„Demokratie“: Ost/West-Unterschiede
Nach den kommenden Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen wird bundesweit wieder großes Entsetzen über die Stimmenanteile der AfD ausbrechen, desgleichen über die Unfähigkeit „der Ostdeutschen“ zum „anständigen demokratischen Verhalten“. In dieser Lage wäre es hilfreich, grundlegende Ost/West-Unterschiede bei der Wahrnehmung bundesdeutscher Demokratie und ihres Zustands zu kennen. Als Hilfestellung dazu kann mein nachstehender kurzer Essay dienen, unlängst erschienen im von der Ludwig-Erhard-Stiftung herausgegebenen Sonderheft „Wohlstand für Alle – 70 Jahre Grundgesetz“. Zu ihm führt auch folgender Link: https://www.ludwig-erhard.de/erhard-aktuell/forum/sensibilitaet-in-deutschland-gegenueber-gefahren-fuer-die-demokratie/ .
—————————–
Manche Fragen lassen sich leichter stellen als beantworten. Das gilt auch für die nach einer besonderen Sensibilität für Demokratiegefahren in den neuen Bundesländern. Zu den Untiefen dieses Themas gehört vor allem, dass — einfach gesagt — weitverbreitete Demokratievorstellungen im Osten andere Maßstäbe umschließen als deren Gegenstücke im Westen.
Nicht minder gehört zu den Untiefen, dass ostdeutsches Revoltieren gegen bundesdeutsche Demokratiepraxen mitunter als irgendwie westdeutscher Betriebsblindheit überlegen insinuiert wird. Die Pointe ist dann, dass man — ganz gegen weit verbreitete Deutungsbräuche — im Osten demokratietreuer wäre als im Westen. Eben diese Untiefen abzuschätzen gibt Aufschluss darüber, wie verworren es um deutsch-deutsche demokratiepraktische Befindlichkeiten steht.
Seit der Wiedervereinigung zeigt sich demoskopisch, dass die Wertschätzung der bundesdeutschen Demokratie in den neuen Bundesländern deutlich geringer ausfällt als im Westen. Das westdeutsche System sei den Ostdeutschen einfach übergestülpt worden, ohne deren Demokratieerfahrungen mit einer friedlichen Revolution in eine neue Verfassung einzubringen. Ostdeutschlands rasche Überformung durch westdeutsche Eliten und deren Ideologien hätte in den neuen Bundesländern gar nicht erst ein solches Parteiensystem entstehen lassen, das sich der wirklichen Sorgen der Leute annähme. Obendrein wären alle Demokratie-Pathologien der BRD gedankenlos auch dem Osten aufgezwungen worden: Parteienstaatlichkeit statt direkter Demokratie, Fraktionszwang statt freiem Mandat, Verbindung von Parlamentsmandat mit Regierungsamt statt klarer Gewaltenteilung.
Obendrein hätte westdeutsches, rein ideologisches Beharren auf einem Vorrang von Freiheit vor der Gleichheit der Leute eine wesentliche, gerade auch demokratische Errungenschaft der egalitären DDR-Gesellschaft beseitigt. Im Übrigen regiere jetzt ohnehin nicht das Volk, sondern die Wirtschaft — bloß nicht ganz so offensichtlich wie einst die SED in der „Volksdemokratie“. Außerdem begrenze die Globalisierung die in Deutschland praktizierbare Demokratie inzwischen ebenso wie die freiwillige Unterstellung des Landes unter die „Brüsseler Bürokratie“.
Solche Denkfiguren und Redeformeln zeigen eine sehr andere Auffassungsweise von Demokratie, als man ihr im Westen begegnet. Weitgehend fehlt Verständnis dafür, dass es nichts Nachteiliges, sondern ganz im Gegenteil befreiend ist, wenn Wahrheit und Mehrheit getrennt werden, wenn also die Autorität eines Mehrheitsentscheids nicht von dessen „sachlicher Richtigkeit“ abhängt, sondern von nichts anderem abgeleitet wird als davon, dass sich für ihn — nach fairer Debatte und in freier Abstimmung — eine Mehrheit gefunden hat.
Oft auch wird repräsentative Demokratie als reiner Notbehelf empfunden, von dem man endlich zu direkter(er) Demokratie übergehen müsse. Die aber wird gern in ihrer Maximalform verlangt: Alle wichtigen Sachentscheidungen seien dem Volk vorzulegen. Nur selten wird gesehen, dass ein Staat gerade vom Mehrwert repräsentativer Demokratie profitiert: davon nämlich, dass Volksvertreter den „empirisch vorfindbaren Volkswillen“ zu jenem „hypothetischen Gemeinwillen“ weiterentwickeln können, den die Leute dann wohl hätten, wenn sie sich ebenso gründlich mit Entscheidungsfragen befassen könnten, wie das Berufspolitikern möglich und von diesen auch zu verlangen ist.
Einesteils spiegelt sich in diesen Unterschieden, dass ein Nachdenken über Demokratie nach den Erfahrungen einer Diktatur weniger das an der Demokratie Paradoxe als vielmehr das an ihr unmittelbar Einleuchtende zum Kristallisationspunkt weiterer Gedanken macht. Das geschieht etwa so: Soll Demokratie wirklich bestehen, muss das Volk selbst entscheiden; es wird dann seinen „wahren Willen“ durchaus erkennen; den aber verzerren in der Regel die Parteien, Interessenverbände und Medien; und somit muss deren Rolle verkleinert oder streng reguliert werden.
Andernteils sind jene Unterschiede auch Folgen einer vergleichsweise kurzen eigenen Erfahrung mit nicht nur ausgedachter, sondern real praktizierter Demokratie. Es erlebten nämlich viele deren Anfänge als Stilllegung eines volksrevolutionären Prozesses, deren erstes Jahrzehnt als politisch gewollten Wirtschaftsniedergang — und die Folgegeschichte dann als Anregieren „der Politiker“ gegen „die Bürger“, zumal bei der Migrations- und Identitätspolitik sowie beim „Kampf gegen rechts“.
Folge all dessen sind gerade auch Sensibilitätsdifferenzen. Kern der heutigen ostdeutschen Politik- und Demokratiesensibilität ist die Empfindung eines Déjà-vu. Wie zu Honeckers Zeiten erkläre die politische Klasse eine Politik für gut (etwa permissiv behandelte Migration und hingenommene Integrationsdefizite), die im Alltag von vielen als schlecht empfunden wird. Wie zu DDR-Zeiten gäbe es eine Symbiose von Politikern und Massenmedien, die den Korridor des bestrafungsfrei Sagbaren definierten und für schmerzliche Skandalisierungen öffentlicher Abweichungen vom politisch Korrekten sorgten. Also trenne man wie einst zwischen öffentlicher und privater Kommunikation.
Dabei verhielten sich ausgerechnet jene Wessis, die sich nacheilend eine hypothetische Widerstandsrolle unter DDR-Umständen zuschrieben, ganz aus freien Stücken kaum anders als ehedem die Opportunisten im SED-Staat. Jetziges „populistisches“ Aufbegehren im Osten entspräche also dem emanzipatorischen Ringen gegen das DDR-Regime von 1989. Und neuerlicher Erfolg könne kaum ausbleiben, sobald das ganze Debakel einer gescheiterten Migrations-, Integrations- und Eurorettungspolitik bekannt werde.
Von westlicher Warte aus wirken solche Empfindungen und Lagebeurteilungen meist als wirr, erklärbar nur durch Wissens- und Bildungsdefizite weiterhin rückständiger Ossis, und wurzelnd in ungebrochen weiterwirkendem Autoritarismus, Nationalismus und Rassismus. Schon der Versuch, derlei Denk- und Gefühlswelten zu verstehen, laufe hinaus auf nichts weiter als deren Rechtfertigung, auf eine Identifikation mit ostdeutschen „Vulgärdemokraten“ und deren Hang zum Rechtspopulismus, Rechtsradikalismus und Rechtsextremismus.
Allein der „Kampf gegen rechts“ wäre auf das alles eine angemessene Reaktion, das Ziehen einer „klaren Kante“, die Einnahme von „Haltung“ — im Grunde der von selbstgerechtem Stolz auf sich selbst und von Verachtung gegenüber denen, die so dämlich anders wären. Also gäbe es eine besondere Verantwortung nicht nur der Westdeutschen allgemein, sondern gerade auch der westdeutschen kulturellen Oberschicht Ostdeutschlands — und zwar dafür, nun gleichsam vormundschaftlich über jene prekäre Demokratie zu wachen, die man den Ossis zwar geschenkt habe, welche diese aber immer noch nicht zu schätzen wüssten.
Was tun? Offenbar erkennen oder empfinden „Ossis“ und „Wessis“ sehr unterschiedliche Gefährdungen unserer bundesdeutschen Demokratie. Also argumentieren sie auch anders, verhalten sich unähnlich, haben auseinanderlaufende Wahlpräferenzen. Muss man da aber entscheiden, wer richtig und wer falsch liegt? Besser wäre es wohl, die Perspektive des jeweils anderen zu verstehen, auf wechselseitige Empathie hinzuarbeiten — und dann zu klären, worin wohl beiderseits nicht bezweifelte Gefahren für unsere Demokratie lägen. Dann nämlich könnten wir unsere Demokratie allmählich gemeinsam schützen — und nicht nur vor deren vermeintlichen oder faktischen Gefährdern im jeweils anderen Landesteil.
Lektürehinweis:
Werner J. Patzelt: Pegida. Demokratie, Demokratievorstellung und Repräsentationslücken in Deutschland, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 49, 2018, S. 111-128