Nur die Spitze eines Eisbergs: das Berliner Wahlschlamassel
In Berlin müssen die Landtagswahlen ganz, die Bundestagswahlen teilweise wiederholt werden. Das organisatorische Schlamassel, welches dazu führte, und die politischen Mätzchen, die auf dieses Schlamassel folgten, sind leider typisch für das heutige Deutschland.
Was waren das doch für Zeiten, als es zum von den Tatsachen gedeckten Selbstbild der Deutschen gehörte, dass in ihrem Land alles Wesentliche klappte! Dafür brauchte es freilich auch ein Alltagsleben, das geprägt war durch Genauigkeit und Sorgfalt, durch Umsicht und verlässlich praktizierte Pflichtenethik. Seit aber Sozialdemokraten und Grüne und viele Intellektuelle, die sich allesamt an der Spitze menschlicher Aufgeklärtheit dünken, einst erklärt bekamen, dass man mit derlei „Sekundärtugenden“ auch ein Konzentrationslager betreiben kann, gerieten die gerade aufgezählten Werte in Misskredit. Und weil das Praktizieren von Genauigkeit, Sorgfalt, Umsicht und Pflichtenethik nun einmal oft sehr anstrengend ist, kam man auf einen wunderbaren Clou: Jener Sieg über Rassismus und Faschismus, der uns nun wirklich gelingen muss, wird auf ziemlich bequeme Weise und höchst verlässlich dadurch möglich, dass man unser Land durch Schlamperei um sein Funktionieren bringt! Denn mit Genauigkeit, Sorgfalt und Umsicht organisierte einst die Bahn ihre Züge in die Vernichtungslager, und die dort tätigen Schergen behaupteten ja selbst später vor Gericht, sie hätten doch nur ihre Pflicht getan.
Also weg mit den Sekundärtugenden. Sie sind anscheinend auch nur sekundär. Einfach deren Gegenteil als „Primärtugend“ ausgebend, lobt man den guten Willen mehr als die erzielten Ergebnisse, zieht man Lockerheit der Sorgfalt vor, schätzt man den Tunnelblick auf abzuwehrende Katastrophen und freut sich mehr über Freizeit als über erfolgreich erfüllte Pflichten. Das alles kann ja lange Zeit auch gutgehen – gerade so, wie ein untüchtiger Erbe ziemlich lange von den Zinsen des ihm hinterlassenen Kapitals zu leben vermag. Doch statt das in Bescheidenheit oder gar Dankbarkeit tun, stellen verzogene Nachkömmlinge heute ihre Andersartigkeit in lustvollen Provokationen zur Schau. Ihre „Primärtugenden“ kann man den Graffiti oder Schmierereien im öffentlichen Raum abzulesen versuchen. Wo es nicht einfach um selbstgefällige Sachbeschädigung geht, erkennt man dann Rechthaberei, hochfahrende Aggressivität und Belästigung anderer im Dienst einer imaginierten Welterlösung.
Eben diese allgemeinen Züge einer vielfach verfallenen bürgerschaftlichen Gesinnung und Praxis sind an der Tragikomödie der Berliner Wahlen zum Abgeordnetenhaus und Bundestag unübersehbar. Was da alles schieflief an falsch oder gar nicht zugestellten Wahlzetteln, am Ende auch an willkürlichen Öffnungszeiten der Wahllokale, passt im Besonderen sogar bestens zu einer Stadt, die einst als „Spree-Athen“ glänzte, jetzt aber – exakt entlang ihrer ehedem gelobten Selbstbeschreibung als „arm, aber sexy“ – allzu oft nur noch Nuttencharme entfaltet. Und wenn eine Stadt weder ihr Drogenproblem in den Griff zu bekommen noch in konkurrenzfähiger Frist einen Flughafen zu bauen vermag, wenn sie auch keine klaren Verwaltungszuständigkeiten zu entwickeln versteht und ihre Bürger monatelang auf einen Termin für die Beantragung eines Führerscheins warten lässt: dann muss man sich auch darüber nicht darüber wundern, dass Berlin trotz – theoretisch! – jahrzehntelangen Erfahrungen mit der Durchführung von Wahlen ebenfalls darin versagte.
Noch empörender, und freilich typisch auch für einen Großteil der jetzigen Bundespolitik, ist allerdings die Nonchalance, mit der man Missstände zunächst einmal wegzulächeln versucht. Gottlob gibt es immer noch Richter in Berlin, nötigenfalls auch in Karlsruhe beim Bundesverfassungsgericht. Doch in Berlin verstören die weiterhin versuchten politischen Spielchen um jene Wahlbezirke, in denen etwa die Bundestagswahl erneut durchzuführen wäre. Zumindest verärgern sie solche Beobachter, die von demokratischen Grundsätzen nicht lassen wollen. Im Kern geht es hier nämlich um das Risiko der Linkspartei, ihre Fraktionsstärke im Bundestag zu verlieren, wenn neben Gregor Gysi nicht auch Gesine Lötzsch ihr Direktmandat erneut gewönne, so dass die Linke dann gemeinsam mit ihrem Leipziger Direktmandat – aufgrund von nur 4,9 Prozent der gültigen Zweitstimmen bei der letzten Bundestagswahl – nur einen oder zwei Abgeordnete im Bundestag hätte statt wie jetzt 39.
Und wie verträgt sich eigentlich jene moralische Arroganz, mit der Deutschlands Linke den Ungarn kommt, mit der schlampig-opportunistischen Handhabung des eigenen Wahlrechts und dessen im Grenzfall fraktionsvergrößernder Wirkung? Natürlich gar nicht! Nur ficht das unsere Gutmenschen nicht an.
Sie merken auch nicht, dass ihre Politikergeneration, die außerhalb des politischen Betriebes selten Handfestes gelernt hat, mit ihrer Neuerungs- und Belehrungslust weit oberhalb der Verhältnisse ihrer politischen Bildung lebt, und auch weit jenseits ihrer Fähigkeiten, reale Zusammenhänge zu durchschauen und dann verlässlich auszugestalten. Das Scheitern des linksgrünen Senats bei der Organisation der Berliner Wahlen und der Zusammenbruch energiepolitischer oder pazifistischer Positionen von Linken und Grünen sind ja nur unterschiedliche Ausprägungsformen des gleichen Grundproblems. Es besteht darin, dass uns ideologieverliebte Politiker mit prägenden Erfahrungen aus Schönwetterzeiten jetzt durch die wahrhaft vielen Krisen unseres Landes hindurchsteuern sollen. Die reichen von Russlands Krieg in der Ukraine über das anhaltende Migrationsgeschehen und die von der Regierungskoalition sogar noch gesteigerte Magnetkraft unseres Sozialstaates bis hin zur Unfähigkeit, über notwendige Entscheidungen auch mit politisch Andersdenkenden vernünftig zu diskutieren.
Es mag ja sein, dass die Bewältigung des Berliner Wahldesasters nur eine vergleichsweise kleine Herausforderung ist. Doch wie soll man einer Politikerschaft vertrauen, die schon so schlichte Probleme nicht abzuwenden vermag?
in Kurfassung erschienen unter dem Titel „Eine Blamage von historischem Ausmaß“ am 25. 11. 2022 in der „Preußischen Allgemeinen“, S. 1; als Langfassung am 27. 11. 2022 auf „Hallo Meinung“