Der nicht stattfindende Wahlkampf
Ursprünglich erschienen am 1. August 2021 auf „Hallo Meinung“
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Eigentlich könnten Wahlkämpfe mehr sein als das routinemäßige Plakatieren oder Präsenzzeigen an Wahlkampfständen. Gewiss ist das Technische am Wahlkampf auch wichtig. Man muss wirklich ein Leitmotiv der Kampagne formulieren, die Gestaltungsidee der Plakate und Werbeclips erarbeiten, Flyer verteilen und Plakate aufhängen sowie einladende Bilder bei Wahlkampfauftritten inszenieren. Doch das alles sollte nur Mittel zum Zweck sein. Der erschöpft sich allerdings nicht im Erzielen möglichst vieler Stimmen für eine wahlkampfführende Partei. Das erkennt leicht, wer Wahlkämpfe aus der Warte unserer Demokratie betrachtet. Dann nämlich erweisen sich auch Stimmengewinne für eine Partei nur als ein Mittel zum Zweck. Der aber besteht in nichts anderem als darin, dass den Wählern eine wirkungsvolle Gelegenheit geboten wird, Richtungsentscheidungen zu treffen. Also Entscheidungen für oder gegen ein angebotenes Politikziel, für oder gegen eine in Aussicht gestellte Politik, für oder gegen Parteien oder Kandidaten, die für ein bestimmtes Politikziel oder für genau diese – und keine anderen – politischen Mittel stehen.
Damit dieser Zweck erfüllt werden kann, braucht es allerdings das Angebot von Alternativen. Ein Wahlkampf, in dem etwa sämtliche Konkurrenten in Aussicht stellen, sie wollten den Frieden sichern, ist offensichtlich recht inhaltsleer im Vergleich zu einem Wahlkampf, in dem die Konkurrenten verschiedene Wege zu diesem Ziel anbieten, unter denen dann die Bürgerschaft auswählen kann. Und ein Wahlkampf, in dem alle Parteien versprechen, sie wollten den Klimawandel verlangsamen, ist viel weniger gehaltvoll als ein solcher, in dem klar verschiedene Strategien für die Erreichung des Ziels zur Auswahl gestellt werden.
Nun kann man sich ja darüber freuen, wenn alle Konkurrenten für den Frieden sind und alle Parteien möglichst keinen Klimawandel wollen. Das ist gewiss besser, als wenn erst die Wählerschaft klarstellen müsste, dass sie sich Frieden und eine gewisse Stabilität unserer Umweltbedingungen wünscht. Doch führt wirklich ein jeder Weg, den man für friedenssichernd hält, am Ende zum Frieden? Da hat das Vereinigte Königreich mit seiner Appeasement-Politik einst sehr andere Erfahrungen gemacht. Und führt eine Maßnahme, die – weltweit rasch durchgeführt – durchaus das Erdklima stabilisieren könnte, zum gleichen Effekt, wenn sie nur in einem vergleichsweise kleinen Land durchgeführt wird, dort aber beträchtliche Begleitschäden anrichtet? Darüber lohnt ein öffentlicher Streit.
Doch zu welchen Streitthemen laden uns die wahlkampfführenden Parteien bislang ein? Darüber, ob Annalena Baerbock wirklich eine bestmögliche Kanzlerkandidatin ist. Darüber, ob sich Armin Laschet moralisch für die Kanzlerschaft disqualifiziert hat, seit er bei einer Rede des Bundespräsidenten vor Flutopfern lachte. Oder ob der SPD-Kanzlerkandidat Scholz nicht fahrlässig illegale Cum-ex-Geschäfte ermöglichte. Doch welche anderen tatsächlich diskutierten Wahlkampfthemen fallen wohl solchen Leuten ein, die nicht fleißig politische Sendungen sehen oder hören? Hat aber ein Wahlkampf nicht auch die Aufgabe, diese Leute mit politischen Inhalten zu erreichen? Und mangelt es denn wirklich an Sachthemen, auf deren politische Handhabung in einer repräsentativen Demokratie die Bevölkerung durch ihre Wahlstimmen schon Einfluss nehmen sollte – weshalb es wichtig wäre, sie im Wahlkampf stimmenwirksam zu erörtern? Etwa so, wie einst Helmut Kohl im Ringen mit Hans-Jochen Vogel die NATO-Nachrüstung!
Gewiss mangelt es auch derzeit nicht an Entscheidungsaufgaben, denen sich die nächste Bundesregierung stellen muss. Welche konkreten Maßnahmen der Klima- und Energiepolitik sollten denn – unter Berücksichtigung welcher Nebeneffekte – tatsächlich ergriffen werden? Wie sichern wir eine stabile und ohne große Wettbewerbsnachteile finanzierbare Energieversorgung, wenn wir gleichzeitig aus Kohle- und Kernenergie aussteigen, den Ausbau der Möglichkeiten zur Erzeugung und Speicherung erneuerbarer Energien stocken lassen und zugleich unseren Energiebedarf durch weitere Digitalisierung, den Übergang zur E-Mobilität und durch den Einstieg in die energieaufwendige Wasserstoffwirtschaft erhöhen? Wie soll es mit einer Europäischen Union weitergehen, die von der deutschen Regierung verlangt, in die Unabhängigkeit des Bundesverfassungsgerichts einzugreifen, wenn dieses über die Vereinbarkeit von deutschem Verfassungsrecht und EU-Recht urteilt? Welche Politik soll unser Land in einer EU betreiben, die – nach dem Vereinigten Königreich – demnächst auch Polen und Ungarn zu vergraulen droht und dadurch in Mittelosteuropa ein Machtvakuum herbeizuführen riskiert, dem einmischungswillige Russen und Chinesen vermutlich gerne abhelfen? Wie soll es mit unserer Zuwanderungs- und Integrationspolitik weitergehen? Soll weiterhin jeder zunächst einmal ins Land kommen dürfen und dann in der Praxis nicht mehr abgeschoben werden können, und wollen wir es Sache allein der Zugewanderten sein lassen, ob sie sich in die länger schon im Land bestehende Gesellschaft integrieren oder Sonderkulturen in eigenen Wohngebieten aufbauen?
Mit diesen Fragen – und gewiss noch mit vielen mehr – muss sich die nächste Bundesregierung auseinandersetzen. Wäre es da wirklich ganz verkehrt, wenn gerade vor der kommenden Regierungsbildung und der die Karten mischenden Bundestagswahl unsere Parteien mit Sachargumenten, also auch ohne Verächtlichmachen des jeweiligen Gegners, in aller Öffentlichkeit darüber stritten, wie welche Partei welche Herausforderung sieht, ob sie in ihr ein der Lösung bedürfendes Problem erkennt oder eben gar kein Problem, und wie sie sich – gegebenenfalls – die Bewältigung jenes Problems vorstellt? Wäre jetzt nicht sogar ein Lagerwahlkampf angebracht? So dass einem von den wahlwerbenden Politikern gesagt würde, unter welchen – und wie wahrscheinlichen – Umständen eine Stimme für die Union zu einer Politik führt, wie sie von den Grünen verlangt wird? Und was die zu schaffenden Voraussetzungen dafür wären, dass eine Stimme für die Linke vielleicht doch noch die SPD vor dem weiteren Niedergang bewahrt sowie zur Ablösung der bislang alternativlosen Unionsherrschaft führt?
Erkennt man aber im jetzigen Wahlkampf solche Diskursanstrengungen der konkurrierenden Parteien? Und wenn nicht: Was lehrt uns das über unsere Parteien und deren Anführer? Und wem von uns fallen eigentlich noch andere Reaktionen ein, als mit den Schultern zu zucken und zu seufzen: So ist sie halt, die Politik! Doch wie könnte man hoffen, dass unsere Politikerschaft dem Wahlvolk mit Argumenten über sinnvolle Koalitionen kommt, wenn sie doch schon jene Debatten um Sachthemen nicht mag, deren Ergebnisse die Präferenz für die eine oder andere Koalition inhaltlich begründen könnten! Womöglich hat die einst für die Union so vorteilhafte „asymmetrische Demobilisierung“ das Verlangen nach einer fortan allseitigen inhaltlichenDemobilisierung geweckt, also nach dem Heraushalten aller Themen aus dem Wahlkampf, die in unbequeme Streitsituationen zu führen drohen. Dann aber kann sich der Wahlkampf tatsächlich aufs Technische beschränken, weil ernstgemeinte politische Debatten ohnehin niemand mehr erwartet oder sich gar zu führen traut. Denn man könnte ja „Beifall von der falschen Seite“ erhalten oder gar die Frage gestellt bekommen, wem es denn nutzen solle und wen man wohl „bedienen“ möchte, wenn man Themen anspricht, welche den Leuten wichtig sind, und die deshalb emotionalisieren. Und wehe, wenn die Antwort auf diese Frage ihrerseits eine Debatte auslöst! Denn die lässt sich nicht mehr vom Feld böswilliger Unterstellungen auf jenes der sachlichen Erörterungen zurückholen.
Erleben wir also wirklich den – vorauseilend beklagten – „schmutzigsten“ Wahlkampf der BRD-Geschichte? O heilige Einfalt! Vielmehr haben wir bislang den inhaltsleersten Wahlkampf bundesrepublikanischer Zeiten. Wenn sich das nicht spätestens Ende August, Anfang September ändert, dann ist gar nicht gut so. Zumindest nicht für die Leistungsfähigkeit und Legitimationskraft repräsentativer Demokratie. Um derentwillen führen wir aber Wahlkämpfe. Eigentlich. Und anscheinend wirklich nur „eigentlich“.