Der nicht aufgehaltene Aufstieg der AfD
Interview mit Sophie-Marie Schulz in der „Berliner Zeitung am Wochenende“ v. 22./23. Februar 2025, S. 4; hier wird die online erschienene vollständige Fassung dokumentiert
—————————————-
Berliner Zeitung: Herr Patzelt, 2004 haben Sie erstmals vor einer „Repräsentationslücke“ rechts der CDU gewarnt. Welche Ereignisse oder Beobachtungen haben damals zu Ihrer Einschätzung geführt?
Werner J. Patzelt: Damals gelangte die NPD in den Sächsischen Landtag, in Brandenburg auch schon zum zweiten Mal die rechtsextremistische DVU, die 1998 in Sachsen-Anhalt knapp 13 Prozent geholt hatte. Stets ging das mit großen Stimmenverlusten der CDU einher. Offenbar fühlten sich viele Leute von der CDU nicht mehr repräsentiert. Gewiss kann man die CDU dafür loben, dass sich Rechtsradikale und Rechtsextremisten in ihr nicht wiederfinden. Doch wenn sich mehr und mehr Rechte von der Union als der am weitesten rechtsstehenden demokratischen Partei nicht vertreten fühlen, gibt es wenig wünschenswerte Folgen.
Und die wären?
Dann wird aus der sehr rechten Minderheit in einer Volkspartei eine eigene Partei, kann sich in den eigenen Reihen radikalisieren, der Union womöglich Wähler abjagen und eine dann geschwächte CDU in Koalitionen zwingen, die ihr nicht gut tun. Deshalb hat schon Franz Josef Strauß das Mantra verbreitet, es dürfe rechts von der CDU/CSU keine demokratisch legitimierte Partei geben. Dieses strategische Ziel halte ich bis heute für richtig. Leider ist es seit dem Aufstieg der AfD wohl nicht wieder erreichbar. Als ich merkte, dass rechts der Union neue Parteien mit etlicher Resonanz aufkamen, begann ich jedenfalls sofort mit Warnungen an die Adresse der Union, rechts kein politisches Gelände aufzugeben. Alles, was seither geschehen ist – die Wucht von Pegida, die kontraproduktiven Reaktionen sowie das anschließende Erstarken der AfD – zeigt klar, dass diese politisch-analytische Intuition nicht falsch war. Deutschland wäre viel erspart geblieben, hätte die Union nicht am rechten Rand Spielraum für eine neue, sich stark nach rechts entwickelnde Partei eröffnet.
Wer hätte Ihrer Meinung nach etwas tun sollen? Und was wäre die richtige Herangehensweise gewesen?
Wenn der Aufstieg einer unerwünschten Partei droht, gleich ob links oder rechts, dann müssen die etablierten politischen Kräfte zweierlei tun. Erstens muss man die realen Ursachen einer solchen Bewegung ergründen. Sind die von ihr thematisierten Probleme real oder nur fiktiv? Sind ihre Kernanliegen vernünftig oder rein ideologisch?
Und dann?
Dann müssen sich die etablierten Regierungs- und Oppositionsparteien in glaubwürdiger Weise an die Lösung der thematisierten realen Probleme machen und sich um die vernünftigen Anliegen annehmen! Zweitens muss man sich mit bloß eingebildeten Problemen und unvernünftigen Anliegen öffentlich auseinandersetzen. Dafür reicht es nicht aus, nur im eigenen Freundeskreis über den neuen politischen Gegner zu schimpfen. Vielmehr muss man persönlich mit dessen Anführern streiten – und zwar vor großem Publikum. Einem solchen kommunikativen Nahkampf mit AfDlern ist man aber zehn Jahre lang ausgewichen, ja hat ihn sogar als unbedingt zu unterlassende „Aufwertung“ der AfD ausgegeben. Jetzt erst begreifen mehr und mehr Leute, dass man sich den AfDlern wirklich stellen muss, und zwar nicht nur durch Demonstrationen aller Art. Am derzeitigen Schlamassel sind deshalb sowohl die schuld, welche sich nicht in Diskussionen mit AfDlern trauten, als auch jene, die solche öffentlichen Debatten zu unterbinden verstanden.
Jahre später, als die Pegida-Proteste in Dresden begannen und sich die AfD gründete, wiederholten Sie diese These. Die Mehrheit der Politiker, Wissenschaftler und Medien waren sich einig, dass die Wutbürger sich bald beruhigen und die Protestbewegungen verschwinden. Sie haben das Gegenteil behauptet und recht behalten. Wieso waren Sie sich so sicher?
Weil ich etliche Wochen lang alle Dresdner Pegida-Demonstrationen persönlich beobachtet hatte! Dabei bekam ich mit, dass die Empörung weit über das Migrations- und Islamthema hinausging sowie sich aus grundsätzlicher Unzufriedenheit mit unserer Politiker- und Journalistenschaft speiste. Natürlich verstärkten die herabsetzenden Reaktionen auf Pegida diese Empörung auch noch. Das deutsche Establishment wollte aber nicht in seinen rasch gebildeten Meinungen durch unerwünschtes Anderswissen gestört werden.
Und im Kontext von Pegida wurde Meinung über Wissen gestellt?
Tatsächlich galt allein schon der Gedanke als abwegig, es könnten die Pegida-Demonstranten auch ernstzunehmende Sorgen haben. Vielmehr galt es zu bekennen, dass Deutschland mit Zuwanderern gar keine Probleme haben würde, weil wir als sehr reiches Land sie doch leicht aufnehmen könnten. Wenn es dennoch Probleme geben sollte, ließe sich aufgrund humanitärer und verfassungs- bzw. völkerrechtlicher Verpflichtungen am nunmehr eintretenden Zustand ohnehin nichts ändern. Und das solle man auch gar nicht versuchen, denn es wären ja nur Rassisten und Nazis, die hier protestierten. Denen aber habe man nicht zuzuhören, sondern das Maul zu stopfen.
Wer argumentierte so?
Politiker, Journalisten, Bürger und Wissenschaftler. Es war schon ein ziemlich flächendeckender Verrat an Intellektualität und wissenschaftlicher Haltung, auch noch besonders inbrünstig diese Mehrheitsmeinung nachzubeten, statt die sie prägende Berichterstattung kritisch zu hinterfragen.
Ist es richtig, dass Sie sich 2018 erstmals für eine Koalition aus Union und AfD ausgesprochen haben?
Das was nur die irreführende Überschrift zu einem Gespräch mit mir im „Nordkurier“ vom Juni 2018. Dort ging es um gerade jetzt Offensichtliches: Die Union müsse politisch nach der Pfeife von SPD und Grünen tanzen, solange sie sich parlamentarisch nicht von der AfD unterstützen lasse. Weil aber die AfD schon damals nicht mehr „koalierbar“ war, riet ich in Sachsen zu einer CDU-Minderheitsregierung. Die theoretische Möglichkeit einer Koalition zwischen Union und AfD hatte ich allerdings schon 2015 in einem Artikel angesprochen. Damals hielt ich Merkels Migrationspolitik für einen der Kanzlerin unterlaufenen Fehler, für dessen Abstellung sie aber andere Partner bräuchte als die SPD oder die Grünen. Und die AfD war damals ja die von Lucke und Petry, nicht die von Höcke!
Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass eine Koalition aus Union und AfD in den nächsten Jahren zustande kommt?
Während der nächsten paar Jahre für wenig wahrscheinlich. Erstens wäre der politische Widerstand unüberwindbar groß. Zweitens ist heutige AfD auf die Übernahme von Regierungsverantwortung ungefähr so gut vorbereitet wie Robert Habeck auf die Rolle des Wirtschaftsministers.
Gehen Sie davon aus, dass die AfD wieder in der Versenkung verschwinden wird?
Nein. Solange Deutschlands unzulängliche Migrations-, Energie- und Sicherheitspolitik vielen im Land nicht einleuchtet, mästet das die AfD. Auch noch so viele Demonstrationen werden sie nicht zum Verschwinden bringen. Also wäre es Zeit für einen unserem Land besser dienlichen Umgang mit der AfD.
Was schlagen Sie vor?
Konditionierte Kooperationsangebote.
Was meinen Sie damit?
Die folgende Ansage der Union: „Ihr AfDler könnt auch die vernünftigen unter Euren Zielen nur gemeinsam mit uns umsetzen. Wenn Ihr das wollt, müsst Ihr aber Eure Rhetorik mäßigen, die folgenden – dann konkret zu benennenden – inhaltlichen Positionen verändern, und uns auch die folgenden Leute vom Leibe halten“. Damit wäre den Vernünftigen in der AfD eine Brücke gebaut und den Unvernünftigen ein Riegel vorgeschoben – gerade so, wie einst beim Umgang der SPD mit den Grünen.
In den vergangenen Jahren haben sich nicht nur die AfD und das BSW gegründet, das ebenfalls konservative Positionen besetzt. Auch die Union ist in einigen Punkten, bei der Migration etwa, wieder nach rechts zurückgerutscht. Entsteht nun eine „Repräsentationslücke“ im politisch linken Spektrum?
Nein. Die Grünen sind zu einer dauerhaft linken Partei geworden, und die SPD wird klug genug sein, ihren linken Flügel starkzuhalten.
Sie waren Gründungsprofessor des Dresdner Instituts für Politikwissenschaft und hatten die Professur für politische Systeme und Systemvergleich bis 2019 inne. Nachdem Sie sich wissenschaftlich mit Pegida auseinandergesetzt hatten, wurde Ihnen vorgeworfen, sich mit „der Sache gemein“ zu machen. Der Spiegel bezeichnete Sie im vergangenen Jahr als „Influencer der Neuen Rechten“. Was sagen Sie dazu?
Ironisch formuliert: Natürlich schmeichelt es, wenn man so bedeutend geworden ist, dass öffentlich vor einem gewarnt werden muss, ja zum Zweck unserer Demokratie auch das Auto abgefackelt wird! Das gibt ein Gefühl der eigenen Bedeutung, in dem man sich so richtig suhlen kann.
Und unironisch?
Ich merkte, dass ich kein Feld-, Wald- und Wiesenpolitikwissenschaftler bin, auf dessen Haltung und Aussagen es gar nicht ankommt. Die einen erregten sich über mich, weil ich ihren bevorzugten Narrativen in den Weg trat, und noch viele mehr sahen mich sehr gerne in den Medien, weil ihnen meine Analysen wirklichkeitsgetreuer und fairer zu sein schienen als jene aus dem linksgrünen Milieu. Dass ein solcher Einfluss von links der Mitte aus als „rechte Influencerei“ wahrgenommen wird, lässt sich einfach nicht vermeiden.
Sie haben nie an Ihren Thesen und Einschätzungen gezweifelt?
Ich habe meine Einschätzungen ja nie auf politische Einstellungen gegründet, sondern auf meine sorgfältigen Beobachtungen als methodisch disziplinierter, empirisch arbeitender Wissenschaftler. Also war ich zuversichtlich, dass meine Befunde und die auf sie gegründeten Ratschläge auch dort verlässlich wären, wo sie von den mehrheitlichen Einschätzungen abwichen. Außerdem ging ich stets davon aus, dass eines Tages auch anderen klar würde, dass ich mich die ganze Zeit über durchaus nicht getäuscht hatte.
Von Kollegen, Studenten und anderen empirischen Wissenschaftlern wurden Sie kritisiert. Ihre Einschätzung wurde nicht geteilt und als per se fragwürdig bewertet. Was macht dieses kategorische Ablehnen oder Zustimmen mit der akademischen und medialen Freiheit?
Insgesamt entsteht Anpassungslust samt Heuchelei. Es verschwindet jene kritische Grundhaltung zu aktuellen Zeitumständen, allein aus der heraus ein Gesellschafts- oder Politikwissenschaftler wirklich nützlich sein kann. An die Stelle handlungsleitender kritischer Theorie tritt systemaffirmatives Salbadern. Die Freude am sachlichen Streit unter Kollegen wird überwuchert von Diffamierungen, die oft genug aus Neid oder Opportunismus erwachsen. Und am Ende verachtet man einander. Im Journalismus wird es da wohl nicht anders zugegangen sein als an gesellschaftswissenschaftlichen Fakultäten.
Sie haben ein neues Buch geschrieben, es trägt den Titel „Deutschlands blaues Wunder“. Darin analysieren Sie, welche Ereignisse zum Aufstieg der AfD geführt haben, und gehen im Detail auf die Begriffe radikal, rechts, extremistisch und populistisch ein. Welche Begriffe, die im Zusammenhang mit der AfD verwendet werden, sind Ihrer Meinung nach zutreffend?
Diese Frage setzt den zweiten vor den ersten Gedankenschritt. Die Ausgangsfrage muss lauten: Was wären denn gegenstandserhellende, klare, auch systematisch aufeinander beziehbare Begriffe von Populismus, Radikalismus oder Extremismus, auch von rechts, links und „mittig“? Anschließend kann man klären, welche Teile der AfD zu welchen Entwicklungszeiten dieser Partei unter welche dieser Begriffe fallen.
Wie lautet die Antwort?
Die AfD ist keine homogene Partei. Sie hat sich auch im Lauf der Zeit stark verändert – und wird sich wohl weiterhin ändern. Die Begriffe aber müssen stabil bleiben, um solchen Wandel sichtbar machen zu können. Ich habe sie in meinem Buch deshalb sehr systematisch eingeführt. Angewendet auf die AfD zeigen sie: Die AfD ist flächendeckend eine populistische Partei, die weder links noch mittig sein will; in vielen Bereichen und bei vielen Gelegenheiten treten ihre Mitglieder und Anhänger radikal auf; und sie hat auch etliche Extremisten angezogen, die mit unserer bestehenden freiheitlichen demokratischen Grundordnung nichts anfangen können. In meinem Buch über „Deutschland blaues Wunder“ kann man nachlesen, gestützt worauf ich zu dieser Beurteilung komme.
Dieser differenzierte Umgang mit unterschiedlichen Bezeichnungen und Zuschreibungen misslingt in der gesellschaftlichen Debatte immer häufiger, wenn mit Nazi-Vergleichen um sich geworfen wird. Oder täusche ich mich?
Sie haben recht. Tatsächlich ist, wie von Carl Schmitt einst formuliert, die Freund-Feind-Beziehung der Kern von Politik. Doch sehr wohl kann man den Streit zwischen Freund und Feind auch zivilisiert austragen, muss ihn also nicht so führen, als stünde das unbefleckt Gute gegen das Böse schlechthin. Zivilisiert zu streiten, macht vielmehr eine liberale, pluralistische Demokratie aus. Die setzen wir derzeit aufs Spiel – und durchaus nicht einfach nur von rechts!
Das Sie von einem Freund-Feind-Verhältnis sprechen: Auf den „Demos gegen Rechts“, zu denen seit einem Jahr aufgerufen wird, wird der Feind – die AfD und mittlerweile auch die CDU – zwar angesprochen. Viele Demonstranten äußern jedoch Sorge vor einem Zusammenbruch des demokratischen Systems. Halten Sie die Sorge für berechtigt? Oder ist das eher ein Ausdruck von Angst vor politischen Umbrüchen?
Ich weiß, dass manche Leute vor der AfD oder einem diktatorischen Umbruch wirklich Angst haben. Doch hinter den „Demos gegen rechts“ erkenne ich weniger Angst als vielmehr Freude an einem Gemeinschaftserlebnis, das außerdem leichte Siege verspricht – nämlich in der überwiegend positiven Berichterstattung über ein solches „Wehret den Anfängen“. Regelmäßig frage ich mich, wie viele von jenen Demonstranten auch unter den Bedingungen einer real aufziehenden Diktatur sich am „Aufstand der Anständigen“ beteiligen würden – und sei es auch nur beim Gespräch am Arbeitsplatz. Und wenn Regierungsparteien und Radikale von links sich – wie derzeit – gar noch gegen die Opposition verbünden, dann ist das für eine pluralistische Demokratie schon sehr merkwürdig.
Dann halten Sie Szenarien eines demokratischen Untergangs für übertrieben?
Ja. Weder leben wir in Weimarer Zeiten noch in der Spätphase der DDR.