Kommende soziale Unruhen?

Kommende soziale Unruhen?

Interview mit dem „Weserkurier“ vom 22. August 2022

Herr Patzelt, vielfach wird dieser Tage davor gewarnt, dass es im Herbst zu sozialen Unruhen kommen könne. Wie schätzen Sie die Lage ein?

Werner J. Patzelt: Die meisten spüren es ganz persönlich, wenn die Lebensmittel- oder Energiepreise steigen. Manche sind auch alarmiert über Berichte, dass unsere Städte für den Winter öffentliche Wärmeräume planen, weil es am Gas fürs Beheizen von Wohnungen fehlen könne. Anders als bei der Migrationsdebatte hilft da auch der Hinweis nicht, Rassisten stellten die Lage schlechter dar, als sie sei. Und anders als bei der Corona-Debatte lässt sich nun nicht behaupten, es gäbe gar kein Problem – oder alle konkreten staatliche Maßnahmen seien alternativlos. Also findet sich politischer Raum für Proteste. 

Bundeskanzler Olaf Scholz wurde vor wenigen Tagen in Neuruppin ausgebuht. Robert Habeck erlebte ähnliches Ende Juli in Bayreuth – sind das die Vorboten?

Leider zieht sich die Bereitschaft, auf diese Weise Respektlosigkeit zu demonstrieren, inzwischen durch unsere ganze Gesellschaft. Früher hat man höchstens Franz-Josef Strauß als Nazi und Helmut Kohl als Dummkopf ausgepfiffen, hat also – in den Augen vieler – die Richtigen getroffen. Doch nun trifft es auch, ironisch formuliert, die Sozialdemokraten als Sachwalter des allzeit Richtigen und die Grünen als Sachwalter des stets Guten. Das ist neu. Mindestens zwei Ursachen gibt es dafür.

Welche?

Kurzfristig wirkt sich hier die Enttäuschung vieler Leute aus, dass die Ampel-Regierung nun eine andere Politik macht, als sie im Wahlkampf versprochen und im Koalitionsvertrag ausgeflaggt hat. Das waren weitere soziale Reformen, die Fortsetzung der Energiewende und eine friedliche Außenpolitik. Unter dem Druck der Wirklichkeit handelt man nun anders. Das empört viele, welche die Wirklichkeit weiterhin anders wahrnehmen als inzwischen die Regierung.

Welches ist der andere Faktor?

Ein ins Gewicht fallender Teil der Bevölkerung hat seit der Euro-Rettungspolitik, spätestens seit der Migrationspolitik von 2015, den Eindruck, dass Deutschlands Politikerschaft unser Land in eine falsche Richtung steuert. Nach erfolglosem Protest dagegen haben viele unserem politischen System innerlich gekündigt. Und weil dessen Politik – gerade unter Angela Merkel – sehr stark sozialdemokratisch und grün ausgerichtet war, vollzogen eine solche innere Kündigung besonders viele von denen, die politisch rechts stehen. Eben das kennen wir seit langem als Rechtspopulismus. Dessen Richtung passte uns nicht, und dessen Anliegen bezeichneten wir meist als unbegründet. Wendet sich populistische Empörung aber fortan vor allem gegen die Waffenlieferungen und Wirtschaftssanktionen der jetzigen Ampelregierung, dann wird sich derlei Kritik weder als völlig unbegründet noch als rechtsradikal hinstellen lassen. Und dann gerät Deutschland in eine sehr brisante Protestlage.

Angela Merkel stand für eine sozialdemokratisch-liberale Politik?

So haben das viele Wähler beurteilt, die sich von der Union abwandten. Auch kam die Ampelkoalition nicht zuletzt wegen des weit verbreiteten Eindrucks zustande, die CDU könne jenen richtigen Kurs, den Angela Merkel eingeschlagen habe, nicht mehr durchhalten, weil die innerparteiliche Rechte sich widersetze. Wer also für Merkel war und mit der Vor-Merkel-Union ohnehin nichts anfangen konnte, hat in dieser Lage Scholz oder Habeck gewählt. Von diesen erwartete man, dass sie die – vermeintlich – alternativlos richtigen Entscheidungen Merkels nun nachhaltig umsetzten: Kernkraftwerke abschalten, russisches Erdgas als Brückenenergie nutzen, Bundeswehr und NATO ja nicht als Gefahr für Russland erscheinen lassen. Alle diese Entscheidungen wurden durchaus nicht gegen die Sozialdemokraten und Grüne getroffen, sondern von diesen unterstützt.

Sie haben in einem Interview mit der „Welt“ gesagt: „Es gibt in der Bevölkerung Misstrauen darüber, ob die Politik wirklich weiß, was sie tut“. Woher resultiert dieses Misstrauen?

Seit 2015 fragen sich viele, wie vernünftig es denn ist, jeden, der es nach Deutschland schafft, praktisch bedingungslos in unserem Land aufzunehmen, und das Ergebnis dann als eine wünschenswerte multiethnische und multikulturelle Gesellschaft zu feiern. Derlei Zweifel an der Migrationspolitik strahlten dann in viele andere Politikfelder aus. Gemeinsamer Nenner ist meist die Kritik an einer Politikerschaft, die immer öfter eine Laufbahn vom Kreißsaal über den Hörsaal in den Plenarsaal gemacht hat, der es also am lebenspraktischen Erfahrungshorizont zu fehlen scheint.

Inwiefern trägt die noble Hochzeit von Bundesfinanzminister Christian Lindner auf Sylt zu diesem Unbehagen bei?

So wenig wie ein Tropfen auf ein Fass – der es freilich zum Überlaufen bringen kann!

In einem anderen Interview haben Sie gesagt: „Leichter ließe sich zwischen den Befürwortern und den Kritikern derzeitiger Corona-Politik ins Gespräch kommen, wenn nicht an der Regierungspolitik selbst so vieles unschlüssig und wankelmütig wäre – und wenn die jeweils ergriffenen Maßnahmen nicht stets so vertreten würden, als wäre jede zweifelnde Nachfrage von Dummdreistigkeit oder Verschwörungstheorie getragen.“ Hatte die Corona-Politik eine neue Qualität, was ihre Rigorosität betrifft?

Viele verstehen, dass Politik ein Handeln unter den Bedingungen von Ungewissheit ist, das oft in Form von Versuch und Irrtum erfolgt und erst allmählich eine klare Linie findet. Doch gerade dann empört es, wenn Politiker schon ihre ersten Versuche als ganz alternativlos ausgeben, wenn es später am Eingeständnis von Irrtümern fehlt – und wenn stattdessen jegliche Kritik am Regierungskurs als ignorant, böswillig oder staatsfeindlich hingestellt wird. Letzteres war sehr erfolgreich bei der Kritik an der Migrationspolitik, funktionierte nicht mehr so recht bei der Aufsässigkeit gegen die Corona-Politik und wird ganz versagen bei Protesten gegen die Folgen unserer bisherigen Energiepolitik.

Bei den Protesten gegen die Corona-Politik war bemerkenswert, dass sich die Kritik durch alle Bevölkerungs- und Altersschichten gezogen hat.

Ja. Die einen waren wegen corona-politischer Freiheitseinschränkungen besorgt, andere zweifelten an der Qualität der Datengrundlagen jener Politik. Jedenfalls gelang es nicht, jegliche Kritik zu staatsfeindlichem Unsinn oder Proteste pauschal zu rechtsradikalen Umtrieben zu erklären.

Die Corona-Auflagen haben jeden betroffen, die höheren Preise auch. Womöglich erwarten die von Frieden, Freiheit und Wohlstand verwöhnten Deutschen von der Politik, dass sie Krisen regelt, ohne dass die Bürger in Mitleidenschaft gezogen werden.

Wir sind nicht nur eine weiterhin nazi-traumatisierte Nation, sondern auch eine sehr verwöhnte Gesellschaft. Deshalb sehen viele keinen Sinn mehr darin, wegen übergeordneter Ziele Opfer zu bringen oder um des Gemeinwohls willen persönliche Einschränkungen hinzunehmen. Etwa empfanden viele den Wehr- und Zivildienst als Zumutung. Trotzdem bewundern sie heute oft jene Ukrainer, die sich den russischen Aggressoren entgegenstellen. Ob wir wohl am ukrainischen Beispielsfall neuerliche Opferbereitschaft erlernen?

Eine andere Form des Protests wählen junge Menschen, die sich beispielsweise auf Straßen kleben, um den Verkehr zu stören und Aufmerksamkeit für ihre Klimapolitik-Forderungen zu erhalten. Was ist von dieser Form des Protests zu halten?

Sie ist von recht billiger Konventionalität. Heute klebt man sich an Straßen, während man sich früher an Bäume oder Gleise kettete, um Rodungen und Castor-Transporte zu verhindern.

Sie ignorieren die parlamentarische Demokratie.

Das trifft nicht den zentralen Punkt. Viele empfinden einfach, dass man sich mit dem Mehrheitswillen nicht abfinden dürfe, wenn der auf Falsches und Lebensbedrohliches hinausläuft. Man schließt also Privatmoral und Politik kurz, was dann unbeugsamen Widerstand auch gegen Parlamentsentscheidungen nahelegt.

Wird Protest in dieser Form zunehmen?

Aufgesetzter Protest wie jener von ‚last generation‘ dürfte verblassen, lebensweltlich begründeter Protest sich hingegen verstärken, sobald es um Gasknappheit, Netzausfälle und einen weiteren Anstieg der Energie- und Lebensmittelpreise geht. Das sind nämlich Probleme, auf die – anders als auf den Klimawandel – Deutschlands Politiker einen fühlbaren Einfluss haben.

Sie sagen, ob sich der Protest verstärkt oder sich Demonstranten vernetzen, hänge auch davon ab, ob die Politik plausibel sei. Haben Sie ein Beispiel für plausible Politik?

Plausibel wäre das Eingeständnis, dass wir nicht nur ein Gasproblem, sondern auch ein Stromproblem haben – zumal viele bald schon ihre Zimmer mit strombetriebenen Heizgeräten wärmen werden. Also wäre es plausibel, unsere verbliebenen Kernkraftwerke eben doch nicht abzuschalten. Doch derart Plausibles unterbleibt immer noch, weil ihm ein Kernelement grüner Identität entgegensteht. Dabei gewänne unser Energieminister noch weiter an Popularität, wenn er seine Partei hier auf einen realistischen Kurs brächte.

Protest, betonen Sie, gehört zur Demokratie. Wann wird er gefährlich?

Immer dann, wenn jene Spielregeln nicht mehr befolgt werden, die ihrerseits den politischen Streit erträglich, ja wertvoll machen. Diese Regeln verlangen eine argumentative Auseinandersetzung gerade mit abgelehnten Meinungen, eine grundsätzliche, auch kommunikative Gewaltfreiheit, desgleichen faire Maßstäbe bei der Berichterstattung über politischen Protest sowie über jene, die ihn vollziehen. Unbedingt sollten wir aufhören, unwillkommene Demonstrationen auch noch als gefährlich auszugeben. Umgekehrt sollten wir stets jede Gewaltanwendung außer der kritisieren, die zur Durchsetzung von Regeln erforderlich ist.

Medien tragen Verantwortung? Inwiefern?

Journalisten sollen beispielsweise genau hinschauen und differenziert über Folgendes berichten: Wer demonstriert wirklich? Aus welchen Gründen? Wer hat echte Sorgen? Wer gibt sie nur vor? – Es sollte jedenfalls nie wieder so sein wie einst bei den Pegida-Demonstrationen, als gerade jene meinten, besonders gut Bescheid zu wissen, die nie in Sachsen waren und schon gar nicht mit einem der Demonstranten gesprochen hatten. Außerdem sollten sich die Medien vom üblichen Versuch fernhalten, gleich alle Demonstranten für radikal zu erklären, sobald unter ihnen etliche Rechts- oder Linksradikale entdeckt wurden. Besser wäre es, Forderungen danach zu unterstützen, dass eine Mehrheit von Vernünftigen sich nie die Lufthoheit über ein Demonstrationsgeschehen durch eine Minderheit von mitprotestierenden Radikalen nehmen lassen darf.

Sie haben mit Studenten zu den Teilnehmern von Pegida-Demonstrationen geforscht. Damit sind Sie ziemlich angeeckt.

Viele mochten unseren Befund nicht, dass eben nicht alle Demonstranten Rassisten und Nazis waren. Also machte man sich teils an verleumderische Methodenkritik, teils an infame politische Unterstellungen. Im Übrigen nutzen manche den damaligen Shitstorm, um alte Rechnungen mit mir zu begleichen.

Manche Bürger behaupten, die Meinungsfreiheit sei eingeschränkt, man dürfe nicht mehr ohne Weiteres sagen, was man denke.

Das stimmt so nicht. Sehr wohl gibt es in Deutschland Meinungsfreiheit. Doch der Preis fürs Vertreten einer abweichenden Meinung ist inzwischen leider sehr gestiegen.

Ursprünglich erschienen im „Weserkurier“ vom 28. August 2022 (https://www.weser-kurier.de/politik/inland/politologe-werner-patzelt-ueber-die-befuerchtungen-von-sozialen-unruhen-doc7mekdy63bkn3i0q0ndu). Das Gespräch führte Silke Hellwig.

Diese Website nutzt Cookies. Bei Weiternutzung dieser Seite, erklärenden Sie sich mit der Nutzung von Cookies einverstanden.