Brexit-Betrachtungen, samt Lehren für Deutschland
Das (noch) Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland macht es vor, nämlich: wie man durch das Wuchernlassen von Unvernunft, selbstbezügliche Elitenspiele und um die eigenen Verfassungsinstitutionen unbesorgte Leichtfertigkeit ein Land in die Krise stürzt.
Da widersprach die einem Selbstverständnis als Weltmacht entsprungene Tradition der „splendid isolation“ während vieler Jahrzehnte sowohl der wachsenden Anziehungskraft von EWG und EG als auch den geopolitischen Plausibilitäten des Ost/West-Konflikts. Spannungen zwischen politischen Denk- und Gestaltungstraditionen und neuen Inhalten politischer Ratsamkeit kehren nun aber in der Geschichte so oft wieder, dass man aus den einschlägigen Fallbeispielen lernen könnte. Dabei zeigte sich: Ihnen begegnet man am besten mit vernunftgeleiteten Analysen, wohlbedachten Kompromissen und hartnäckiger politischer Führung. Oder man nutzt sie als Treibstoff selbstsüchtiger Profilierung, lässt die Dinge treiben – und riskiert so den Untergang der eigenen Partei oder den Niedergang des eigenen Landes.
Doch statt jenen Zielkonflikt um die Rolle des Vereinigten Königreichs im sich nach 1945 schrittweise einenden Europa gründlich zu durchdenken, ihn dann in den Reihen der politischen Klasse zu klären und anschließend mit empirisch haltbaren Argumenten befriedend in die Öffentlichkeit zu wirken, anstatt also durch vernunftgeleitete politische Führung die Gesellschaft zusammenzuhalten und das Land aus sackgassenartigen Debatten hinauszugeleiten, nutzten Tories und Labour Party diesen Konflikt jahrzehntelang zur inner- und zwischenparteilichen Profilierung. Sie ließen die von ihnen abwechselnd regierte Gesellschaft sogar dann noch bis in emotionale Tiefenschichten hinein gespalten, als die Politikerschaft das Vereinigte Königreich in die EG/EU hineingeführt hatte. Mehr noch: Immer wieder erlag ein Großteil von Britanniens politischer Klasse dem Versuch, das eigene Land als ausgebeutetes Opfer europäischer Fremdherrschaft hinzustellen – woraus dann viele Briten den Schluss zogen, diese Fremdherrschaft gelte es abzuschütteln.
In dieser verfahrenen Lage beschlossen politische Anführer, ihre eigene Verantwortung endlich abzuschütteln, und zwar in Form demokratischer Bauernfängerei: Man führte eine – anschließend demagogisch ausznutzbare – Volksabstimmung über den Brexit herbei. Unredlich war dieser Versuch schon darin, dass fest mit einer Mehrheit für den Verbleib in der EU gerechnet wurde, man also auf die Heilung politischer Führungs- und Erklärungsfehler durch willfährige Bürger zählte. Und nicht weniger unredlich waren viele Argumente, mit denen Brexit-Befürworter das von ihnen erwünschte Abstimmungsergebnis herbeimanipulierten – überwiegend in der Hoffnung, ihre Falschaussagen blieben folgenlos, weil das Land ja doch in der EU verbleibe und man die routinemäßig beherrschten Politikspielchen dann fortsetzen könne. Am Ende wollte die Bevölkerung des Vereinigten Königreichs mit knapper Mehrheit etwas Anderes, als – mit ebenso knapper Mehrheit – ihr Parlament wünschte.
Und so entstand ein politischer Belagerungszustand mit wechselndem Frontverlauf zwischen Rivalen, die sich sinnvoller Ziele ungewiss waren und deshalb auch in den eigenen Reihen kein Mannschaftsspiel zustande brachten. Auf diese Weise im schlechtesten aller politischen Normalzustände angelangt, kultivierte man theatralische Hoffnungen auf einen „deus ex machina“, also auf eine sich irgendwie von selbst anbietende Problemlösung. Die EU werde nachgeben wie so oft, wenn das Vereinigte Königreich auf Sonderwünschen beharrte. Britannien werde noch attraktiver für den Rest der Welt, falls es nur der Verfügungsmacht Brüsseler Eurokraten entzogen sei, und das mildere vielleicht eben doch nachteilige Folgen des Brexit. Das Nordirland-Problem tauche auch dann nicht wieder auf, wenn man seine im Rahmen der EU gefundene Lösung beseitige. Und falls man nur den richtigen Regierungschef habe, werde der schon jenen Weg aus dem Schlamassel finden, über dessen Existenz, Verlauf und Gangbarkeit es jahrzehntelang gerade keinen Konsens gab.
Und in der jüngsten Wendung dieses durch Verblendung, Selbstsucht und Leichtfertigkeit befeuerten Dramas werden gar noch zentrale Institutionen des Vereinigten Königreichs beschädigt. Das Parlament, Quelle politischer Macht seit Jahrhunderten, stört die Spielzüge des Premierministers; also ab mit ihm in den Urlaub, damit es nicht doch noch handlungsfähig werde! Die Königin, gemäß der Verfassungsdoktrin von „king in parliament“ Inhaberin der Souveränität gemeinsam mit dem Parlament, wird es doch zu demokratischen Zeiten nicht wagen, für die systemzerstörerischen Machtspiele eines Parteipolitikers mehr als nur eine Operettenfassade abzugeben? Und ja, es ist so gekommen in einem klassengesellschaftlich geprägten Land, das eben doch zu großen Teilen aus Untertanen folkloristisch verzwergter Royals und aus Komparsen der realen politischen Strippenzieher besteht. Ob wenigstens Britanniens spät eingeführte Quasi-Verfassungsgerichtsbarkeit diesen selbstverstümmelnden politischen Kurs aufzuhalten versucht?
Sie haben es seit Langem wirklich nicht leicht, die Engländer, Waliser, Schotten und Nordiren! Daumendrücken wird den üblen Gang dieses Dramas leider nicht aufhalten. Und Schadenfreude wäre ganz unangebracht. Nicht nur stimmt es traurig, einem so ruhmreichen und wichtigen europäischen Land beim Ruin seiner selbst zuzusehen. Sondern es ist auch höchst schädlich für die EU, dass deren – falls weiterhin mit ihr so leichtfertig umgegangen wird wie in den letzten Jahren – durchaus drohendes Auseinanderbrechen ausgerechnet mit der einstigen Vormacht von Liberalismus und Pragmatismus beginnt. Doch vor allem erscheint in Gestalt des britischen Politikdesasters jene Schrift an der Wand unseres eigenen politischen Diskursraums, die von ähnlichen Fehlern beim Umgang mit unseren deutschen politischen Herausforderungen kündet.[1] Nur der Inhalt unterscheidet sich, nicht aber die Torheit im Umgang mit ihm: Statt dem Brexit geht es bei uns um den Wandel Deutschlands zu einer multiethnischen und multikulturellen Migrationsgesellschaft sowie um den Umgang mit jenen im Land, die dergleichen gerade nicht wollen. Hoffentlich gilt nicht alsbald auch für uns: politisch angezählt, an staatsmännischer Klugheit für zu leicht befunden – und deshalb auf einem Weg, der das Erreichte zerstört.
[1] Siehe dazu im Alten Testament im Buch Daniel das Kapitel über das „Gastmahl des Belsazar“ sowie Heinrich Heines entsprechende Ballade.