Zu Deutschlands neuerer Ostpolitik
I.
Ungeheures ist geschehen. Es wurde das Oberhaupt von Europas moralischer Großmacht, nämlich Deutschlands Bundespräsident, schnöde ausgeladen, als er mit den Präsidenten von Polen, Litauen, Lettland und Estland zur Bekundung gemeinsamer Solidarität nach Kiew reisen wollte. Ein ehemaliger Schauspieler, der jetzt als ukrainischer Präsident durch seine Kriegsführungslust am Tod von so vielen Landsleuten schuld ist, trägt ihm anscheinend nach, dass Frank-Walter Steinmeier einst als Kanzleramtschef und Außenminister dabei half, Russlands Wandel durch Handel voranzubringen.
Zwar hat das nicht so recht funktioniert, wie Deutschlands Bundespräsident vor kurzem zerknirscht zugab. War aber vielleicht doch eine gute Idee – ebenso wie die, Russlands antinazistischen „Kampf gegen rechts“ in der Ukraine nicht dadurch zu behindern, dass man den dortigen Soldaten schweres Kriegsgerät abgab. Vielmehr bewahrte uns Deutschland entschlossen vor dem Dritten Weltkrieg, indem es der Ukraine nur Schutzhelme und ein Feldlazarett zu liefern versprach. Schließlich darf man das um seine geopolitische Sicherheit zitternde Russland doch nicht noch weiter ängstigen! Wie verbohrt muss also sein, wer in Deutschlands Haltung nicht der politischen Weisheit letzten Schluss erkennt?
II.
Und wie verbohrt muss erst ein, wer diese Sätze nicht als bitter satirisch auffasst, sondern in ihnen mehr als allenfalls ganz kleine Körnchen an Wahrheit zu finden meint! Gewiss kann man darüber streiten, ob es seitens der Ukraine klug war, das grundsätzlich hilfsbereite Deutschland auf diese Weise zu brüskieren. Doch ebenso kann man bedenken, wie stillos und kleinkariert es war, nach der bewegenden Rede des ukrainischen Präsidenten vor dem Deutschen Bundestag sich ans Bestellen von Geburtstagswünschen und an parlamentarischen Kleinkram zu machen. Richtig wäre es gewesen, gerade in dieser Lage seitens unserer Regierung vor dem Forum unserer Nation klar zu sagen, wofür wir stehen und was – wenn überhaupt etwas – aus unserer Haltung konkret folgen soll. Doch dort, wo es keine stimmige Außenpolitik gibt, kann man eine solche eben auch nicht vertreten – und schweigt dann, sozusagen, dröhnend laut.
Das Verhalten unserer Regierung im Bundestag war jedenfalls zum Fremdschämen. Schämen musste man sich auch über die in Talkshows dann gebotenen Rechtfertigungsversuche: Der Kanzler könne ja im Bundestag nicht einfach das Wort ergreifen (was völlig falsch ist, wie ein Blick ins Grundgesetz zeigt); und die Bundeswehr habe gar nicht mehr so viele Waffen und Munition, dass man – ohne die Sicherheit der NATO zu gefährden – davon abgeben könne. Das verkennt freilich, dass Deutschland dank seiner glänzend funktionierenden Rüstungsindustrie der viertgrößte Waffenexporteur der Erde ist. Insofern rundet die Schande, dass man unseren Bundespräsidenten in einem von uns zumindest finanziell stark unterstützten Land nicht zu Gast haben will, nur jene vielen deutschen Fehler ab, derentwegen wir uns wirklich zu schämen haben. Nur drei davon seien jetzt knapp erwähnt.
III.
So lange spielten wir für Osteuropas Staaten den Oberlehrer. Nicht sie – obwohl einst Teil der Sowjetunion oder zumindest ihres Warschauer Bündnisses – verstünden etwas von russischer Politik; sondern das wäre allein Deutschland. Ihre Sorgen wegen – möglicherweise künftiger – russischer Aggressionen wären ganz unbegründet; hingegen habe Deutschland gezeigt, wie man eine Sowjetrepublik namens DDR zum Teil des Westens mache und die russischen Truppen ganz friedlich aus dem Land bekäme. Außerdem sollten sich Länder wie Polen – um von Ungarn ganz zu schweigen – erst einmal auf europäische Werte einlassen, bevor sie einem europäischen Musterland wie dem unseren ihrerseits mit Ratschlägen oder gar mit Bockigkeit kämen! Gegen diesen Hintergrund mutet es wie eine allzu billige Bußwallfahrt an, dass Deutschlands Bundespräsident jetzt gleichsam im Geleitschutz der Präsidenten Polens und des Baltikums in Kiew seine kehrtwendende Aufwartung zu machen versuchte. Womöglich merkte man dort diese Absicht – und war verstimmt.
Sehr lange glaubten viele Deutsche auch, mit dem auf der politischen Linken so beliebten Nachkriegspazifismus habe man einen nun gar nicht mehr kritisierbaren Ausweg gefunden aus den Unannehmlichkeiten von Deutschlands Lage in der Mitte Europas und an der Spitze von dessen Machthierarchie. Wir leben einfach eine nette Haltung vor, machen Widerspruch gegen sie verächtlich – und zehren von der uns zugefallenen Friedensdividende als Siegermacht des Kalten Krieges. Hätte nur auch Russland – und idealerweise ebenso US-Amerika – so sehr abgerüstet wie Deutschland, dann wäre Putins Staat strukturell angriffsunfähig gewesen und hätte uns alle nichts ins Schlamassel des Ukrainekriegs gezogen. Von den Ukrainern ganz zu schweigen, die ihre Städte vor der Vernichtung gar nicht bewahren wollen, denn andernfalls würden sie ja endlich mit ihrem Widerstand und mit der Bettelei um unsere Unterstützung aufhören. Da waren wir Deutsche schon einmal weiter, als wir uns nämlich im Kalten Krieg vielfach auf den Wahlspruch einließen: „Lieber rot als tot!“ – oder „Ich bin bereit, auch ohne den Schutz von Waffen zu leben“.
Sehr lange glaubten die allermeisten Deutschen auch, die Politik ihrer unfehlbaren Kanzlerin sei wirklich die bestmögliche und genau deshalb alternativlos. Nord Stream 2 mache Russland von Deutschlands Bereitschaft abhängig, sich dort – und eben nicht anderswo – mit Erdgas und anderem zu versorgen. Also sei der Bau dieser Leitung ein Wirtschaftsprojekt mit klar friedenspolitischer Wirksamkeit. Indem man außerdem die Ukraine mit einer neuen Erdgasleitung umgehe, bekämen die korrupten Oligarchen dieses Landes auch keine Durchleitungsgebühren mehr, und diese – gar nicht mehr gesondert zu beschließende –Sanktion befördere in Kiew endlich Reformen nach westlichem Vorbild. Und wenn man nur lange genug verhandle, dann würden die Russen, vielleicht, ihre – dort womöglich gar nicht vorhandenen – Soldaten aus der Ostukraine abziehen. Oder es würden sich die Ukrainer im Lauf der Zeit eben daran gewöhnen, dass ihr Land gespalten sei. Das haben wir Deutsche zwischen 1949 und 1989 doch auch getan; und warum sollte man am deutschen Wesen nicht auch anderswo genesen?
IV.
Wenn aber manches am „deutschen Wesen“ – oder besser: am deutschen Gewese – eben verkehrt ist, dann folgt man ihm besser doch nicht. Eben das begreifen immer mehr osteuropäische und mittelosteuropäische Staaten. Lange Zeit galt dort Deutschland als Vorbild, wie man ein stabiles Staatswesen, eine erfolgreiche Wirtschaft aufbaut – und wie man Außenpolitik betreibt, die gerade deshalb sanft auftreten kann, weil niemand die real hinter ihr stehende Macht verkennt. Doch inzwischen finden immer mehr Staaten ostwärts Deutschlands immer bessere Gründe, unsere Politik als Schönwetterpolitik zu begreifen, die zu stürmischen Zeiten weder schützen noch Bestand haben wird.
Die mit der zurückkehrenden Inflation bedrohlich werdenden Staatsfinanzierungsprobleme im Mittelmeerraum werden nämlich der Euro-Zone zusetzen – und sie werden Deutschland angesichts der von diesem Land ausgereichten Kredite und übernommenen Garantieleistungen merklich ärmer machen. Die innenpolitischen Spannungen von Deutschlands kulturell auseinanderstrebender Migrationsgesellschaft werden unser jahrzehntelang so leistungsfähiges Parteiensystem in der Art des französischen unterspülen. Und die handstreichartig vom Bundeskanzler in Aussicht gestellte Aufrüstung Deutschlands wird seine eigene Partei spalten, Deutschland sicherheitspolitisch weiterhin unberechenbar halten und dem deutschen Multilateralismus in militärisch rau werdenden Zeiten die Vertrauensgrundlage entziehen. Auch werden wir statt eines Landes, das zu Helmut Kohls Zeiten das Ernstnehmen und die Wahrung der Interessen seiner östlichen Nachbarn zum Teil seiner Staatsraison machte, bald schon ein Deutschland haben, dem man vom Baltikum bis zum Balkan aus guten Gründen misstraut. Kommt es ganz schlimm, so wird es für die mittel- und osteuropäischen Staaten sogar plausibel werden, wie zu Zeiten der Weimarer Republik über Deutschland hinweg mit den westlich Deutschlands gelegenen Staaten politisches Pingpong zu spielen. Alsbald wird man Frankreichs oder Amerikas Präsidenten in Kiew mit Kusshand empfangen, während Deutschlands Kanzler ob solcher Zurücksetzung schmollen. Dann ist es vorbei mit Deutschlands Führungsstellung in Europa – mit der geopolitischen ohnehin, mit der wirtschaftlichen vielleicht auch, und mit der moralischen sowieso. Die war freilich ohnehin stets mehr ein Anspruch als eine Tatsache.
Doch was wäre wohl schlimm daran, wenn die Ausladung des Bundespräsidenten aus Kiew der Vorbote eines alsbald einsetzenden osteuropäischen Wegstrebens von Deutschland wäre? Erstens profitierte davon niemand mehr als Russland, das den Rest Europas gespalten und damit seine Stellung gegenüber den USA und China verbessert hätte. Zweitens war es ja niemals verkehrt, dass Deutschland sich zum – gern auch in Vorleistung gehenden – Vorreiter eines Bündnisprojekts europäischer Nationalstaaten machte, die einen gemeinsamen Raum der Sicherheit und des Wohlstandes aufzubauen versuchten. Ohne eine zusammenhaltende Führungsrolle Deutschlands wird es aber schwerlich gelingen, Portugal mit Estland, Griechenland mit Norwegen so verlässlich zu verbinden, dass von der Europäischen Union in wenigen Jahrzehnten mehr als nur ein Name und eine schöne Idee bleibt. Des Bundespräsidenten ausfallender Besuch in Kiew ist also durchaus ein „Zeichen an der Wand“ – eines, das sich vergangenen Fehlern verdankt, und das deshalb nicht zum Anlass von Empörung genommen werden sollte, sondern hoffentlich zum Überdenken bisheriger deutscher Haltungen führt.
Als Podcast nachzuhören unter dem Titel „Satirisch-Bitteres zur deutschen Ostpolitik“ https://www.youtube.com/watch?v=xCr9Ua1EySI