Lehren aus dem Ukrainekrieg

Lehren aus dem Ukrainekrieg

Noch ist der Ukrainekrieg nicht zu Ende. Lehren lassen sich trotzdem schon aus ihm ziehen. Er ist nämlich nicht einzigartig, sondern nur ein weiteres Beispiel allgemeiner Politikmuster. Wer die im Blick hat, mußte von Rußlands Angriff nicht überrascht werden.

I.

Immer wieder wollen große Länder zwischen sich und einem Rivalen keine zu befestigende Grenze haben, sondern eine Art Grenzmark. Deshalb mag Rußland die Ukraine nicht als Teil des Westens sehen, und schon gar nicht als Mitglied von dessen Militärbündnis. Rußlands Präsident hat das mehrfach klargestellt. Wenig später machte sich seine Armee daran, die zum Westen strebende Ukraine zu erobern und ihr eine moskauhörige Regierung vorzusetzen. Um seinen Durchsetzungswillen zu unterstreichen, drohte Putin auch gleich noch mit nuklearen Gewaltmaßnahmen für den Fall, daß der Westen ihm mit Truppen entgegenträte, oder daß die EU-Staaten Schweden und Finnland auch noch Nato-Mitglieder würden.

Ausgangspunkt dieser durchaus nicht rätselhaften Politik ist der Eindruck von Putins Regierung, der Westen bedrohe ihr Land. Diese Wahrnehmung ist zwar paranoid oder hysterisch. Doch der Moskauer Kriegsherr geht nun einmal von dieser Lagebeurteilung aus. Deshalb sind die Folgen so geprägter Handlungen auch dann real, wenn die Lagebeurteilung selbst ganz irreal ist. Aus der Warte von Rußlands Regierung ist sie das allerdings nicht. Die glaubt wirklich an die Formel, nach dem Ende der Sowjetunion habe die Nato aggressiv ihr Gebiet erweitert und zur Aufmarschbasis gegen Rußland gemacht. Gar nicht will so Denkenden einleuchten, daß einstige Sowjetrepubliken und realsozialistische Satellitenstaaten einfach nach Schutz gegen Moskaus harte Hand suchten. Tatsächlich griff die Nato nicht gegen polnischen oder baltischen Widerstand nach Osten aus, sondern verschloß sich nur nicht den osteuropäischen Wünschen nach Sicherheit gegen ein Land, das die längste Zeit als Besatzer wahrgenommen wurde.

Doch Rußland ist nun einmal besonders sensibel, wenn sich geopolitische Gegebenheiten zum eigenen Nachteil verändern. Der Kern russischer Macht ist sein Militär, dessen politische Einsetzbarkeit aber ganz wesentlich von geographischen Umständen abhängt. Auch kann Rußland – abgesehen von Energie und Weizen – bei nichtmilitärischen Exportgütern weder mit dem Westen noch mit China konkurrieren. Ferner ist seine „Softpower“, die seit 1917 so viele Intellektuelle beeindruckte und weltweit politische Unterstützung verschaffte, mit dem Dahinschwinden des Weltkommunismus vergangen. Obendrein hat sich noch jede russische Regierung seit dem Aufkommen von Liberalismus und Demokratie durch die Ausstrahlungskraft jener Länder bedroht gefühlt, denen diese Prinzipien Wohlstand und Legitimität bescherten. Als riesiges Land mit überwiegend dünner Besiedelung tut sich Rußland schwer beim Hervorbringen jener Zivilgesellschaft, in der allein eine freiheitliche Demokratie wurzeln kann. Also scheint Rußland noch längere Zeit auf autoritäre Regierungsweisen angewiesen zu sein. Dann aber wirken freiheitliche Nachbarstaaten als Sicherheitsrisiko für die eigene politische Stabilität.

Obendrein mißfällt vielen Russen schon lange die westliche Herablassung beim Umgang mit ihrem Land, welches nun bloß noch eine rohstoffliefernde Regionalmacht wäre. Wenn sich solchen Kränkungen auch noch sicherheitspolitische Paranoia beigesellt, dann wird Krieg wahrscheinlich, sobald sich Rußlands Führung aus der eigenen Umgebung bedroht fühlt und leichte Kriegsbeute wittert. So verhielt es sich in den Fällen Georgien, Krim und Ukraine.

II.

Dabei widerlegt Rußlands Verhalten zwei Annahmen, die in Europas Westen seit Jahrzehnten zu Glaubenssätzen geworden sind. Erstens: „Krieg kann in Europa kein politisches Mittel mehr sein“. Das erwies sich schon auf dem Balkan als falsch. Natürlich kann man durch Krieg keine Demokratie aufbauen, was die Illusion nicht nur der USA im Irak und in Afghanistan war. Doch sehr wohl kann man durch Krieg die Gestaltungswünsche anderer durchkreuzen. Das führte Rußland unlängst in Syrien vor. Zweitens glaubten viele, daß jeder Konflikt eine „politische Lösung“ finden könne, bei deren diplomatischer Herbeiführung sich militärische Mittel ausklammern ließen. Das gelingt verläßlich aber nur dann, wenn man zum bedingungslosen Nachgeben bereit ist. Doch wenn man nicht von vornherein nachgeben will, dann muß man die Verfügbarkeit einer militärischen Alternative zumindest glaubhaft machen können. Und fehlt die, etwa weil man sie gar nicht haben wollte, dann braucht sich niemand zu wundern über die Ergebnislosigkeit von Verhandlungen wie denen zum Minsker Abkommen im „Normandie-Format“.

Umgekehrt haben sich vier alte Erfahrungen bestätigt, die jahrzehntelang viele nicht mehr für wahr halten wollten. Erstens stimmt das Motto der Nato zweifellos: Wer Frieden sichern will, bereitet sich am besten aufs Bestehen in einem aufgezwungenen Krieg vor. Hier hat sich gerade Deutschland viel vorzuwerfen, das seit Jahrzehnten nichts weiter sein wollte als eine pazifistisch gesinnte Zivil- und Handelsmacht. Zweitens zeigen ukrainische Männer und Frauen beschämend klar, wie auch heute noch Wehrfähigkeit und ganz persönliche Wehrbereitschaft wichtige Ressourcen politischer Selbstbehauptung sind, und daß Werte wie Vaterlandsliebe und Tapferkeit durchaus nicht als hohl oder abzutun gelten müssen.

Drittens wurde deutlich, daß Abschreckung sehr wohl funktioniert. Die rasche und unverhohlene Drohung des russischen Präsidenten mit dem Einsatz von Nuklearwaffen hat unverzüglich jede westliche Bereitschaft erstickt, seitens der Nato ein militärisches Risiko einzugehen. Dabei konnten deren Politiker früher gar nicht laut genug Bekenntnisse ablegen zu weltweiten militärischen Einsätzen um der Sicherung von Menschenrechten willen. Natürlich werden in der Ukraine jetzt Menschenrechte nicht weniger verletzt als einst in Libyen oder auf dem Balkan. Doch Gaddafi oder Miloševič hatten eben nicht Putins Einschüchterungskraft. Umgekehrt verfingen Abschreckungsversuche des Westens durch die Androhung von Wirtschaftssanktionen offensichtlich nicht. Die haben einfach ein geringeres Abschreckungspotential als militärische Drohungen. Also kann man Wirtschaftssanktionen durch raschen militärischen Erfolg unterlaufen. Das strebte Rußland offenbar an, versagte aber bei der für erfolgreiche Kriegführung erforderlichen Aufklärung und Logistik. Jetzt hoffen wir auf wenigstens indirekte Wirkungen unserer Sanktionen, etwa auf eine Revolte bestrafter Oligarchen gegen Putin. Vielleicht bringt aber gekonntes Kriegshandwerk der Ukrainer die russische Führung eher zum Aufgeben.

Viertens erweist sich das geopolitische Konzept eines Pufferstaats mit bewaffneter Neutralität als durchaus nicht veraltet. Auf einen solchen Status der Ukraine wird es ohnehin hinauslaufen, falls uns nicht politische Torheit dort einen Dauerkonflikt mit vieljährigem Guerillakrieg beschert. Hingegen hat das so oft beschworene Prinzip der freien Bündniswahl eines jeden Staates sich durchaus nicht als Mittel zur Friedenssicherung bewährt. Erneut gilt es einzusehen, daß die Souveränität eines Staates nicht weiter reicht als bis dahin, wo ein anderer Staat seine selbstdefinierten Interessen verteidigt. Angesichts der durch den sowjetischen Einmarsch in die Tschechoslowakei bekräftigten Breschnew-Doktrin von der begrenzten Souveränität realsozialistischer Staaten akzeptierte man das einst als eine Tatsache, die auch durch Beklagen nicht vergehen würde. Jetzt wird das auf Kosten der Ukraine neu gelernt.

III.

Von jenen sechs Einsichten geleitet, lassen sich aus dem Ukrainekrieg höchst konkrete Lehren ziehen. Erstens sollte man auf solchen europäischen Zusammenhalt, der nicht auch militärisch untersetzt ist, bei Konflikten besser nicht zählen. Die baltischen Staaten erkannten das früh, weshalb sie unbedingt Mitglieder der Nato werden wollten und sich eine Dauerpräsenz von Truppen aus mehreren Nato-Staaten wünschen. Finnland und Schweden werden hingegen merken, daß sie ohne Nato-Mitgliedschaft druckempfindlicher sind, doch nach dem von Rußland an der Ukraine statuierten Exempel auf absehbare Zeit gar nicht mehr gefahrlos in die Nato gelangen können.

Daraus folgt als zweite Lehre, daß es zwar einen über das EU- oder Nato-Gebiet hinausreichenden europäischen Zusammenhalt gibt, man diesen aber nicht militärisch sichern kann. Zweifellos reicht die uns als Europäer verbindende Kultur bis hin nach Georgien und Armenien. Doch weder die EU noch die Nato können diese Staaten gegen Rußland schützen. Also muß man zu Rußland entweder partnerschaftliche Beziehungen pflegen oder dieses Land, wie Präsident Putin es wahrnimmt, auf eine Statistenrolle herabzwingen. Fürs Gewinnen dieser trivialen Einsicht blutet nun die Ukraine. Der Westen hat diesen Preis der Ukraine auferlegt, als er ihren – sogar mit Verfassungsrang ausgestatteten – Wunsch nach Mitgliedschaft in der Nato nach keiner Richtung hin klar beantworten wollte. Es haben nämlich die westlichen Staaten weder Rußland durch eine rechtzeitige Aufrüstung der Ukraine vor einem Krieg gegen ein künftiges Nato-Land abgeschreckt, noch haben sie gegenüber Kiew und Moskau eindeutig erklärt, daß eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine aus übergeordneten geopolitischen Gründen nicht in Frage komme. Wieder einmal erwies sich der Mittelweg nicht als der beste.

Drittens ist es nötig, erneut die Ziele unserer Europapolitik und die „Finalität“ der EU zu überdenken. Die Ukraine will Mitglied wenigstens der EU werden, und das Europäische Parlament hat sich diesen Wunsch rasch zu eigen gemacht. Auch paßt die Ukraine viel besser in den europäischen Staatenverbund als die teils auf amerikanischen Druck, teils aus politischer Romantik zum Beitrittskandidaten gemachte Türkei. Anders als diese könnte die Ukraine sehr wohl einen festen Platz in einer EU einnehmen, die sich vor allem als Zone gemeinsamer Kultur und Wohlfahrt verstünde sowie mit einer „variablen Geometrie“ versähe: Nicht alle Staaten zahlen in Euro oder gehören zum Schengen-Raum, und jeder Staat hat die Möglichkeit zum „opting-out“, wann immer EU-Politik in Konflikt mit seinen regionalen Interessen gerät. Entlang von Vernunftgründen müßte sich Rußland durch die Mitgliedschaft der Ukraine in einer so gearteten EU nicht bedroht fühlen. Anders wäre es angesichts einer EU, die sich zu einem von Brüssel aus regierten Bundesstaat entwickeln wollte, der dann auch noch eine gemeinsame Armee aufbaute. Ob also die EU in Osteuropa alsbald eine Rolle spielen kann, die sowohl ukrainische Hoffnungen nicht enttäuscht als auch den Frieden sichert, hängt somit eng mit den institutionellen Zielen unserer EU-Politik zusammen.

Viertens zeigen die russischen Spaltungsversuche gegenüber dem Westen, wie wichtig allein schon die Bewahrung des erreichten Zusammenhalts ist. Nord Stream II, einst für unverzichtbar erklärt zur Schließung der Energielücke nach dem Aus für Kern- und Kohleenergie, sowie die Debatten um dieses Projekt haben gezeigt, wie nahe Rußland daran war, einen dauerhaften Keil zwischen Deutschland und seine Verbündeten zu treiben. Auch die von russischer Propaganda begleiteten Bemühungen, Rußland als im Vergleich zu den USA besseren Partner Deutschlands auszugeben, sind Teil eines solchen Spaltungsversuchs. Zwar sollten wir die traditionell engen Bande zwischen unseren beiden Ländern pflegen. Dennoch bleibt es klug, sich vor den Nachfolgern Stalins zu schützen. Wenn der Westen sich aber um seiner Sicherheit willen nicht spalten lassen will, dann darf er auch nie wieder eine politische Dynamik entstehen und treiben lassen, wie sie vor einigen Jahren zum Brexit führte. Er muß dann auch allen entgegentreten, die einen Ausschluß Polens oder Ungarns aus der EU als vorteilhaft für den europäischen Zusammenhalt hinstellen. Und er muß entschlossener als bislang auf eine EU-Mitgliedschaft der Staaten im westlichen Balkan hinwirken, damit dieser nicht zum russischen Spielfeld wird.

Fünftens müssen wir uns um ein ordentliches Verhältnis zu Rußland nach dem Ukraine-Krieg bemühen. Der ist nämlich ein Krieg des Kremls, nicht der russischen Bevölkerung. Also ist es falsch, jetzt russische Schriftsteller oder Musiker zu boykottieren oder gar Zorn an Russen in Deutschland auszulassen. Zugleich ist zu bedenken, daß zwar vieles an Rußland europäisch ist, doch eben nicht alles. Besonders wenig europäisch sind die nachwirkenden kulturellen Muster zaristischer und sowjetischer Herrschaft. Unsinn ist es, ein europäisches von einem asiatischen Rußland politisch-kulturell entlang dem Ural unterscheiden zu wollen. Rußland ist schlicht ein Kolonialreich, mit dem man in seiner Gänze umgehen muß.

Und jetzt schon sollten wir auf jene Brücken achten, die sich zur Gesellschaft eines Nach-Putin-Rußland schaffen oder dann wieder begehen lassen. Schließlich wünschen wir Rußland nicht Schlechtes, sondern nur der Ukraine Gutes.

Erschienen am 21. April 2022 unter dem Obertitel „Mit Herz und Hand“ auf S. 18 der Nr. 17/22 der „Jungen Freiheit“.

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