Wie bekommen wir bürgernähere Politiker?
Diese Frage bewegt viele im Land. Warum sich selbst redliche und tüchtige Politiker oft anders verhalten, als sie das sollten, habe ich vor kurzem hier unter dem Titel „Politikerpathologie“ erörtert (https://wjpatzelt.de/2020/09/14/politikerpathologie/). Diesmal aber soll nicht die Analyse im Vordergrund stehen, sondern ein Lösungsvorschlag: die Einführung von Vorwahlen für alle Parlamentsmandate. Ursprünglich veröffentlicht wurde der nachstehende Text auf „Hallo Meinung“ unter dem folgenden Link: https://www.hallo-meinung.de/vorwahlen-fuer-alle-parlamentsmandate/.
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Vorwahlen für alle Parlamentsmandate!
Bekommen wir die Politiker, die wir brauchen? – Gegenfrage: Was ist unzulänglich an denen, die wir haben?
Nicht viel bringt das geläufige Klagelied, welches mit „Abgehobenheit“ beginnt, sich mit „Fraktionszwang“ fortsetzt und bei Volksverrätern“ endet. Neulich habe ich hier erklärt, weshalb auch gut in Wahlkreis und Gesellschaft verwurzelte Abgeordnete sich oft eher an ihresgleichen und an den Medien als an vielen Bürgern ausrichten (https://wjpatzelt.de/2020/09/14/politikerpathologie/). Warum „Fraktionszwang“ in der Regel nichts anderes ist als jene Mannschaftsdisziplin, ohne die kein Fußballteam gewinnen kann, wird bei näherem Nachdenken den meisten einleuchten. Und die Rede von den „Volksverrätern“ ging immer schon in die Irre, denn pathologisches Politikerverhalten lässt sich viel wirklichkeitsnäher erklären aus einer Mischung von Gesinnungsethik, Faktenverachtung und Leichtsinn.
Was aber ist wirklich an unseren Berufspolitikern verbesserungswürdig? Auf alle Fälle das Folgende:
Viele haben seit jungen Jahren wenig mehr als „Politik“ gelernt, also: wie man mit Medien umgeht, Gremienerfolge erzielt, andere einlullt oder bekämpft. Das alles gehört zum politischen Handwerk, ist wichtig und kann guten Zwecken dienen. Daran gewöhnt zu sein, lässt einen aber bald schon anders ticken, als das Leute mit vor allem nicht-politischer Berufserfahrung tun. Viele gelangen außerdem in so jungen Jahren ins Parlament, dass sie nach zwei oder drei Wahlperioden immer noch nicht im Rentenalter sind und deshalb nach dem Ende ihrer Mandatszeit eine Anschlussverwendung brauchen. Wenn aber verwertbare Berufserfahrungen fehlen, muss eben Protektion weiterhelfen. Also fällt man während der Mandatszeit einflussreichen Leuten lieber nicht unangenehm auf. Vor allem wird nur der zum Abgeordneten, den seine Partei vorher zum Kandidaten gemacht hat. Der Wähler hingegen kann das ihm unterbreitete Personalangebot nur annehmen oder zurückweisen. Das weiß natürlich jeder angehende Berufspolitiker. Also wird er sich dem anpassen, was in seiner Partei gedacht, geglaubt und gewünscht wird. Was davon der Wähler hält oder überhaupt zur Wirklichkeit passt, ist eine Sorge erst für später.
Auf diese Weise hat unsere repräsentative Demokratie eine ihrer Schwachstellen gerade dort, wo Personalchefs großer Firmen den Schlüssel zum Unternehmenserfolg sehen: bei der Auswahl des Personals, das die Firma voranbringen soll. Gewiss kann man sich mit der Hoffnung beruhigen, niemand wisse besser als die Parteimitgliedschaft, wen man erst zum bestmöglichen Kandidaten und dann zum tüchtigen Amtsinhaber machen kann. Das wird bisweilen schon so sein. Doch erfahrungsgemäß kommt es auch in der Politik zur „Beförderung bis zur Überforderung“. Es ist ja zweierlei, ein Nominierungsgremium zu blenden – oder sich im errungenen Amt zu bewähren.
An welcher Stellschraube wäre wohl zu drehen? Soll man die Zulassung zur Parlamentskandidatur abhängig machen vom Bestehen einer politischen Laufbahnprüfung? Oder legen wir fest, dass nur eine abgeschlossene Berufsausbildung oder ein akademischer Titel für ein Abgeordnetenmandat qualifiziert? Ernsthaft in die Praxis umgesetzt, führte das alles zu demokratiepolitischem Unsinn. Wir sollten deshalb Besseres versuchen.
Das sind „Vorwahlen“. Dabei geht es nicht um die aus den USA bekannten Vorwahlen für eine Kandidatur zum Amt des Präsidenten. Es geht allein um solche Vorwahlen, denen sich jeder stellen muss, der zum Landtag oder Bundestag kandidieren will. In den USA sind solche „legislative primaries“ üblich, in Deutschland hingegen unbekannt. Deshalb wird regelmäßig eine Abwehrmauer aus Befürchtungen und halbgaren Argumenten errichtet, sobald die Rede auf sie kommt. Zwar sind Vorwahlen auch kein Allheilmittel für Politikerpathologien. Doch nicht nur ihre Risiken und Nebenwirkungen, sondern auch ihre absehbaren Hauptfolgen verdienen vorurteilsfreies Nachdenken. Dann zeigt sich rasch, dass man Vorwahlen leicht durch Änderung der Wahlgesetze und des Parteiengesetzes verwirklichen könnte – politischen Willen und juristische Kompetenz natürlich vorausgesetzt. Zwar steckt dann so mancher Teufel im verfahrensmäßigen Detail. Doch wie vernünftig ist es, sich von den Herausforderungen eigentlich wünschenswerter Reformen schon vorauseilend abschrecken zu lassen?
Hier ist mein Vorschlag:
- Jede Partei muss alle ihre Kandidaten für Parlamentsmandate im Anschluss an Vorwahlen aufstellen.
- Die Vorwahlen für Direktbewerber werden auf Wahlkreisebene (in Bayern: auf Stimmkreisebene durchgeführt, die Vorwahlen für Listenbewerber landesweit bzw. – für Bundestagswahlen – in jedem Bundesland, in dem eine Partei eine Landesliste aufstellt.
- Den Vorwahlen dürfen sich nicht nur Parteimitglieder stellen, sondern alle Bürger eines Wahl- bzw. Stimmkreises, sofern sie dort das passive Wahlrecht besitzen.
- Unabhängige Einzelbewerber für ein Direktmandat müssen sich keinen Vorwahlen stellen; für sie gelten die bereits bestehenden Bestimmungen.
- Die Durchführung von Vorwahlen obliegt der ihre Kandidaten aufstellenden Partei.
- Der Landeswahlleiter überwacht – wie bislang – die Einhaltung wahlrechtlicher Vorschriften und sorgt für rechtsdurchsetzende Sanktionen.
- Wer als Direktbewerber einer Partei für ein Parlamentsmandat kandidieren will, muss sich in den Vorwahlen dieser Partei im angestrebten Wahlkreis mit einfacher Mehrheit der abgegebenen gültigen Stimmen gegen Konkurrenten durchsetzen.
- Wer als Listenbewerber einer Partei für ein Parlamentsmandat kandidieren will, muss bei den landesweiten Vorwahlen dieser Partei antreten. Die Listenplätze werden in der Reihenfolge der auf die Bewerber entfallenen gültigen Stimmen vergeben.
- Doppelkandidaturen als Direkt- und Listenbewerber bleiben zulässig. Die in beiden Arten von Vorwahlen erzielten Stimmen werden nicht zusammengezählt.
- An den Vorwahlen jeder Partei kann sich jeder am Wahltag stimmberechtigte Bürger in dem Wahlkreis (in Bayern: Stimmkreis) beteiligen, in dem sein Hauptwohnsitz liegt.
Welche hauptsächlichen Wirkungen wären von einem solchen System der Kandidatenauswahl zu erwarten?
- Es reichte für Bewerber nicht mehr, sich innerparteilich abzusichern. Vielmehr wird in jedem Wahlkreis die gesamte Wählerschaft für alle Parteien zum wichtigen Mitspieler bei ihrer Kandidatenauswahl. Das verschafft Bürgerinnen und Bürgern, die in einem Wahlkreis angesehen sind, im Vergleich zu heute einen Vorteil: Wenn sich alle Bewerber den Vorwahlen stellen müssen, verlieren bloß innerparteilich bekannte Bewerber ihren jetzigen, uneinholbaren Wettbewerbsvorsprung.
- Das hätte zwei weitreichende Folgen:
- Es würde für strategisch denkende Parteiführungen reizvoll, in jedem Wahlkreis auf angesehene, kandidaturwillige Bürger zuzugehen, um die Gewinnchancen der Partei am Wahltag zu vergrößern.
- Es hätten innerparteilich unerwünschte Kandidaten die Möglichkeit, sich gegen sie ausbootende Absprachen zu wehren. Das beschränkte innerparteiliche Oligarchie und förderte innerparteiliche Demokratie.
- Alles das schwächte das heutige Nominierungsmonopol von Parteien und regionalen Parteiführern. Umgekehrt entstünden bislang nicht gegebene Chancen auf die Erringung eines Parlamentsmandats auch ohne langjährige Tätigkeit in einer Partei. Das schüfe einen – derzeit fehlenden – Anreiz für zivilgesellschaftliche Vereinigungen, ihrerseits nach Kandidaten zu suchen und sie im (Vor-)Wahlkampf zu unterstützen. Dann wäre die Bürgerschaft nicht länger darauf beschränkt, auf Personalangebote der Parteien nur zu reagieren. Sie könnte vielmehr aus eigener Initiative Einfluss auf die Auswahl des sie regierenden Personals nehmen. Das stärkte die Basis repräsentativer Demokratie.
- Unter solchen Umständen müsste sich niemand schon zu Jugendzeiten auf die Rolle eines angehenden Berufspolitikers einlassen. Vielmehr gäbe es reaVirlistische Chancen auf Erfolg beim Versuch, erst nach dem Erreichen einer angesehenen beruflichen und gesellschaftlichen Stellung ein Parlamentsmandat anzustreben. Das wiederum hätte nicht weniger als vier wünschenswerte Auswirkungen:
- Im Durchschnitt würden die gewählten Abgeordneten – auch passend zu unserer demographischen Entwicklung – älter sein, könnten folglich nach zwei oder drei Wahlperioden in den Ruhestand gehen und würden deshalb von „postparlamentarischer Protektion“ unabhängig.
- Es würde die Rekrutierungsbasis unserer Abgeordnetenschaft wieder breiter, da man nicht vom Hörsaal gleich in den Plenarsaal streben müsste. Das vergrößerte den Anteil von Parlamentariern mit erfolgreichen außerpolitischen Lebenswegen.
- So ausgewählten Abgeordneten dürfte die Masse der Bevölkerung ihr Politikergehalt nicht so sehr wie heute missgönnen. Diese hätten es nämlich nicht nötig gehabt, nun auch noch Volksvertreter zu werden – taten das aber dennoch, um der Gesellschaft etwas von deren Beitrag zum eigenen Berufserfolg zurückzugeben. Vermutlich dämpfte das jene Politikerschelte, die schleichend unsere repräsentative Demokratie entlegitimiert.
- Man könnte sich Debatten um Geschlechterquoten oder sonstige Quoten bei den innerparteilichen Aufstellungsverfahren sparen. Niemand würde nämlich die Wählerschaft daran hindern, ganz nach eigenem Ermessen bei den Vorwahlen nur für tüchtige Frauen und für Bewerber mit Migrationshintergrund zu stimmen – oder umgekehrt nur für Männer und länger schon im Land Lebende. Genau so offen zu verfahren passt aber vorzüglich zu einem demokratischen Repräsentationssystem, bei dem es nicht auf Geschlecht und Herkunft ankommen sollte, sondern allein auf die freiwillige Unterstützung von Abgeordneten durch die Bürgerschaft.
Alles in allem würden Vorwahlen dieser Art unsere Parlamente bürgernäher und die meisten Parlamentsneulinge lebenserfahrener machen. Das erleichterte es den Regierten, sich von ihren Politikern wirklich vertreten zu empfinden. Auch ließe sich auf Wahlkreisebene leichter als landes- oder bundesweit jener Sperrriegel überwinden, den die Journalistenschaft gegen einen größeren politischen Einfluss solcher Leute zu errichten pflegt, die dem – früher konservativen, heute grün-linken – „juste milieu“ missfallen.
Was sind umgekehrt die wichtigsten Argumente gegen die Einführung von Vorwahlen, und was ist von ihnen zu halten?
- Mit dem Einfluss politischer Parteien bei der Kandidatenaufstellung würde auch der Hauptanreiz einer Parteimitgliedschaft verringert. Der bestünde nämlich darin, auf die Verteilung politischer Ämter Einfluss zu nehmen und – je nach Ehrgeiz – selbst ein Mandat zu erlangen. Dieser Einwand ist stichhaltig. Ihm ist entgegenzuhalten, dass die Mitgliederzahlen der Parteien ohnehin seit Jahrzehnten drastisch gesunken sind und sich der innerparteiliche Rekrutierungspool für Mandatsträger so sehr verengt hat, dass nun dessen Erweiterung durch Chancen einer zivilgesellschaftlichen Selbstrekrutierung von Kandidaten wünschenswert geworden ist.
- Nach der Einführung von Vorwahlen könnten die Parteien keine vorausschauende Fraktions- und Personalplanung mehr mittels der Zusammenstellung ihrer Landeslisten betreiben. Das stimmt. Doch die Parteien haben sich ohnehin nicht als der Bürgerschaft vorgeordnete Instanzen zur Postenverteilung zu verstehen, sondern als „von unten nach oben“ funktionierende Kanäle politischer Willensbildung und Personalrekrutierung. Repräsentative Demokratie erfüllt sich ja nicht in der Schaffung von Weidegründen für Parteipolitiker, sondern soll eine Maschinerie selbstermächtigter Bürgerbeteiligung sein.
- Mittels Vorwahlen kämen politisch unausgebildete Leute ins Parlament und würden dort überfordert sein. Dazu kann in Einzelfällen kommen. Die aber dürften keine dramatischen Folgen haben. Erstens werden tüchtige Parteiaktivisten oder im Wahlkreis angesehene Abgeordnete weiterhin gute Chancen haben, sich dank ihres politischen Könnens gegen weniger leistungsstarke Neulinge durchzusetzen. Zweitens muss ohnehin jeder Parlamentsneuling sich erst einmal zurechtfinden, was Leuten, die schon außerhalb der Politik erfolgreich waren, nicht weniger zuzutrauen ist als jenen oft nur politisch tätigen Geistes- und Sozialwissenschaftlern, die heute in die Parlamente drängen.
- Erfahrungen aus den USA zeigten: Bei Vorwahlen setzen sich leicht Bewerber mit radikalen Positionen durch, was zur Polarisierung in der Politik und zur Spaltung der Gesellschaft führt. Das ist wirklich die amerikanische Erfahrung der letzten Jahrzehnte. Doch in Deutschland konkurrieren nicht bloß zwei machtpolitisch ernstzunehmende Parteien, sondern derzeit sechs. Dabei beobachten wir, dass Anschluss- und Integrationsfähigkeit wesentlich wählerattraktiver sind als Radikalität und Polemik. Es gibt außerdem keine guten Gründe für die Vermutung, die Einführung von Vorwahlen auf Wahlkreisebene würde das ändern.
Es ist schon klar, dass es großer Anstrengungen bedürfte, überhaupt nur eine öffentliche Debatte über Vorwahlen herbeizuführen. Eine entsprechende Reform in Parteien und Parlamenten gar mehrheitsfähig zu machen, verlangte noch mehr Mühe und Geduld. Doch jede Reise auch zum allerentferntesten Ziel beginnt nun einmal mit den ersten Schritten. Die aber sollte man durchaus tun, wenn sich das Ziel wirklich lohnt – und man sollte sie nicht bloß deshalb unterlassen, weil sie anstrengend sein und viele Jahre dauern wird.