Wahlergebnis Sachsen-Anhalt: Kurzanalyse
Ganz unerwartet gut hat bei der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt die CDU abgeschnitten (37,1%, +7,3). Linke und SPD erlitten mit 11,0% bzw. 8,4% sehr schmerzliche Verluste von -5,3 bzw. -2,2. Die AfD verlor ebenfalls 3,5 Prozentpunkte, blieb aber zweitstärkste Partei (20,8%), und zwar mit großem Abstand sowohl zur CDU (Differenz: 16,3%) als auch zur Linken (Differenz: 9,8%). Der Wiedereinzug der FDP (6,4%, +1,5) in den Landtag war hingegen keine Überraschung, weil diese Partei sich als akzeptable Alternative zur CDU anbietet. Und über das bescheidene Ergebnis der Grünen (5,9%, +0,7) kann sich nur wundern, wer ostdeutsche Problemwahrnehmungen verkennt sowie den medial verfertigten Vorglanz einer grünen Kanzlerschaft für etwas hielt, das einen harten Wahlkampf unbeschadet überstünde. Im Grunde sind nur die Ergebnisse von CDU, AfD sowie der Linken samt SPD erklärungsbedürftig.
Am meisten überrascht der große Stimmenzuwachs der Union. Lange erschien ein enges Rennen mit der AfD als wahrscheinlich, auch – wie 2016 – ein die Umfragebefunde weit übertreffendes Abschneiden der AfD. Ferner fehlt der Bundes-CDU weiterhin ein klares inhaltliches Profil. Außerdem galt sie als durch ihren so lange schwelenden Führungsstreit als beschädigt. Noch ist unklar, welche Rolle ein sehr kurzfristiger Stimmungsumschwung zugunsten der Union spielte. Doch eine plausible Erklärung des CDU-Erfolgs ist jetzt schon möglich.
Erstens vertraute das Wahlvolk sehr stark dem zum allseits geachteten Landesvater gewordenen Ministerpräsidenten Haseloff. Der bewies außerdem, dass „neue, unverbrauchte Gesichter“ kein wirklich erforderlicher Schlüssel zum Wahlerfolg sind. Vielmehr gewann ein „alter weißer Mann“, der an persönlicher Autorität alle übrigen Spitzenkandidaten überragte. Auch stand nie in Zweifel, dass er sein Amt behalten werde, zumal er sogar unter scharfen „Kenia-Kritikern“ als Garant des maximal Möglichen an „CDU-Vernunft“ galt. Zweitens gelang es den Konkurrenzparteien nicht, Haseloff und der Union eine Diskussion über die Abgrenzung zur AfD aufzudrängen. Durch die harte Entmachtung seines Erbprinzen Stahlknecht hatte der Ministerpräsident nämlich nicht nur durch Worte, sondern auch durch Taten klargemacht, dass es mit ihm wirklich kein Zusammenwirken mit der AfD geben werde. Drittens konnte diesmal, anders als 2016, kein AfD-förderliches Anti-Merkel-Wahlverhalten die CDU beschädigen: Es ging einfach nicht um die ohnehin nicht mehr lange amtierende Kanzlerin. Und viertens ließ die seit 2016 auch in Sachsen-Anhalt beobachtbare Rechtsradikalisierung von AfD-Politikern gerade angesichts der glaubhaft gemachten Möglichkeit, die AfD werde die CDU überholen, nicht nur Konservative ihr Wahlkreuz recht leichten Herzens bei der CDU setzen. Vielmehr gewann die CDU diesmal nicht nur – per Saldo – rund 37.000 Stimmen aus den Reihen früherer Nichtwähler hinzu, sondern auch rund 15.000 von der SPD sowie 14.000 von der Linken. Denen erschien jetzt die CDU als das kleinere Übel.
Bei der AfD sind weniger deren Stimmenverluste erklärungsbedürftig als vielmehr ihr weiterhin gutes Abschneiden. Immerhin hatten sich vor fünf Jahren Union, SPD und Grüne zu einer – aus CDU-Sicht: ziemlich unnatürlichen – Koalition zusammengeschlossen, um AfD-Wählern die völlige Aussichtslosigkeit ihres Wunsches vor Augen zu führen, in der Landespolitik AfD-Positionen zu berücksichtigt zu bekommen. Und eine Verzwergung der AfD hoffte man obendrein zu bewirken durch deren Schneiden im Landtag und ansonsten demonstrative Verachtung. Außerdem war die AfD-Geschichte der letzten Jahre voller Radikalismen und Skandale, was diese Partei nicht nur zum leichten Ziel plausibler Kritik machte, sondern auch zum geächteten Beobachtungsfall des Verfassungsschutzes. Unter solchen Umständen lassen sich AfD-Verluste von keinen vier Prozentpunkten bei mehr als einem Fünftel der Wählerstimmen schwerlich als ein großer Erfolg im „Kampf gegen rechts“ ausgeben. Verloren hat die AfD – per Saldo – vielmehr dorthin, woher ihre Wahlerfolge im Wesentlichen kamen: nämlich rund 16.000 Wähler an die CDU. Ferner verlor sie unterm Strich jeweils rund 2000 Stimmen an die Nichtwähler und an die SPD. Dass die AfD obendrein – wieder per Saldo – sogar 3000 Stimmen von früheren Wählern der Linken gewann, lässt im Übrigen Zweifel daran wachsen, ob wirklich immer nur Rechtsextremisten für die AfD votieren.
Jedenfalls breitet sich nun mancherlei Ahnung aus, dass an der bisherigen Anti-AfD-Strategie etliches fehlerhaft war. Immer öfter wird nun die Weisheit einer Beschimpfung aller AfD-Wähler bezweifelt, desgleichen der Wert eines Ausweichens etablierter Politiker vor wirklich inhaltlichen Debatten mit AfD-Politikern. Obendrein wird nun bedacht, ob es nicht doch möglich wäre, die Anziehungskraft der AfD auf zumal Unions- und Nichtwähler zu mindern. Jedenfalls ist es der CDU in Sachsen-Anhalt durchaus gelungen, eine merkliche Anzahl von AfD-Wählern zurückzugewinnen. Und wie auch immer es welche Partei künftig mit der AfD halten will: Es wird wohl in Rechnung zu stellen sein, dass die Wähler sogar unter sehr AfD-widrigen Umständen diese Partei fast so stark machten wie Linke, SPD und Grüne zusammen.
Ob nun aber die AfD die ihrerseits fälligen Schlüsse eher aus ihren Verlusten oder aus ihrem Erfolg ziehen wird? Denn warum verliert sie ausgerechnet in einem zwischen ihr und der Union polarisierten Wahlkampf so unübersehbar zugunsten einer CDU, die früher eine so leichte Beute war? Und das ausgerechnet in einem Land, in dem über 60% der Wähler offensichtlich keine links-grüne Politik wünschen? Welche Machtchancen vergibt sich also die AfD solange, wie sie eine rechtspopulistische Plattform auch rechtsradikaler Demagogen ist? Wie lange erträgt sie die Peinlichkeit, sich öffentlich einer ansonsten von ihr beschimpften Partei als Koalitions- oder Tolerierungspartner anzudienen – und dabei genau zu wissen, dass man sie aus guten Gründen zurückweisen wird? Welche inhaltlichen und stilistischen Korrekturen müsste die AfD wohl vornehmen, wenn sie nicht immer wieder das ihr jüngst von Haseloff bereitete Schicksal erleiden will? Und wie ließe sich auf entsprechende innerparteiliche Mehrheitsverhältnisse ausgehen? Antworten auf diese Fragen werden die AfD noch längere Zeit zu einer innerlich zerrissenen Partei machen, was demoskopisch und an Wahltagen ziemlich schaden kann.
Doch noch viel größer sind die politischen Herausforderungen, die das Magdeburger Wahlergebnis der Linken und der SPD stellt. Gemeinsam haben beide Parteien noch mehr Stimmenanteile verloren, als die CDU hinzugewonnen hat. Selbst zusammen mit den Grünen haben SPD und Linke weit weniger als die Hälfte jener Stimmen errungen, die insgesamt auf CDU, FDP und AfD entfallen sind. Ausgerechnet im Land des einstigen „Magdeburger Modells“ ist die politische Linke klar in die Minderheit geraten, ja hat sogar an die AfD Stimmen verloren. Obendrein befinden sich die Linke und die SPD bundesweit in einer ähnlich bedrängten Lage, weshalb sich Sachsen-Anhalt nicht als Sonderfall abtun lässt. Es wäre deshalb Zeit, strategisch über dieses ganze Schlammassel nachzudenken und die folgenden Fragen zu stellen. Hat man wohl einen Pyrrhus-Sieg errungen mit der öffentlichen und politischen Durchsetzung des Gebots, dass die CDU eine Partei nur noch der Mitte sein darf – und nicht mehr auch der Platzhirsch zwischen Mitte und rechtem Rand? So dass die Union nun das politische Weideland der vergangenen Schmidt- und Schröder-SPD besetzt hält? Und deshalb die so schwach gewordene SPD nun sowohl den Grünen als auch der Linken jede gemeinsame Machtperspektive nimmt?
Zwar muss die CDU, weil sie die AfD als Partner weder haben kann noch haben will, nun noch jahrelang die nicht mehr aus eigener Kraft an die Regierung gelangenden Sozialdemokraten und Grünen gleichsam im Huckepack an den Kabinettstisch tragen. Ob es das aber ausgerechnet aus linker Perspektive rechtfertigen kann, die AfD dauerhaft am rechten Flügel unangefochten sein zu lassen? Immerhin vermeidet man es um nachgerade jeden Preis, die CDU wieder in die rechte Mitte zu drängen, obwohl sie dort doch die AfD viel wirksamer kleinhalten könnte, als es der in Sachsen-Anhalt so deutlich gescheiterte rhetorisch-symbolische „Kampf gegen recht“ vermag. Und wenn nun – wie es den Anschein hat – Linke und SPD die verbliebene Arbeiterklasse samt den kleinen Leuten zur AfD treiben, weil sie selbst viel lieber die identitätspolitischen Sachwalter von Minderheiten sein wollen: Warum sollten dann jene „Somewheres“, die auf einen wirtschaftlich funktionierenden und gut zusammenhaltenden Sozialstaat angewiesen sind, weiterhin die politische Linke wählen? Und für Prestige- und Haltungslinke in großstädtischen Milieus hat es ohnehin viel mehr Chic, mit den Grünen zu flirten …
Sowohl der Linken als auch der AfD beschert das Wahlergebnis in Sachsen-Anhalt also erhebliche Herausforderungen, wenn auch höchst unterschiedliche. Doch auch die CDU sollte nicht glauben, sie wäre nun – wie weiland nach der Martin-Schulz-Niederlage im Saarland – schon auf dem sicheren Weg zu künftigen Wahlsiegen. Ihre inhaltlichen Orientierungsprobleme sind nämlich weiterhin ungelöst, und der faktisch bequeme Polarisierungskurs gegen die AfD wird auf Bundesebene nicht erfolgreich sein: Zu unbedeutend bleibt dort die AfD, als dass sie so einfach wie in Sachsen-Anhalt als mobilisierendes Schreckgespenst dienen könnte. Hingegen darf die FDP im Herbst auf solche frühere Unionswähler hoffen, die weder Wasserträgerdienste zum Nutzen der Grünen mögen noch für die AfD stimmen wollen. Und die Grünen müssen sich einfach mit Fassung darein schicken, dass nicht jeder schöne Schein die Härteprüfungen politischen Seins zu überstehen vermag.