaterländern bleiben? Also kam es bei rund einem Drittel der deutschen Wähler zu Stellvertreterentscheidungen: teils für die nationalstaatsüberwindenden Grünen, teils für die nationalstaatsbewahrende AfD. Solange dieses sich seit Jahren wiederholende Wahlergebnis jede Partei nur zum „Weiter so!“ motiviert, wird die Umschichtung unseres Parteiensystems samt Ausfransen der einstigen Mitte nicht enden. Schade!

Nachtrag zur Wahlanalyse, veröffentlicht am Montag, 27. Mai, gegen 8:45:

Die Analyse von gestern Abend war offenbar völlig zutreffend. Sie muss nur in einem einzigen Punkt klarstellend ergänzt werden – nämlich dort, wo es um die wuchtvollen Gewinne von AfD und Grünen geht.

Wie seit der Wiedervereinigung bekannt und auch leicht erklärbar ist, umfasst Deutschland zwei verschiedene „Wahlgebiete“. Da ist die alte Bundesrepublik mit ihrem vergleichsweise gefestigten und sich nur schrittweise wandelndem Parteiensystem. Und da sind die neuen Bundesländer mit ihrer großen Volatilität („Flatterhaftigkeit“) im Wahlverhalten, mit der viel geringeren Verankerung ihrer Parteien in der Gesellschaft sowie mit einer besonders großen Neigung zum „Anti-BRD-Protestwählen“. Im ersten Jahrzehnt nach der Wiedervereinigung machte das die PDS zur „ostdeutschen Protestpartei“, und seit Mitte des dritten Jahrzehnts nach der Wiedervereinigung wurde das die AfD. Anders ausgedrückt: Früher zeichnete sich das Territorium der DDR in den Stimmenanteilen der PDS/Linken ab, und heute tut es das entlang der Stimmenanteile der AfD.

Dabei erwies sich die ostdeutsche Gesellschaft und Wählerschaft allenthalben als „Avantgarde“, ganz gemäß dem Titel des bekannten Buchs von Wolfgang Engler aus dem Jahr 2004: „Die Ostdeutschen als Avantgarde“. Denn in den neuen Bundesländern wurden, dank ihrer im Vergleich zum Westen viel geringeren Stabilität, jene Trends zunächst einmal sichtbar, die sich Jahre später auch in den Altbundesländern durchsetzten. Vom Einflussverlust der Gewerkschaften reichte das über die Aufsplitterung des Parteiensystems und die Regierungsbeteiligung der PDS/Linken bis hin zum fortan unübersehbaren Aufkommen des deutschen Rechtspopulismus 2014 in Gestalt von PEGIDA und zum Starkwerden der AfD in den Landtagswahlen ab 2015, vor allem von 2016.

Und deshalb sahen wir gestern: Die Grünen haben in Westdeutschland wuchtvolle Gewinne erzielt – und die AfD tat das in Ostdeutschland. Nur die gesamtdeutsche Durchschnittsbetrachtung, derzeit beliebt bei Verharmlosern des realen Geschehens, lässt den Aufstieg der AfD als weniger dramatisch erscheinen, als er tatsächlich ist. In Sachsen und in Brandenburg (letzteres, ganz anders als Sachsen, jahrzehntelang SPD-regiert und einst angetreten mit dem Wunsch, dort eine „kleine DDR“ unter besseren Umständen fortzusetzen) wurde die AfD zur stärksten Partei, in Thüringen, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern zur zweitstärksten Partei. Lediglich im großstädtischen Milieu trumpften auch im Osten die Grünen auf – dort dann aber sehr stark, zumal in Leipzig und in Dresden. Dort finden wir genau die im Westen bekannte Kombination: metropolitanes Kulturmilieu plus akademische Bildung plus (erreichter oder, wie bei Studierenden, erhoffter) Wohlstand gehen einher mit einer Identifikation mit den Leitideen und mit dem Lebensgefühl der Grünen. Gleichsam ist dort „der Westen im Osten angekommen“, während der Osten insgesamt anzeigt, wohin sich auch der Westen – allerdings mit einiger Zeitverzögerung – entwickeln wird.

Insgesamt polarisiert sich Deutschland derzeit – und wohl dauerhaft – vierfach: zwischen Ost und West („Sachsen gehört gar nicht zu Deutschland!“, „Baut die Mauer wieder auf!“); zwischen Grünen und AfD („Licht gegen Dunkel“, „Gut gegen Böse“); zwischen „denen unten“ (den „Somewheres“) und „denen oben“ (den „Anywheres“), also zwischen den Verlierern und den Gewinnern einer Welt ohne Grenzen und nationalstaatliche Kontrolle über die Ressourcen einer länger schon in einem Land lebenden Bevölkerung); und zwischen den Jüngeren bis 25 Jahren (mehrheitlich die Grünen wählend) sowie den Älteren ab 60 Jahren (mehrheitlich CDU oder AfD wählend).

Vielleicht halten die Versuche noch einige Jahre lang an, den Aufstieg der AfD simpel als das Zutagetreten des realen Umfangs von Rassismus und Faschismus in Deutschland zu deuten. Sie werden aber immer weniger plausibel, und also werden sie den weiteren Aufstieg der AfD eher fördern als verhindern. Vielleicht begreifen aber auch mehr und mehr Journalisten, Sozialwissenschaftler und Politiker, das wir hier einfach die pfadabhängige Dynamik des fahrlässigen Aufreißenlassens einer Repräsentationslücke teils im rechten Bereich des politischen Spektrums, teils zwischen „oben“ und „unten“ vor Augen haben, in der die AfD entstand, durch falsche Reaktionen auf sie Starthilfe bekam und nun wirklich nur noch sich selbst schaden kann. Das freut die einen, entsetzt die anderen – und ließ sich lange schon aus der Warte eines Beobachters mit kühlem Tatsachenblick erkennen.

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Zur Ergänzung und Abrundung dieser knappen Analyse sei verwiesen auf mein vor wenigen Monaten erschienenes Buch „CDU, AfD und die politische Torheit“, Dresden 2019 (Weltbuch-Verlag).

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