Was, wenn die AfD im Osten stärkste Partei wird?
Wer nicht hören will, muss fühlen. Das bewahrheitet sich wieder einmal auf dem heißen Boden deutscher Parteipolitik. In Brandenburg, Sachsen und Thüringen gewinnt nun ausgerechnet die allseits ausgegrenzte AfD bei der demoskopischen „Sonntagsfrage“, und zwar ziemlich stabil. Deshalb macht sich kein Realist mehr große Hoffnungen, noch mehr „Kampf gegen rechts“ könne die wirklichen Wahlergebnisse sehr anders ausfallen lassen. Und dass die AfD noch rasch vom Verfassungsgericht verboten würde, ist im deutschen Rechtsstaat sowohl wegen der Verfahrensabläufe als aufgrund unserer demokratischen Spielregeln unmöglich.
Wie also mag es weitergehen, wenn in den ostdeutschen Ländern die AfD am Wahlabend wirklich vorne liegen sollte? Lassen wir Empörungsquatsch beiseite wie das Gerede vom politisch zurückgebliebenen Dunkeldeutschland. Verzichten wir auch auf Krokodilstränen über eine Demokratie, die durch freie Wahlen zur Verliererin geworden sei. Bedenken wir besser das, was machtpolitisch ansteht.
Keineswegs wird es zu Koalitionen zwischen CDU und AfD kommen. Erstens überlebte im dann zu erwartenden medialen Sperrfeuer kein CDU-Politiker einen solchen Versuch. Immerhin bräche er Hunderte von heiligen Eiden, mit denen seine Partei solchen Bündnissen abgeschworen hat. Zweitens verachten AfDler keine Partei mehr als die CDU. Die Grünen nimmt man dort wenigstens als ideologische Feindestruppe ernst; doch die CDU gilt der AfD schlicht als Haufen prinzipienloser Opportunisten. Dem zur Regierungsmacht zu verhelfen, gar ohne selbst den Chef der Staatskanzlei zu stellen, liefe außerdem auf politische Selbstverstümmelung hinaus.
Viel größere politische Rendite bringen der AfD zwei Alternativen. Entweder wird es eine Art von All-Parteien-Koalitionen gegen die AfD geben, wohl unter dem Feldzeichen einer „Solidarität der Demokraten“. Als Teil eines solchen Bündnisses, das seinen Schwerpunkt zwangsläufig links der Mitte hat, lässt sich die CDU dann überaus wirkungsvoll von rechts her bekämpfen. Zerfiele aber eine solche Anti-AfD-Koalition während der langen fünf Jahre, die sie überstehen müsste, dann wird am nächsten Wahltag dafür vor allem die CDU bezahlen – und zwar aufs Konto der von ihr durch ein Linksbündnis ausgegrenzten AfD.
Wo sich aber keine Anti-AfD-Koalition schmieden lässt, weil die CDU vor einem zur parlamentarischen Mehrheitsbildung erforderlichen Bündnis mit der Linken vielleicht doch zurückschreckt, dort wird das Thüringer Beispiel Schule machen. Irgendeine Partei wird nämlich eine die Landtagsmehrheit verfehlende Koalition schon an die Regierung bringen, falls sich nur auf diese Weise die AfD von der Regierungsmacht fernhalten lässt. Auf Gegnerschaft gegründete Minderheitsregierungen sind aber – wie sich in Thüringen zeigt – sehr stabil, weil zu ihrem Sturz nur ein konstruktives Misstrauensvotum führen kann, d.h. ein anderes politisches Bündnis. Ein solches gäbe es allerdings nur unter Einschluss jener AfD, die von der Macht fernzuhalten genau der Zweck einer solchen Minderheitsregierung ist.
Könnte die CDU eine solche Minderheitsregierung alleine anführen, dann gäbe es immerhin eine gewisse Chance für sie, durch eine Rückkehr zu früher populären Positionen solche Wähler erneut an sich zu binden, die zuvor nicht mehr zur Wahl gingen oder zur AfD abgewandert sind. Doch stark genug für eine alleinige CDU-Minderheitsregierung ist die Union im Osten nirgendwo mehr. Als Partner einer links-grünen Minderheitsregierung, oder durch deren Tolerierung, vertreibt die Union dann aber noch mehr Wähler zur AfD als bislang schon.
Verderben kann die AfD ihre so stark gewordene strategische Stellung nur noch selbst. Nazistische Töne können sie jederzeit um ihren Vorsprung bringen. Dauerhaft ausbleibende Kompetenz bei der Erarbeitung von tragfähigen Lösungen für jene Probleme, deren Schwären große Wähleranteile von den sie verursachenden Parteien abrücken ließ, kann Wahlsiege rasch zerrinnen lassen. Und mangelnde Geduld beim Ertragen von Geschäftsordnungstricks, mit denen AfD-Abgeordnete wohl auch weiterhin von Parlamentsämtern ferngehalten werden, mag jene Nachsicht rasch enden lassen, die von Unfairness bewirkt wird.
Bestürzende Kurzsichtigkeit politischer Besserwisser hat diese Lage herbeigeführt. Als ihr absehbares Eintreten sich noch hätte abwenden lassen, nämlich zwischen 2014 und 2016, wollten die meisten im Lande keinesfalls hören, dass nicht nur Rassisten und Faschisten zu ernsthaft besorgten Bürgern würden, wenn sie auf Deutschlands Zukunft als fahrlässiges Einwanderungsland blickten. Noch weniger wollte man in den Folgejahren hören, dass die AfD gerade dann nicht verschwinden werde, wenn die etablierten Parteien die Sorgen von deren Wählern für unbeachtlich oder böswillig erklärten, sie also gerade nicht selbst aufgriffen. Und schon gar nicht wollte man hören, dass es unserer Demokratie mehr schaden als nützen würde, wenn die Union ihren einstigen, nun mit der AfD sympathisierenden Wählern lieber mit rhetorischen Fußtritten käme als mit einem Versuch, Resthoffnungen auf eine Wiederkehr der einst vernünftigen CDU zu bestärken.
Geschenkt, dass Linke, Sozialdemokraten, Grüne und die Mehrzahl von Deutschlands Journalisten die Union jahrelang zu solchen Torheiten trieben, ja diese sogar als höhere politische Weisheit ausgaben. Geschenkt auch, dass die Merkelianer in der CDU derlei Dummheiten für besonders klug hielten und recht hoffnungsfroh begingen. Wäre es aber nicht allmählich Zeit für eine realistische Bewertung des Versuchten? Doch das ist wohl zu viel verlangt von einer Politikerschaft, die auch erst Russlands Einmarsch in die Ukraine brauchte, um auf einem anderen wichtigen Politikfeld ihre zu korrigierenden Irrtümer einzusehen …
PS: Jene unser Land schädigenden Dummheiten, welche beim Umgang mit der AfD begangen wurden, finden sich beschrieben in meinem Buch „CDU, AfD und die politische Torheit“ (Dresden 2019: Weltbuch). Es bietet eine sehr vollständige Sammlung meiner einschlägigen Blog- und Zeitungsbeiträge seit 2014.