Milieuentwicklung und Unionsstrategie
Seit mit PEGIDA auch in Deutschland der Rechtspopulismus an die Oberfläche des politischen Geschehens drang und in Form der AfD eine ins Gewicht fallende Partei fand, gab ich der Union Ratschläge, wie sie dieser Entwicklung wehren könne. Ich empfahl als Doppelstrategie, einesteils durch Festhalten oder Neubesetzen lange Zeit bewährter Unionspositionen die frühere Bindekraft dieser Partei von der Mitte bis zum rechten Rand aufrechtzuerhalten, und andernteils der AfD – wenn man sie schon nicht an Wahltagen aus den Parlamenten drängen könne – solche Anreize zu setzen, in Reaktion auf welche diese Partei die Rechtsradikalen in ihren Reihen randständig machen wolle sowie als Gesamtpartei zu einem klar unsere freiheitliche demokratische Grundordnung tragenden Teil unseres Parteiensystems werden könne. Diese Strategie wurde teils gar nicht begriffen, teils emotionsgetrieben abgelehnt. Zu den Folgen solcher Versäumnisse gehört – gerade in Sachsen – die Implosion der CDU und der Aufstieg eine klar systemverachtenden AfD zur stimmenstärksten Partei.
Obendrein hat sich die Entwicklung und Auseinanderentwicklung jener soziokulturellen Milieus fortgesetzt, in denen unsere Parteien wurzeln und aus denen sie Unterstützung erfahren. Was die Union trotz der umrissenen Doppelentwicklung – Milieuwandel und selbstverschuldeter Machtabstieg – immer noch tun könnte, um das Schicksal der italienischen Democrazia Cristiana zu vermeiden, geht aus der nachstehenden Kurzanalyse hervor. Ich wette freilich, dass die Union auch weiterhin bei ihrer Bräsigkeit bleibt. Schade!
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Parteien wurzeln in sozialen Milieus. Also ist ihr Schicksal verschränkt mit dem ihrer Anhängermilieus. Deshalb sind Studien zu soziokulturellen Milieus und zu deren Wandel sehr wichtig für die Festlegung einer parteipolitischen Strategie. Die besiegte Union sollte deshalb nicht nur nach neuen Anführern suchen, sondern vor allem nach plausiblen Positionen. Die aber müssen obendrein zu jenen Milieus passen, die man an sich binden will. Eine neue Studie des SINUS-Instituts zeigt, dass die bisherige „bürgerliche Mitte“ sich nun entlang von Themen wie „Pluralisierung der Lebensformen“ oder „Migration“ in verschiedene Richtungen zersetzt (https://www.sinus-institut.de/media-center/presse/sinus-milieus-2021). Es driften nämlich die dortigen Lebens- und Wertewelten auseinander. Das aber macht es nichtssagend, sich schlicht eine „Partei der Mitte“ zu nennen. Genau das hat freilich die Union getan, um ja nicht als „rechts“ zu erscheinen. Deshalb wandten sich die „Optimisten“ aus der auseinanderstrebenden politischen Mitte nun den Sozialdemokraten und Grünen zu, deren Politik ja nur bei bleibend guter Wirtschaftsentwicklung umsetzbar ist. „Skeptiker und Pessimisten“ hingegen gesellten sich zur AfD. Auf diese Weise nahm der gesellschaftliche Zusammenhalt gerade dort ab, wo man ihn stiften und sichern muss: in der Mitte.
Was aber kann gerade dort zusammenhalten? Die SINUS-Studie fand, dass Nachhaltigkeit allen Sozialmilieus als plausibles Politikkonzept gilt. Je nach Lebenslage und Milieuinteressen wird Nachhaltigkeit allerdings sehr unterschiedlich verstanden. Genau hier könnte die CDU ansetzen. Zu ihren Leitwerten gehört nämlich immer schon die Nachhaltigkeit, wurde freilich oft nur im schwachen Sinn von „bewährter Tradition“ verstanden. Doch darüber hinausgehende intellektuelle und programmatische Anstrengungen eröffneten gute Chancen auf eine milieuverbindende Konkretisierung dessen, was als „umfassende Nachhaltigkeit“ wünschenswert wäre. Die reichte nämlich von der ökologischen und energetischen Nachhaltigkeit über die finanzielle und demographische Nachhaltigkeit bis hin zur kulturellen Nachhaltigkeit. Dann ließen sich sogar die Bevölkerungs- und Bildungspolitik, die Migrations- und Integrationspolitik entlang der wirklich alle Politikfelder umfangenden Leitidee aufrechterhaltbarer Entwicklung erörtern und gestalten. Zusätzliche konservative Akzente setzte dann einesteils eine historisch informierte Vision umfassend gerechter Ordnung, andernteils die Befürwortung eines aufgeklärten Patriotismus.
Mit alledem ließen sich die auseinanderstrebenden Milieus der bisherigen Mitte programmatisch zusammenhalten und zugleich jene Diskursräume zurückgewinnen, aus denen sich die Union durchs trotzige Beschweigen von AfD-Positionen selbst ausgesperrt hat. Zu den seitens der Union erforderlichen intellektuellen Anstrengungen motiviert ja vielleicht doch noch die Einsicht, dass die ganze Serie ihrer Niederlagen im Kern auf inhaltliche Profillosigkeit und deshalb argumentative Hilflosigkeit zurückzuführen ist. Verweigert sich die Union aber programmatischen Mühen, dann wird das – in der SINUS-Studie neu entdeckte – Milieu der progressiven und realistischen „Neo-Ökologen“, die sowohl pragmatisch als auch experimentierfreudig sind, die Union womöglich dauerhaft hin zum Realo-Flügel der Grünen verlassen, während die Union ååzugleich die liberal-intellektuellen „Sozial-Ökologen“ an eine erneuerte Sozialdemokratie verliert. Zugleich dürfte jener Teil der Bürgerschaft, den die Unionspolitik der letzten Jahre über Deutschlands Zukunft besorgt gemacht hat, von der Union dauerhaft zur AfD überwechseln – zumindest dann, wenn diese zu ihren Anfängen als einer nicht-rechtsradikalen Alternativpartei zurückfände.
Dann aber könnte die Union ihre bislang staatspolitisch so wertvolle Funktion nicht mehr erfüllen, zwischen Mitte und rechtem Rand die gesamte nicht-linke Bürgerschaft zusammenzuhalten, und ebenso Akademikerkreise mit bildungsfernen Schichten zu verbinden. Nur dadurch aber wirkte die Union sowohl dem – von der SINUS-Studie aufgedeckten – Auseinanderstreben der Mitte nach links und rechts entgegen, desgleichen jenem Riss im Parteiensystem zwischen „Mitte“ und „rechts“, der seit dem Aufkommen der AfD sich zu verfestigen begann.
Zur gleichen Lagebeurteilung führen Befunde einer Untersuchung der Paris School of Economics. Dort fand man heraus, welcher Wandel der Wählerschaft sich in 21 westlichen Demokratien in über 300 Wahlen zwischen 1948 und 2020 abzeichnet (https://jungefreiheit.de/kultur/gesellschaft/2021/waehler-und-ihre-parteipraeferenzen/). Sozialdemokratische und linke Parteien finden – anders als früher – ihre Wähler nun vor allem in Akademikerkreisen, viel seltener hingegen in Schichten mit niedrigem Bildungsstand und niedrigem Einkommen. Dort ziehen nun ausdrücklich rechte, oft einwanderungskritische Parteien sehr viele Wähler an. Konservative und liberale Parteien finden vielerlei Unterstützung wiederum in einkommensstarken und besser gebildeten Schichten. Auf diese Weise entstand ein stark selbstbezügliches „Multi-Eliten-Parteiensystem“. In ihm wählen höher Gebildete vor allem links, Einkommensstarke überwiegend konservativ; und die weniger gebildeten, auch einkommensschwächeren Bevölkerungsschichten überlässt man den Rechtspopulisten. Dann freilich muss sich niemand wundern, wenn diese jenem Gemeinwesen innerlich kündigen, das weder ihre Gefühlswelten und Denkweisen ernstnimmt noch ihre Interessen respektiert.
Schlecht stehen die Chancen dafür, dass die selbstgefällig gewordenen Akademikerparteien der politischen Linken diese Bevölkerungsgruppen wieder ansprechen oder gar an sich binden können. Unter den etablierten Parteien hat bei solchen Versuchen allein die Union Aussichten auf Erfolg. Doch dafür müsste sie sich wieder selbst in jenen Milieus verankern wollen, müsste sie auch die dort verstandene Sprache beherrschen sowie mit solchen Positionen auftreten, welche die auseinanderstrebenden Interessen zu bündeln vermöchten. Gerade mit dem Einstehen für eine gerechte Ordnung, für umfassende Nachhaltigkeit und für aufgeklärten Patriotismus erreichte man aber wohl auch jene Milieus, in denen sehr viele nach rechts abgedriftet sind. Warten wir ab, ob die Union ihr Kernproblem allmählich begreift und sich doch noch zu dessen Lösung aufrafft.