Sieg und Debakel mit Ansage

Sieg und Debakel mit Ansage

I. Der Gesamtbefund

Das Ergebnis des gestrigen Wahlsonntags ist klar: Die SPD und die Grünen als ihr Wunschkoalitionspartner haben gewonnen, die Unionsparteien hingegen verloren. Zugleich sind Sieg und Niederlage keineswegs spiegelbildlich. SPD und Grüne haben nämlich bloß schwach gewonnen, die Unionsparteien hingegen demütigend verloren.

Königsmacher ist nun wieder, wie schon oft in früheren Zeiten, die FDP: Mit wem sie koaliert, der wird Kanzler. Klugerweise wird die FDP, am besten wohl informell, erst einmal mit den Grünen erkunden, was beide Parteien gemeinsam wollen; und dann wird man den Zuschlag demjenigen geben, der dieser jetzigen Machtmitte unseres Parteiensystems am meisten bietet – und ihr vielleicht auch das freundlichste Gesicht zeigt. 

Die Linke hat jenes Vertrauenskapital weitestgehend aufgezehrt, das ihr einst die PDS einbrachte; also wird sie den Weg jeder linken Splitterpartei gehen: Sie wächst, wenn die Sozialdemokraten in der Mitte regieren, und sie schrumpft, wenn sich die SPD ihrerseits linke Sehnsüchte zu eigen macht. 

Am unangenehmsten für die Union sind – wie immer schon – die Wahlergebnisse der AfD. Vor allem – doch nicht nur – im Osten hat die sich als eine sehr ins Gewicht fallende Partei rechts der Union durchgesetzt. Und in ganz Deutschland kann die AfD nun wohl dauerhaft auf so viel an Stammwählerschaft zählen, dass ihre Gleichsetzung mit bloßem Protestgehabe den etablierten Parteien schlicht in die Tasche lügt. 

Falls es ein Plan linker Unionsgegner gegeben haben sollte, CDU und CSU zunächst so weit nach links zu locken, dass ihre rechten Wähler sich einer neuen Partei zuwenden, um dann die Union zu einer so scharfen Abgrenzung von ihren früheren Positionen zu zwingen, dass sie strukturell mehrheitsunfähig wird: Dann wäre dieser Plan voll aufgegangen. Doch vermutlich hat es einen solchen Plan nie gegeben, sondern ist die Union einfach ihren Illusionen über die nachhaltige Tragfähigkeit des unter ihrer Vorsitzenden Merkel eingeschlagenen Kurses zum Opfer gefallen. 

Die jahrelangen schmeichlnden Umfragewerte für die CDU galten nämlich nie dieser Partei selbst, sondern allein der langjährigen Vorsitzenden und Kanzlerin. Die aber wurde zur unangefochtenen Sympathieträgerin dadurch, dass sie ihre Politik stets an den Umschwüngen der öffentlichen Meinung ausrichtete sowie – durch die Pflege eines guten Verhältnisse zu jenen Spitzenjournalistinnen und Spitzenjournalisten, welche ihrerseits die öffentliche Meinung mitprägen – verlässlich dafür sorgte, dass sie selbst ins bestmögliche Licht gerückt wurde. Doch als, seit dem beginnenden Ende der Merkel-Zeit, sich die öffentlich bekundeten Sympathien der medial-politischen Klasse wieder ungestört auf die Grünen, dann auf die SPD ausrichteten, wurde die Union als eine ziemlich unzulängliche Kopie von Sozialdemokraten und Grünen erkennbar. Deren früheren Kerninhalte zu vertreten, machte nämlich in den Reihen der Union lange schon zur unerwünschten Person und blieb deshalb für die Gesamtlinie der Unionsparteien folgenlos.

II. Wählerwanderungen und Wählerbindungdn

Man versteht das am Wahltag Geschehene vor allem dann, wenn man es im Zeitfenster jener Prozesse betrachtet, die zu ihm führten. Kurzfristig sind das die Wählerwanderungen. Deren Analyse zeigt: 

  • Von ihren Wählern hat die Union seit der letzten Bundestagswahl knapp zwei Millionen an die SPD und gut eine Million an die Grünen verloren, ferner 1,3 Millionen an die FDP und eine Million an die Nichtwähler. Zur AfD wanderten rund 400.000 ab. Am besten wird man das wohl dahingehend zusammenfassen, dass die Union ihre durch Sozialdemokratisierung und Vergrünung angezogene Laufkundschaft wieder an SPD und Grüne verlor, ihre einstige Stammwählerschaft aber erneut nicht halten konnte.
  • Die SPD gewann knapp zwei Millionen Wähler von der Union und knapp 1,3 Millionen von den Nichtwählern, ferner gut 800.000 von der Linken, 700.000 von den Grünen und 520.000 von der FDP. Dass die SPD diesmal auch 420.000 frühere AfD-Wähler anzog, wirft erneut die Frage auf, ob die AfD denn wirklich eine Partei allein von Rassisten und Faschisten ist.
  • Die Grünen gewannen eine gute Million Stimmen von der Union, knapp eine Million von der SPD, gut 600.000 von der Linken und eine gute halbe Million aus den Reihen früherer Nichtwähler. Sie haben – auch durch die zentrale Platzierung des Klimathemas durch den größten Teil der Politiker- und Journalistenschaft – in ganz besonderer Weise das vorherrschende Zeitgefühl angesprochen.
  • Die FDP gewann 1,3 Million Stimmen von der Union, knapp eine halbe Million von den bisherigen Nichtwählern, deutlich unter 200.000 von Linken (!) und Grünen, sowie 340.000 von der SPD und 380.000 von der AfD. Letzteres legt einmal mehr die Frage nahe, ob man das Aufkommen und die Verfestigung der AfD wohl wirklich am wirklichkeitsnächsten als Aufkommen von Neonazismus versteht. Im Übrigen erkennt man, wie sehr die FDP als vielseitig zum Austarieren genutztes Gegengewicht zu Union, SPD und Grünen dient.
  • Die AfD verlor gut 800.000 Stimmen an die Nichtwähler. Sie hat offensichtlich viele Hoffnungen enttäuscht. Ansonsten verlor sie ziemlich ausgewogen an die Union (490.000) und an die SPD (420.000), ferner 380.000 ihrer früheren Wähler an die FDP und jeweils deutlich unter 100.000 an die Grünen (80.000) und die Linke (70.000). 

Erneut wird klar, wie fehlerhaft die Einschätzung der unser Parteiensystem so tiefgreifend verändernden AfD als einer Partei allein von Rechtsradikalen gewesen ist. Auf sie wurde allerdings die – offensichtlich gerade nicht erfolgreiche – „Anti-AfD-Strategie“ aller anderen Parteien sowie von Zivilgesellschaft und Medien gegründet. Ob das jetzt endlich begriffen wird und man zu einer wirkungsvolleren Strategie im Umgang mit der AfD findet, steht freilich in den Sternen. 

Anonsten versteht man diese aktuellen Wählerwanderungen am besten im Zusammenhang mit den langfristigen Veränderungen des Wahlverhaltens. Die lassen sich so umreißen:

  • Beide Unionsparteien haben – und zwar zum fortgesetzten Mal – die schlechtesten Ergebnisse ihrer Geschichte bei Bundestagswahlen erzielt. Das macht jede Analyse oberflächlich, die nur auf kurzfristige Einflüsse wie den Spitzenkandidaten und dessen Auswahlprozess blickt. Eine viel größere Rolle spielt, dass die Union durch ihre Aneignung vieler sozialdemokratischer und grüner Positionen diese bis weit hinein in die rechte Mitte als nicht weiter problematisch, ja sogar als alternativlos zukunftsträchtig erscheinen ließ. Deshalb stimmten nun sehr viele Wähler lieber für das sozialdemokratische und grüne Original als für dessen Unionskopie. Obendrein hat die CDU im Osten nun endgültig einen Großteil ihrer früheren Wähler zur AfD hin vertrieben. Das zeigt der Blick nicht nur auf die Wahlgeographie Sachsens, Thüringens, Mecklenburg-Vorpommerns und Brandenburgs.
  • Die SPD hat sich die von Angela Merkel zur Union hinübergezogenen Wähler zurückgeholt. Das gelang einesteils durch das Fehlen Angela Merkels im Unionswahlkampf, andernteils durch die rasch verblassende Anziehungskraft der Kanzlerkandidatin der Grünen. Von ihrer früheren Stärke zu den Zeiten Schröders, Schmidts und Brandts ist die SPD aber weit entfernt – vor allem, weil sie seit langem die Stimmen aus der linken politischen Mitte mit den Grünen teilen muss. Also wird sich an der Aufsplitterung unseres Parteiensystems links der Mitte nichts mehr ändern. Ihre dortige Schwäche wird für die SPD im Grunde nur erträglicher gemacht durch die fortan auch nicht mehr zu beseitigende Aufsplitterung des Parteiensystems rechts der Mitte, was dauerhaft die Union schwächen wird.
  • Die FDP war und bleibt eine Funktionspartei und riskiert ihre parlamentarische Existenz immer dann, wenn die von ihr gerade erfüllte Funktion nicht den politischen Umschichtungswünschen der Wählerschaft entspricht. Das macht ihr diesmal die Rolle bei der Regierungsbildung besonders schwer. Wenn sie nämlich nicht mit der SPD koaliert, zieht sie den Zorn jener knappen Bevölkerungshälfte auf sich, die – als Wählerschaft von SPD, Grünen und Linken – einen Kurswechsel wünscht; koaliert sie aber nicht mit der Union, so verscheucht sie ein Viertel jener Wähler, die sie soeben von dort an sich gezogen hat.
  • Die AfD hat die aufgrund der Politik Angela Merkels aufgerissene Repräsentationslücke rechts der Union gefüllt und sich in ihr dauerhaft festgesetzt. Sollte sie ihren innerparteilichen Streit dahingehend beilegen, dass sie sich künftig ohne Zweifel an ihrer Verfassungstreue ins deutsche Parteiensystem einordnet, so vermöchte sie zweierlei zu erreichen: Sie könnte die Union in den neuen Bundesländern dauerhaft marginalisieren – und sie in den alten Bundesländern zu einer Partei machen, die stets zum eigenen Nachteil mit SPD oder Grünen koalieren muss, und zwar so lange wie sie nicht, wie vielleicht eines Tages, zum machtpolitisch sehr heruntergekommenen Partner der AfD werden will. Es ist freilich noch ganz unklar, ob die AfD die strategischen Chancen eines solchen Normalisierungskurses begreift – und erst recht, ob es in absehbarer Zeit eine AfD-Führung geben wird, die einen solchen Kurs innerparteilich durchsetzen könnte.

III. Konsequenzen

Die Union hat es nach ihren vielen Wahlniederlagen der letzten Jahre stets vermieden, eine tatsachengetreue Analyse ihres Niedergangs zu versuchen. Also konnte sie auch keine für sie hilfreichen Konsequenzen aus deren Ergebnissen ziehen. Über allem stand das Gebot, Loyalität zu jener Kanzlerin zu üben, deren Politik die zentrale Ursache für die derzeitige schlechte Lage der Union ist. Es ist nicht zu erwarten, dass die Nachwirkungen solcher Willfährigkeit seitens von Unionsfunktionären und Parteivolk rasch abklingen. Vor allem wird es keine Kurskorrektur der Union geben, falls es ihr gelingt, eine Koalition mit Grünen und FDP zu schmieden. Misslingt ihr das aber, so wird ein Großteil der Partei sich wohl mit der Erklärung begnügen, man habe eben auf den falschen Kanzlerkandidaten gesetzt. Belässt man es freilich bei dieser oberflächlichen Einschätzung, dann geht der Niedergang der Union weiter. Lediglich die CSU hofft, aus der Opposition gegen die kommende, SPD-geführte Bundesregierung Kapital für die nächste, wirklich schicksalhafte bayerische Landtagswahl zu schlagen.

Bei der SPD wird viel davon abhängen, ob sie Olaf Scholz als Kanzler ebenso desavouieren und zum Aufgeben zwingen wird, wie das ihrer Parteilinken einst mit Helmut Schmidt gelang. Zwar beschwieg sie im Wahlkampf eisern, dass sie Olaf Scholz – da „zu rechts“ – um keinen Preis als Parteivorsitzenden wollte. Doch sobald es ums Regieren geht, entfällt jeder Grund, die errungene Macht nicht für eine klar linkere SPD-Politik nutzen zu wollen.

Die Grünen werden vor die Aufgabe gestellt sein, in der kommenden Koalition ihren fraglos erfolgreichen „Realo-Flügel“ weiterhin stark zu halten. Das kann im gleichen Umfang gelingen, wie Robert Habeck die innerparteiliche Debatte zu moderieren und auf einem plausiblen Kurs zu halten vermag.

Die FDP wird sich in jeder Koalition aus den schon erläuterten Gründen schwer tun. Wer immer mit ihr koaliert – ohnehin die Grünen, vermutlich die SPD, und unter besonderen Umständen trotz ihrer Niederlage vielleicht doch noch die Union – wird gut beraten sein, möglichst viel an liberaler Ordnungs- und Wirtschaftspolitik in der kommenden Bundesregierung zuzulassen.

Die Linke muss entscheiden, ob sie den Weg zur Rolle einer Splitterpartei weitergehen will. Ideal für Deutschland wäre es, wenn sie die Wiedervereinigung mit der SPD suchte.

Die AfD steht ebenso vor einer Weichenstellung: Will sie ihren Kurs als Anti-Establishment-Partei bzw. gar Anti-System-Partei fortsetzen, bei dem sie ihr Wählerpotential inzwischen ausgeschöpft hat und ohne jede unmittelbare Machtperspektive bleibt, oder will sie anstreben, nicht nur dauerhaft ihren Platz rechts neben der Union zu verteidigen, sondern sich eines Tages auch als Koalitionspartner zu qualifizieren. Das Ringen um diese Entscheidung kann die AfD allerdings in eine jener Existenzkrisen treiben, welche die FDP nun schon mehrfach zu überstehen hatte.

Die besten Folgen hat das Wahlergebnis vom letzten Sonntag für unser parlamentarisches Regierungssystem: Es wird endlich wieder einmal vor Augen geführt, dass die politische Macht vom Parlament auszugehen hat – und nicht von einem quasi-plebiszitär bestimmten Bundeskanzler, der sich anschießend ans „Durchregieren“ macht. Es wäre schön, wenn der nächste Deutsche Bundestag sich in genau diesem Sinn als machtverleihendes Parlament verhielte – und nicht, wie in der Vergangenheit mit übergroßen Merkel-Mehrheiten, als gefolgschaftswilliger Abnickapparat.

Im Übrigen gälte es das Wahlrecht nach baden-württembergischen Vorbild zu ändern. Dieses verbindet in ihren Wahlkreisen direkt gewählte Abgeordnete mit einer Porportionalität der Sitzzahlen insgesamt; und dank des Fehlens von schon vorab den Direktmandaten zur Seite gestellten Listenmandaten sorgte es für einen deutlich kleineren Bundestag – und zwar ohne jede Verkleinerung der Wahlkreise. Doch das ist ein Thema für spätere Analysen.

Diese Website nutzt Cookies. Bei Weiternutzung dieser Seite, erklärenden Sie sich mit der Nutzung von Cookies einverstanden.