Geht bald Deutschlands Demokratie unter?
ursprünglich erschienen als „Die Normalität der Demokratie. Nichts geht in Deutschland so oft unter wie die Sonne – und die Demokratie. Behaupten Medien und Politiker“, in: Die Weltwoche v. 6. September 2024 (https://weltwoche.de/daily/die-normalitaet-der-demokratie/)
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Zweierlei geht in Deutschland regelmäßig unter. Das eine ist täglich die Sonne, das andere die Demokratie – und zwar nun schon zehn Jahre lang an den meisten Wahlabenden. Seither fing nämlich die AfD an, in die Parlamente einzuziehen. Inzwischen schafft sie es sogar, im Osten zur stärksten Partei zu werden. Kein Wunder, dass die Chefredakteurin des ZDF bei der Bekanntgabe der Thüringer Wahlergebnisse gleich an Deutschlands Angriff auf Polen und an den Holocaust erinnerte. Es muss wirklich verzweifelt um Deutschlands Demokratie stehen
Gewiss ist es ein nobler Instinkt samt ehrenwertem Lernen aus der Geschichte, wenn Deutsche den Aufstieg von rechten Parteien nicht einfach schulterzuckend zur Kenntnis nehmen, sondern sich ob möglicher politischer Gefährdungen Sorgen machen. Das Beste wäre es in dieser Lage allerdings, den Ursachen für den Aufstieg der AfD auf den Grund zu gehen und dort Abhilfe zu schaffen. Vor allem wäre einzusehen, dass die weit verbreiteten Sorgen um die Folgen der selbstermächtigten Einwanderung nach Deutschland, die nun schon rund zehn Jahre anhält, nicht einfach nur von der AfD herbeimanipulierte Hirngespinste sind. Sie haben vielmehr handfeste Gründe. Von diesen profitiert die AfD so lange, wie Deutschlands Staat dem Zuwandern bloß zusieht.
Derzeit machen sich die einen Sorgen um Deutschlands Demokratie, weil die etablierten Parteien Politikprojekte durchziehen, von denen befürchtet wird, sie könnten das Land ruinieren. Und die anderen machen sich Sorgen, weil sie in der AfD eine demagogische Wiedergängerin der NSDAP sehen. Ob aber die so entstandene Totalkonfrontation von „Guten“ und „Bösen“ die Ursachen der jeweiligen Sorgen nicht eher verewigt? Und ist es wohl demokratiedienlich, wenn Politik und Zivilgesellschaft der oft ganz maßlosen Kritik von AfD-Anhängern an Deutschlands Politikerschaft mit ebenso maßloser Kritik an der AfD als bloß einer Horde von Nazis antworten?
Natürlich gehören Gefühle, wie sie dem beiderseitigen Verhalten zugrunde liegen, ebenfalls zur Politik. Immerhin geht es bei der um wirklich viel, bis hin zum Verlust von Freiheit und Leben. Doch ist es weise, sich von politischen Gefühlen so leiten zu lassen wie der Spinnenfürchtige beim Anblick eines bloß empfundenen Monsters? Dabei wurde in Europa doch längst entdeckt, wie man politische Gefühlsregungen durch vernunftbegründete Institutionen übersteuern kann.
Zunächst einmal erlaubt es die Unterscheidung von glaubensabhängiger Religion und vernunftbegründetem Staat, aus der Politik die allertiefsten Gefühle herauszuhalten. Und befolgt man in einem Staat auch noch die Prinzipien pluralistischer Demokratie, so ist erst recht emotionale Entspannung möglich. Man kann sich dann nämlich auf eine wichtige Unterscheidung verlassen. Das ist die zwischen einem verbindlichen „Minimalkonsens“ und dem „streitigen Sektor“ einer Gesellschaft. In einem freiheitlichen Staat gibt es tatsächlich bloß wenig, worin sich alle einig sein müssen. Dazu gehört die Achtung der Menschenwürde, die Gewaltlosigkeit und das Recht aufs Anderssein. Über alles andere aber darf man streiten, wobei sich – vor der dann hinzunehmenden Mehrheitsentscheidung – oft von den Argumenten eines Gegners sogar lernen lässt. Die ganz legitimen Streitthemen reichen etwa von der Migrations- und Energiepolitik bis zum rechtlichen Umgang mit „Heteronormativität“ oder „Genderfluidität“.
Natürlich ist praktizierter Pluralismus mitunter schwer zu ertragen – insbesondere dann, wenn die eigene Position zu der einer Minderheit wird. Dann wird es verlockend, den verlangten Minimalkonsenses auszudehnen und die machtbewehrten „Grenzen des Sagbaren“ immer weiter zu ziehen. Das freilich endet im Totalitarismus, also darin, dass eine einzige Weltsicht oder ein einziges Wertesystem auch gegen aufkommenden Widerstand umfassend durchgesetzt wird. Wer sich dabei auf der Siegerstraße sieht, wird derlei zwar nicht als freiheitsgefährdend, sondern als Durchsetzung des Richtigen wahrnehmen. Womöglich wird er eine mit dosierbarem Wohlwollen auszugestaltende kulturelle Hegemonie sogar genießen. Doch weiser ist es wohl, die Folgen von Politik auch aus der Warte jener zu bewerten, deren Ansichten und Interessen immer wieder unterliegen. Solche Leute aber reizt es viel weniger zum Aufstand, wenn der verpflichtende Konsens auf jene Inhalte beschränkt bleibt, ohne deren Verwirklichung ein Leben in Würde und Freiheit nicht gelingt.
Auch kann man nicht oft genug wiederholen, dass Gegnerschaft zur jeweiligen Regierung etwas anders ist als Feindschaft zur Verfassung. Deshalb ist es hysterisch, wenn die stets scharfe, mitunter unflätige AfD-Kritik an Regierungspolitikern als „Extremismus“ ausgeflaggt wird. Wenn man nämlich diesen Begriff nicht zum bedeutungsleeren Schimpfwort abschleifen will, hat man – wie das Bundesverfassungsgericht – unter ihm allein den aktiven Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung zu verstehen. Allein deren Prinzipien umschreiben den durchzusetzenden Minimalkonsens Deutschlands: die Achtung der durch die Grundrechte konkretisierten Menschenwürde, die Rechtsstaatlichkeit samt Unabhängigkeit der Gerichte, die Gewaltenteilung, die Verantwortlichkeit der Regierung, das Demokratie- samt Mehrheitsprinzip, das Mehrparteiensystem sowie das Recht auf Bildung und Ausübung von Opposition.
Das vor Augen ist schon zu fragen, ob es wirklich ein Ausweis von Extremismus oder eher von Geschmacklosigkeit ist, wenn AfD-Politiker verkünden, wie wollten ihre Gegner im Bundestag „jagen“. Muss denn allein schon Verbalradikalismus als verfassungsfeindlich gelten? Kann man ihn wirklich nicht – wie etwa den Alkoholismus – als fehlgeleitetes Ausleben eines Freiheitsrechts begreifen? Oder darf in Deutschland nur der Rechtsradikalismus nicht ausgelebt werden, eingedenk der Jahre 1933ff, sehr wohl aber der Linksradikalismus – trotz der Jahre 1917ff oder 1945ff?
Und was soll gar verfassungswidrig am Hinweis sein, dass die einen Deutschen eingebürgert wurden, die anderen aber Deutsche sind, weil sie eben von Deutschen abstammen oder in Deutschland als Kind eines Elternteils geboren wurden, das fünf Jahre lang legal in Deutschland lebte und ein unbefristetes Aufenthaltsrecht besitzt? Handelt etwa die Bundesregierung verfassungswidrig „völkisch“, wenn sie Programme zur Stärkung des „deutschen Volkstums“ im Ausland finanziert? Franzosen oder Spanier halten das nicht anders. Gibt es wohl ein historisch begründetes Sonderrecht für Deutsche? Ob dieses aber nicht seinerseits rassistisch wäre?
Merkwürdig kommen sie einem schon vor, diese Deutschen. Da unterschreiben sie gern, dass die Demokratie vom Machtwechsel lebt, geraten aber ins demonstrative Zittern, wenn die AfD nicht – wie bei der Bundestagswahl von 2013 – an der Fünf-Prozent-Hürde scheitert, sondern zur stärksten Oppositionsfraktion wird wie 2017 im Bundestag, oder gar zur überhaupt größten Fraktion wie derzeit im Thüringer Landtag. Da loben viele Deutsche die direkte Demokratie so lange, wie sie die eigenen Anliegen für mittels Volksabstimmungen durchsetzbar halten, verzweifeln aber an ihrer repräsentativen Demokratie, wenn eine neue Partei jene Repräsentationslücke schließt, welche die etablierten Parteien eigentlich gar nicht hätten aufreißen lassen müssen. Und da singen deutsche Politiker Loblieder auf die wehrhafte Demokratie, sind aber zu feige, sich in öffentlichen Debatten persönlich mit AfD-Leuten zu messen. Anscheinend ist für viele die schönste Demokratie genau jene, in der man unbehelligt unter seinesgleichen bleibt, journalistischen Beifall in die eigene Politik einpreisen kann und neue Konkurrenz politisch zu ersticken vermag.
Natürlich sind solche Vorstellungen von Demokratie alles andere als normal. Zur Normalität einer Demokratie gehört es vielmehr, dass Parteiensysteme nicht verkrustet sind, sondern anpassungsfähig, und dass sich durch Wahlen wirkliche Politikwechsel herbeiführen lassen. Und weshalb müssen ausgerechnet jene Leute in einem stabilen Rechtsstaat mit funktionierender Gewaltenteilung und Demokratie angesichts der Möglichkeit von AfD-Ministern in Panik ausbrechen, die schon seit Jahren nichts dagegen tun wollten, dass Zehntausende von Leuten mit unklarer Identität und nicht immer guten Absichten ins Land einwanderten?
Jedenfalls muss sich Deutschlands Demokratie nach so langen Jahrzehnten gesicherter Stabilität nicht vor scharfen Protesten mancher Passagiere auf dem Staatsschiff fürchten. Sehr wohl kann sie hitzige Debatten über dessen Kurs ertragen. Und sie wird auch durch den Austausch jenes Teils der Besatzung nicht zum Kentern gebracht, mit dessen Leistungen viele Schiffseigner nicht zufrieden sind. Doch leider sind die Deutschen – und wen wundert’s angesichts ihrer jüngeren Geschichte – allzu neurotisch. Oder es verleitet sie ihre gute Entwicklung nach Krieg und Wiedervereinigung inzwischen zu einer „behaglichen Katastrophenlust“, die bisweilen aufs Weltklima, bisweilen auf die eigene Demokratie zielt. Wo bleibt da nur ein Kanzlerwort von der Art „Ja, wir schaffen das!“