Zweierlei Flüchtlinge?

Zweierlei Flüchtlinge?

Natürlich darf man zwischen Menschen in Not keine Unterschiede machen. Wir tun es aber dennoch, wenn wir der Straßenbettlerin kein Geld geben, sehr wohl aber einer Hilfsorganisation einen spürbaren Betrag aufs Konto überweisen. Einer bekannten Hilfsorganisation trauen wir nämlich; die unbekannte Straßenbettlerin aber, so ein häufiger Argwohn, könnte auch eine bandenmäßige Sammlerin sein. Und wer weiß, wie oft wir dabei wem Unrecht tun!

Gewiss kümmern sich jene, die 2015 syrische und afrikanische Geflüchtete willkommen hießen, heute nicht minder gutwillig und lobenswert um Flüchtlinge aus der Ukraine. Dennoch merken die meisten im Lande, dass diesmal vieles sehr anders ist. Vor allem gibt es keine Klagen über „Invasoren“, keine Empörung über mangelnde Grenzkontrollen, keine Sorgen über die Einreise von Terroristinnen und Terroristen. Schon gar nicht gibt es Demonstrationen gegen Neuankömmlinge. Freilich hört man auch keinen Jubel, uns werde nun geschenkt, was wertvoller als Gold sei: nämlich neue Menschen für unsere unterjüngtes Land.

Weil Vergleiche nun einmal klüger machen als Versuche, sie zu vermeiden, lohnt der Blick auf die Gemeinsamkeiten und Unterschiede von damals und heute. Die wichtigste Gemeinsamkeit ist, dass Hunderttausende vor einem schlimmen Krieg fliehen, und dass die Flüchtenden auf eine wohlwollende Aufnahme hoffen, nicht aber für den Rest ihres Lebens nichts als Armut erwarten. Doch noch mehr als diese Gemeinsamkeiten fallen die Unterschiede auf.

Diesmal kommen vor allem Frauen und Kinder, mitunter auch alte Männer. Die anderen Männer blieben nämlich im Land – teils, weil sie es als Wehrpflichtige nicht verlassen durften, und teils, weil sie ihre in Not geratene Heimat wirklich verteidigen wollen. Damals kamen zwar auch Frauen und Kinder. Doch viel zahlreicher waren junge Männer. Etliche von ihnen – etwa aus Eritrea – wollten der Wehrpflicht entgehen, andere einem Bürgerkrieg oder despotischem Regime, wieder andere schlechten Lebensperspektiven im Heimatland. Doch wer anderes als junge Männer soll denn dort etwas zum Besseren wenden? Ferner flieht man diesmal in unmittelbar an die Ukraine grenzende Staaten und somit in eine Europäische Union fast ohne Binnengrenzen. Dort ist man gut wie überall seines Lebens und eines Lebensminimums sicher. Damals aber flohen die meisten über weit jene Staaten hinaus, in denen sie – wie in der Türkei – bereits sicher waren, ja ließen sich auf offensichtlich seeuntüchtigen Booten weit ins Mittelmeer hineinbringen, um nämlich in der Europäischen Union ein besseres Leben zu finden als dort, wo sie eigentlich schon in Sicherheit waren. Damals glaubten auch nicht wenige Europäer, die – lange Zeit ganz unregistriert – auf ihren Kontinent gelangenden jungen Männer, mehrheitlich Muslime, könnten Teil einer neuen Unterschicht werden, die sich nicht in die jeweilige Aufnahmegesellschaft integrieren würde. Außerdem könne ein Teil von ihnen zur Gewalttätigkeit gegenüber einer Umwelt neigen, die man als abweisend oder hinsichtlich ihrer gelebten Werte als „zu anders“ wahrnähme. Diesmal hingegen glaubt kaum einer, dass Frauen mit Kindern und einige alte Männer unsere innere Sicherheit bedrohen oder es an Versuchen fehlen lassen könnten, entweder bald wieder in die Heimat zurückzukehren oder sich in ihre neue Arbeits- und Kulturwelt zu integrieren.

Jeder kann selbst darüber nachdenken, warum Frauen und Kinder aus dem eigenen Kulturkreis und der unmittelbaren Nachbarschaft, deren Väter, Söhne oder Brüder derzeit für ihr Land kämpfen, als viel schutzbedürftiger und als viel weniger gefährlich gelten, als man es damals von so vielen jungen Männern aus fremden Kulturkreisen vermutete, die oft ihre Eltern oder weiblichen Geschwister zurückgelassen hatten – und die nicht einfach in ein sicheres Land, sondern ausdrücklich ins wohlhabende Europa kommen wollten. Wer mag, kann genau diesen Wahrnehmungs- und Einschätzungsunterschied einen Beweis für jenen Rassismus nennen, den womöglich fast alle Weißen teilen, und der insbesondere in Deutschland seit 2015 zum Aufstieg erst des Rechtspopulismus und dann des Rechtsradikalismus geführt habe. 

Wer mag, kann es sich beim Begreifen und Erklären der hier ins Gewicht fallenden Zusammenhänge aber auch etwas weniger leicht machen. Vermutlich erkennt er oder sie dann auch mehr von dem, was tatsächlich den Unterschied zwischen 2015 und 2022 bewirkt hat, und was bei ernsthaften Überlegungen zur Migrationspolitik besser mitbedacht wird. Die hat nämlich nicht nur mit Migrationsgründen wie Krieg, Bürgerkrieg und Lebensgefahr in Diktaturen zu rechnen, sondern auch mit weltweit geteilten Hoffnungen auf ein materiell besseres Leben in Europa, das jedem Migrationswilligen zu ermöglichen eine Pflicht von wohlhabenden „weißen“ Staaten sei. Deren Reichtum gründe nämlich vor allem in der kolonialen und imperialistischen Ausbeutung der „people of colour“. Also holten die durch Flucht nach Europa, oder durch selbstermächtigte Einwanderung, sich ganz einfach das, was ihnen ohnehin zustünde.

Indem diese immer wieder erörterten Streitthemen gerade so zusammengestellt und zugespitzt werden, erschließt sich auch der innenpolitisch wichtigste Unterschied zwischen dem kulturellen Klima von 2015 und dem von 2022. Diesmal wird nämlich die Befürwortung von Zuwanderung nicht als die richtige Haltung guter Menschen ausgespielt gegen eine Ablehnung von selbstermächtigter Zuwanderung als der falschen Haltung von schlechten Menschen. Auch begrüßt man heute die Flüchtenden mit Bahnfahrscheinen, Essenspaketen und Hinweisen darauf, wo es zum Zug für die Weiterreise oder zur kommunalen Auffangstelle geht. Damals hingegen – freilich nur in den euphorischen Anfangstagen – beklatschte man darüber verwunderte Neuankömmlinge an deutschen Bahnhöfen so, als hatten sie nun jene letzte Strecke eines Marathonlaufs hinter sich gebracht, welche ihnen die guten Deutschen gegen ihre bösen Landsleute freigekämpft hätten. Im Grunde beklatschte man nicht die ankommenden Migranten, sondern sich selbst für die eigene moralische Überlegenheit und für den gerade errungenen politischen Sieg über jene, welche die Außengrenzen der Europäischen Union – oder gar die Grenzen Deutschlands – sichern wollten. In der Innenpolitik und in den sie formenden öffentlichen Debatten dann auch noch jede Kritik an denen, die ein ungeregeltes Zuwanderungsgeschehen einfach hinnehmen wollten, als nichts weiter denn rechtspopulistischen Unfug hinzustellen, galt sogar als zwingend erforderliches Kampfmittel gegen islamophobe Dumpfbacken und deren Wortführer. Obendrein Zuwanderer in der ostdeutschen Provinz gerade gegen dortiges Widerstreben zu verteilen, empfanden viele sogar wie eine flächendeckend erforderliche Schutzimpfung gegen den dortigen Rassismus. Das alles vergiftet bis heute unsere Debatten zur Migrationspolitik.

Hoffentlich entgiftet sie ein wenig, was nun geschieht. Es zeigt sich doch, dass man in Deutschland durchaus nicht eine „allgemeine Fremdenfeindlichkeit“ bekämpfen muss. Es reicht vielmehr für eine sich selbst tragende Willkommenskultur aus, wenn die Fluchtgründe plausibel und die Ankommenden ganz offensichtlich schutzbedürftig sind. Es erweist sich nun auch, dass bei der Migrationspolitik eben doch kein „Zivilisations- und Humanitätsvorsprung“ der westlichen EU-Staaten gegenüber den ehedem realsozialistischen Ländern besteht. Polen, Slowaken, Ungarn und Rumänen nehmen nämlich nicht nur – ohne sich zu zieren – Hunderttausende von Flüchtlingen auf, sondern kümmern sich auch lobenswert um sie, wenngleich im Rahmen ihrer im Vergleich zu Deutschland geringeren Möglichkeiten. Offenbar unterscheidet man im Osten Europas nur entschlossener, wer nun wirklich schneller Hilfe bedarf – und wer auch in einem anderen Land als dem eigenen ein gelingendes Leben führen könnte. Vielleicht verhelfen uns die jetzt offenkundigen Denk- und Verhaltensweisen in den Grenzländern zur Ukraine gar zu Korrekturen an unseren oft allzu romantischen politischen Überzeugungen – und eines Tages, hoffentlich, zu einer vernünftigeren und dann eben nachhaltigeren Flüchtlings-, Asyl- und Migrationspolitik als jener, die so vielen bislang als alternativlos erscheint.

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