Eine Partei namens AfD
Vor zehn Jahren wurde die „Alternative für Deutschland“ gegründet – und nach den Grünen ist ausgerechnet die umstrittene AfD Deutschlands erfolgreichste neue Partei. Wie kam es dazu? Ein Kommentar, erschienen in: DIE TAGESPOST v. 9. Februar 2023, S. 4
Seit der internationalen Finanzkrise von 2007/8 kritisierten Mitglieder von FDP und Union immer lauter, einen wie leichtfertigen Umgang nicht nur die Regierungen von Mittelmeerstaaten, sondern auch die deutsche Regierung mit der europäischen Währung pflegten, nämlich mit ihrer Stabilität und mit drohenden deutschen Haftungsrisiken. Das machte aber wenig Eindruck auf die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel. Also gründeten diese Kritiker vor zehn Jahren, genauer gesagt am 6. Februar 2013, eine neue Partei. Die sollte Deutschland Politikalternativen anbieten. Dass es solche gäbe, hatte die Kanzlerin da schon jahrelang verneint.
Wir erinnern uns: In den 1980er-Jahren wollte ein damaliger hessischer Ministerpräsident von der SPD den neuen grünen Rivalen mit „Dachlatten“ kommen. Das scheiterte. Im Falle der AfD hingegen wurde zur Kampfeslist, dass man der neuen Partei buchstäblich die „Nazi-Schelle“ umhängte. Das hat Folgen bis heute. Wann immer honorige Leute wie Bernd Lucke, Karl Adam, Frauke Petry, Hans-Olaf Henkel und Joachim Starbatty die Positionen ihrer Partei darlegten, wurde umsichtig-fies die folgende Argumentationskette um sie geschlungen: Wer gegen Deutschlands alternativlose Europolitik ist, bekämpft auch Deutschlands Europapolitik; das tun aber nur Nationalisten; die sind allesamt rechts, ja eigentlich rechtsextremistisch; und weil aus der Geschichte gelernt wurde, schon den Anfängen müsse man wehren, sei ein entschlossener Kampf gegen die AfD alternativlos.
Viele Vernünftige sind in der AfD mittlerweile kaltgestellt
Gern hörten Deutschlands wirklich Rechte davon, mit respektablen Akademikern aus den Reihen von FDP und CDU an der Spitze gäbe es nun auch für sie eine vorzeigbare Partei. Wie schön, nach langen Zeiten der dauerschmuddeligen NPD und DVU! Also strömten viele Rechte und ganz Rechte in die AfD, darunter nicht wenige Quertreiber und Querulanten, Angeber und politisch Gescheiterte. Der Parteigründer Lucke roch den Braten und mühte sich ab, dem Charakterwandel seiner Schöpfung durch problematische, gar üble Neumitglieder zu wehren. Das misslang, weil sehr viele auf eine neue Partei rechts der Union geradezu gewartet hatten. Die nämlich wollte schon jahrelang nur noch Leute aus der politischen Mitte an sich binden.
Schon rasch verbreitete sich in der AfD ein neuer Ton: Lautstarker Protest führte zu schnellem Wachstum. Solcher Erfolg riet deshalb zu noch schärferem Protestgehabe. Bald entstand emotionalisierender Streit über den sinnvollerweise zu steuernden Kurs der Partei. Dieser Steit dauert bis heute an. Inzwischen hat er nicht nur drei Parteivorsitzende verschlissen, sondern auch viele Vernünftige aus der AfD vertrieben oder in ihr kaltgestellt.
2013, kurz nach der Parteigründung, verfehlte man knapp den Einzug in den Bundestag und in Hessens Landtag. Im Folgejahr zog die AfD zwar ins Europäische Parlament und in die Landtage von Sachsen, Brandenburg und Thüringen ein. Doch anschließend erlahmte das öffentliche Interesse an ihr. Intern zerstritt sie sich. Das hätte es mit ihr dann auch sein können.
Doch im Winter 2014/15 geriet der AfD die bundesweite Reaktion auf Dresdens PEGIDA zum Mästungsprogramm. Die „Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ konnten, so hörte man allenthalben, bei gar nichts rechthaben. Weder gab es in Europa irgendwelche absehbaren Probleme mit sich politisierenden Muslimen, noch war vernünftigerweise zu befürchten, Deutschlands Offenheit für politisch Verfolgte könne je zu anderem führen als zur Dankbarkeit gegenüber unserem Land und zur raschen Integration der „neuen Deutschen“ in dessen Arbeitsgesellschaft. Das einzige Problem sei das Fehlen von Willkommenskultur.
Das bestritten die PEGIDA-Leute, und ihre polemischen Vorbeter taten das – mit bundesweiter Resonanz – erst recht. Also konnten sie alle nichts anderes sein als Dummköpfe und Rassisten. Bloß die AfD stimmte den PEGIDA-Positionen weitgehend zu. So wuchs zusammen, was sich unter gleichem Ausgrenzungsdruck als zusammengehörig empfand. Die AfD wurde zu „PEGIDA im Parlament“, und PEGIDA zur „AfD auf der Straße“. Die Corona-Zeit samt der von ihr hervorgebrachten Protestbewegung erstickte anschließend Dresdens PEGIDA-Demos, die ohnehin nur noch Lokalfolklore waren. Doch ihr Tonfall lebt – gerade im Osten – auf vielen AfD-Kundgebungen weiter, und ebenso in Parlamentsreden von AfD-Abgeordneten.
Dann kamen im Herbst 2015 zu Hunderttausenden nicht nur politisch verfolgte Frauen und Kinder nach Deutschland, sondern vor allem junge Männer. Viele davon stammten aus nordafrikanischen Ferienländern von Deutschen. Doch davon redete öffentlich besser nicht, wer respektabel bleiben wollte. Allerdings brachte bald schon die „Kölner Silvesternacht“, vor allem die anfängliche mediale Schönung des Geschehenen, viele in Deutschland auf einen für sie plausiblen Gedanken: Man müsse kein Rassist sein, um zum besorgten Bürger zu werden, wenn angesichts des europaweiten Migrationsgeschehens die deutsche Regierung immer wieder erkläre, Deutschlands Grenzen ließen sich keinesfalls mehr kontrollieren. Genau das aber behaupteten die sich wechselseitig als demokratisch anerkennenden Parteien von der Linken bis zur Union, und noch viel einhelliger taten dies die tonangebenden Medien. Wer das nicht so sah, der galt nun rasch als Rassist und Nazi, zumindest aber als ein Sympathisant der AfD.
Die AfD profitiert bis heute von politischen Versäumnissen
Tatsächliche Migrationsfolgen sind freilich härter als jede ideologische Sprechblase. Wann immer eine solche platzte, wirkte das auf die AfD wie ein Regenschauer in der Wüste. Spätestens bei den fünf Landtagswahlen im Frühjahr 2016 wurde absehbar, dass der Aufstieg der AfD dauerhaft wäre. Doch ihren Gegnern fiel nichts Besseres ein, als die alten, untauglichen Bekämpfungsversuche fortzusetzen: AfD-Themen für bloß eingebildet erklären, auf die AfD schimpfen, nicht mit AfDlern reden. Bald kam es wie im Märchen mit dem Schäfer, der allzu oft das Kommen des Wolfes ausrief. Zugleich wurde jene Grenze, ab der man Politiker, Journalisten und andere zum staatstragenden „Abschuss“ freigibt, vom rechten Rand der CDU ins Innere dieser Partei verlegt. Deshalb macht man jetzt auch regelrechte „Fascho-Jagd“ auf den ehemaligen Verfassungsschutzpräsidenten Hans-Georg Maaßen.
Derweil kommt die AfD im Osten auf ziemlich stabile Wähleranteile von knapp einem Drittel, im Westen von rund einem Zehntel. Wenn Anbräunung samt Ausgrenzung als Anti-AfD-Strategie ernstgemeint waren, hat sie offenbar nichts getaugt. War das alles aber nur ein politisches Routinespiel, dann war es leichtfertig und verantwortungslos. Tatsächlich gibt es nun eine Art „ostdeutsche Volkspartei“ namens AfD. Sie wurde zur Heimstatt von Protest gegen ein – so wahrgenommenes – „übergestülptes Politiksystem“, wie er seit der Wiedervereinigung nie verstummte. Jetzt finden sich in der AfD wirklich auch Rechtsradikale, die aber nicht länger in einer Splitterpartei isoliert sind. Und insgesamt wurde Innenpolitik zum Kampf aller gegen die AfD. Der wird in gegen die AfD gerichtete Minderheitsregierungen münden, wie jetzt schon in Thüringen. Derweil hofft man, das Bundesverfassungsgericht werde die AfD verbieten.
Was lief da alles schief? Da war politisch-korrekte Blindheit gegenüber neuen Problemen Deutschlands – zumal jenen, die mit der sich ändernden Zusammensetzung der hierzulande Lebenden zu tun haben. Da war Arroganz der Macht: Unerwünschte Wahlen, etwa von AfDlern zu parlamentarischen Vizepräsidenten, müssen misslingen – oder haben, da unverzeihlich, rasch rückgängig gemacht zu werden. Es fehlte die Einsicht, dass dort, wo wirklich besorgte Bürger sich von der etablierten Politikerschaft nicht repräsentiert fühlen, eben eine neue Partei zur Dauergröße werden kann – einst die Grünen, jetzt die AfD. Und es wird weiterhin nicht begriffen, dass allenthalben in Europa rechte Parteien gegen die Folgen jahrzehntelanger, sozialliberal-grüner Politik anrennen, zumal gegen die Zukunftsprobleme mit unseren sozialen Sicherungssystemen und mit dem abnehmenden gesellschaftlichen Zusammenhalt. Deutsche Sonderwege führen da in eine Sackgasse.
Der Verfasser war von 1992 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2019 Inhaber des Lehrstuhls für politische Systeme und Systemvergleich an der TU Dresden. Seit dem Herbst 2022 ist er hauptamtlicher Forschungsdirektor an der neuen Denkfabrik „MCC Brussels“. Er gehört seit 1994 der CDU an, war bis zur Kandidatur von Max Otte als AfD-Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten Mitglied der WerteUnion, und versuchte bis Ende 2018, der AfD durch – allesamt veröffentlichte – Vorträge und Gutachten nahezubringen, für welche Formen direkter Demokratie sich einzutreten lohne, was die Aufgabe der AfD beim Umgang mit Extremisten sei, und wie die AfD systemkonforme Oppositionsarbeit leisten könne.