Der übergroße Bundestag
Unter dem Titel „Gedanken zum übergroßen Bundestag“ erschien am 4. Juli der nachstehende Text auf „Hallo Meinung“ (https://www.hallo-meinung.de/gedanken-zum-uebergrossen-bundestag/).
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Vermutlich wird auch der nächste Bundestag viel mehr Mitglieder haben als seine gesetzliche Abgeordnetenzahl von 598. Jetzt schon tagen unter der Reichstagskuppel 709 Parlamentarier. Das macht unsere Volksvertretung zu einer der weltweit zahlenstärksten. Sogar das Europäische Parlament hat derzeit weniger Abgeordnete, nämlich 705. Hingegen könnte der nächste Bundestag sogar um die 800 Mitglieder haben. Woher kommt eigentlich eine solche Aufblähung, und was ließe sich dagegen tun?
I.
Abgeordneten haben Wahlkreise zu betreuen. Das heißt: Sie sollen die dortigen Bürgermeister und Landräte gut kennen, auch die regionalen Unternehmen samt deren Problemen; sie sollen enge Kontakte mit der Zivilgesellschaft halten; und man wünscht den Leuten im Wahlkreis die Chance, ihre Abgeordneten auch persönlich zu treffen. Damit das gelingt, brauchen größere Länder größere Parlamente mit mehr Parlamentariern. Wenn nämlich bei zu wenigen Abgeordneten die Wahlkreise so groß werden, dass Fahrten zwischen den einzelnen Orten immer mehr Zeit verlangen, dann dünnen sich die Beziehungen zwischen Abgeordneten und Bevölkerung aus. Am Ende sind die Parlamentarier dann wirklich „abgehoben“ – weil sie nämlich gar keine Chance mehr haben, „nah bei de Leut“ zu sein, wie das einst ein populärer Ministerpräsident aus Rheinland-Pfalz formulierte.
Doch allzu große Parlamente zerfallen in Anführer und Fußvolk. Generale braucht es zwar, und es taugt auch nicht jeder zum Stabsoffizier. Aber riesige Parlamente wie der Nationale Volkskongress Chinas mit seinen 2980 Mitgliedern können gar nicht anders, als dass alles Wichtige in viel kleineren Kreisen geregelt wird, und man den Rest der Abgeordnetenschaft nur fallweise als Stimmvieh zusammenholt. Natürlich muss es im Parlament nicht zu einer so üblen Mehr-Klassen-Gesellschaft kommen. Doch stets sind Beratungen in einem Arbeitskreis von 80 Mitgliedern weniger ergiebig als solche in deutlich kleineren Gremien.
Gewiss braucht es im Parlament neben den obersten „Häuptlingen“ auch die sie unterstützenden „Indianer“, also die parlamentarischen Netzwerker und Sacharbeiter, und natürlich auch jene „Wahlkreisfürsten“, die am Sitz der Volksvertretung die Reihen als „Hinterbänkler“ auffüllen. „Einfache“ Abgeordnete, die es in großen Parlamenten unweigerlich gibt, können also sehr wertvolle Arbeit leisten, sowohl im Wahlkreis als auch im Parlament. Doch wirklicher Einfluss braucht nun einmal persönliche Kontakte. Die aber dünnen mit wachsender Parlamentsgröße zwischen „Hinterbänklern“ und „Alphatieren“ aus. Wer also keine Oligarchie will, der darf Parlamente nicht zu groß werden lassen.
Ohnehin sind manche Staaten zu ausgedehnt, als dass sogar ein riesiges Parlament eine dichte Wahlkreisbetreuung leisten könnte. Das vermögen die Abgeordneten weder in den USA noch in Kanada, Australien oder Indien. Diesem Mangel lässt sich aber durchaus abhelfen, indem man die Anzahl der Abgeordnetenmitarbeiter soweit erhöht, dass eben deshalb dichte Wahlkreispräsenz samt Arbeitsfähigkeit am Parlamentssitz möglich wird. Gerade der Kongress der USA macht vor, wie das gelingen kann. Doch in Deutschland verhindert diese Problemlösung der übliche Sozialneid samt weitverbreiteter parlamentsbezogener Ahnungslosigkeit. Dann sind die Abgeordneten zwar persönlich gut bezahlt, doch aus Mangel an möglicher Arbeitsteilung ziemlich wirkungslos bei der Parlamentsarbeit gegenüber der jeweiligen Fraktionsführung – oder gar der Regierung.
II.
Vor allem aber ließ den Deutschen Bundestag die bei uns allenthalben gehegte Vorstellung aufblähen, das Wichtigste am Parlament wären Sitzzahlen der Parteien, die zu ihren Stimmenanteilen bei der Wahl proportional sind. Bei 30 Prozent der Wählerstimmen für die Partei gar 40 Prozent der Parlamentssitze zu haben: Das gilt hierzulande vielen als einfach nicht hinnehmbar. Briten oder US-Amerikaner sehen das zwar nicht so, weil bei ihnen die Parlamentssitze seit jeher danach vergeben werden, ob ein Kandidat in seinem Wahlkreis mehr Stimmen als jeder andere Kandidat gewonnen hat. Das war im Deutschen Kaiserreich auch so. Doch seit der Revolution von 1918 wird anders empfunden. Deshalb wurde der Reichstag der Weimarer Republik sogar nach einem reinen Verhältniswahlrecht bestellt. Es gab also gar keine Wahlkreise, sondern die Abgeordneten waren voll und ganz von ihren Parteien abhängig. Die nämlich konnten einem Kandidaten einen aussichtsreichen Rangplatz auf der Parteiliste geben – oder taten das eben nicht.
In der Bundesrepublik Deutschland versuchte man es dann mit der Kombination beider Wahlrechtsformen. Bis heute ist das ganze Land in Wahlkreise unterteilt, in denen – wie zur Zeit des Kaiserreichs – stets der in den Bundestag gewählt ist, wer die meisten Stimmen erhielt (also: die meisten „Erststimmen“). Zugleich entfallen auf jede Partei gerade so viele Sitze, wie ihr proportional zum Stimmenanteil ihrer Wahlliste (also: proportional zu den auf sie entfallenen „Zweitstimmen“) zustehen. Zum „Listenabgeordneten“ wird also, wer auf der Parteiliste weit genug vorne platziert ist. Was aber geschieht, wenn eine Partei mehr Direktmandate erringt, als ihr im Verhältnis zu ihrem Stimmenanteil zustehen?
Dann durfte sie jahrzehntelang diese „Überhangmandate“ behalten. Das wurde solange als immer noch halbwegs fair hingenommen, wie es zu Deutschland im Wesentlichen zwei große Parteien und eine oder zwei kleine Parteien unter den folgenden Umständen gab: Die kleinen Parteien hatten keine Chancen auf die Erringung eines Direktmandats, und die Aussichten der großen Parteien – Union und SPD – auf die Erringung von Direktmandaten waren in etwa gleich groß. Solche ausgewogenen Chancen gab es solange, wie Union und SPD sich in Deutschland auf in etwa gleicher Höhe hielten – in manchen Regionen durch Unions-Vormacht, in anderen Regionen durch Dominanz der SPD.
Gerade solange funktionierte auch unser aus den frühen 1950er Jahren stammendes Wahlrecht. Doch seit der Wiedervereinigung büßten die Union und die SPD an Bindungskraft für die Wähler ein. Mit der SPD konkurrieren inzwischen zwei ihr inhaltlich nahestehende Parteien: die Grünen und die Linke. Die Union wurde ihrerseits durch das Aufkommen der AfD geschwächt. Doch es schrumpfte eben die SPD viel mehr als die Union. Umgekehrt wurden die ehedem kleinen Parteien Grüne, Linke und AfD in manchen Regionen so stark, dass sie dort durchaus Direktmandate erringen konnten. Unterm Strich hat aber die weiterhin stärkere Union die größeren Chancen auf besonders viele Direktmandate. Bei der einen oder anderen Bundestagswahl gaben sogar die der CDU zufallenden Überhangmandate den Ausschlag für die Fortsetzung ihrer Regierungsführung. Das galt verständlicherweise bald als unfair. Deshalb führten die politischen Gegner der Union im Jahr 2012 eine verfassungsgerichtliche Kappung dieses Unionsvorteils herbei. Bei den dadurch erzwungenen Wahlrechtsreformen setzten die kleineren Parteien einen vollständigen Ausgleich von Überhangmandaten durch, wie es ihn jahrzehntelang in Nordrhein-Westfalen gab. Das aber bläht den Bundestag unvermeidlich solange auf, wie unser Parteiensystem zersplittert ist und unser Zwei-Stimmen-Wahlrecht erhalten bleibt.
III.
Es werden aber die – bundesweit betrachtet – „kleineren Parteien“ FDP, Grüne, Linke und AfD nicht wieder verschwinden; und womöglich ist inzwischen auch die SPD zur „kleineren Partei“ geworden. Diese kleineren Parteien nehmen bei Direktkandidaturen einander freilich Stimmen weg, und zwar zugunsten der Union als einer Fast-noch-Volkspartei. Solange sich unter solchen Umständen nicht viel mehr Wählerinnen und Wähler als bislang zu einer Aufteilung von Kandidatenstimme und Listenstimme auf unterschiedliche Parteien entschließen, werden CDU und CSU weiterhin mehr Direktmandate erringen, als ihnen nach dem Stimmenproporz zustehen. Diese „Überhangmandate“ müssen inzwischen aber ausgeglichen werden. Das wiederum lässt den Bundestag unvermeidlich umso größer werden, je mehr Parteien in ihn gelangen.
Was kann man da tun? Man wird an einigen Stellschrauben drehen. Verändern lässt sich etwa die Größe der Wahlkreise, das Mischungsverhältnis von Direkt- und Listenabgeordneten, das Umrechnungsverfahren von Stimmen in Sitze. Doch klar muss man sich darüber sein, dass jede Veränderung an solchen Stellschrauben von den gesetzgebenden Parlamentariern daraufhin berechnet wird, wer von neuen Regeln besonders profitieren wird – und wie sich das verhindern lässt. Weil sich aber gewiss niemand nach einer Wahlrechtsreform viel schlechter stellen will, lässt sich eben vieles politisch-praktisch nicht umsetzen, was „rein theoretisch“ nicht bloß sinnvoll, sondern auch machbar wäre. Also wird es zu einer Wahlrechtsreform erst dann kommen, wenn – wie vermutlich der nächsten Wahlperiode – der parlamentarische Leidensdruck die politische Schmerzgrenze überschreitet, und wenn – hoffentlich bald – eine Neuregelung erkennbar wird, die den politischen Entscheidungsträgern halbwegs fair und plausibel erscheint.
Was also wirklich tun? – Wer sich selbständig mit den einzelnen Reformmöglichkeiten beschäftigen will, der kann das anhand von vielen höchst sachkundigen Artikeln unternehmen, die in den letzten Jahren in der „Zeitschrift für Parlamentsfragen“ erschienen sind. Die meisten davon sind jederzeit im Internet aufrufbar. Mir selbst scheint, dass wir unsere Wahlkreise keinesfalls vergrößern sollten, und dass sich vom Grundsatz der reinen Proportionalität nicht sinnvoll abweichen lässt. Entlang beider Vorab-Festlegungen hilft es dann beim Nachdenken weiter, wenn man erkundet, wie sich das Landtagswahlrecht von Baden-Württemberg auf der Bundesebene ausnehmen würde – nämlich so:
- Alle Wahlkreise bleiben bestehen und werden immer wieder so verändert, dass ihre Bevölkerungszahlen in etwa gleich groß sind.
- Wer in den Bundestag will, muss in einem Wahlkreis kandidieren, denn es gibt keine Parteilisten mehr.
- Also hat auch der Wähler nur noch eine einzige Stimme und muss nie wieder darüber nachdenken, mit welcher er den Wahlkreisabgeordneten und mit welcher er die Stärke einer Partei bestimmt.
- Die Sitzzahl einer Fraktion entspricht pro Bundesland den auf die Bewerber einer Partei insgesamt entfallenen Stimmen.
- Braucht es für solche Proportionalität mehr Abgeordnete, als es Wahlkreise gibt, so erhöht sich die Sitzzahl des Bundestags im dafür erforderlichen Umfang durch Zusatzmandate.
- Ins Parlament ist gewählt, wer in der Rangfolge persönlicher Stimmenzahlen so weit vorne liegt, dass er entweder seinen Wahlkreis gewonnen oder eines jener Mandate ergattert hat, die seine Partei aus Verhältnismäßigkeitsgründen zusätzlich erlangt.
- Erringt eine Partei in einem Bundesland mehr Wahlkreismandate, als ihr proportional zustehen, so behält sie diese. Diese Überhangmandate werden aber durch Ausgleichsmandate zur Sicherung bundesweiter Proportionalität parteipolitisch neutralisiert.
Weil die Ausgangsgröße zur Berechnung der Mandatszahlen der Parteien die 299 Bundestagswahlkreise sind, wird vermutlich auch ein solcher Bundestag deutlich kleiner sein als unser heutiges Parlament, der nicht nur aus den 299 Wahlkreisabgeordneten besteht, sondern obendrein Zusatz- und Ausgleichsmandate umfasst. Mir scheint deshalb: Mit einem solchen Wahlrecht wäre allen vernünftigen Interessen gedient.