Die AfD kommt! Was ist los mit den Wählern?
Zu den bloß zum eigenen Nachteil vermeidbaren Pflichten um den Jahreswechsel gehört für Wissenschaftler und Printjournalisten die Zusammenstellung der Publikationen eines zurückliegenden Jahres für die VG Wort. Beim Zusammensuchen dieser Texte aus den entsprechenden Ablagen trifft man mitunter auf Liegengebliebenes und längst Vergessenes – und gleichwohl noch Aktuelles.
So ging es mir mit einem Gastkommentar für die Fuldaer Zeitung vom 8. September 2014, also aus der Zeit „vor PEGIDA“, ja auch vor dem großen Aufschwung der AfD. Das mir damals gestellte Thema war „Die AfD kommt! Was ist los mit den Wählern?“ Mit einiger Spannung fing ich zu lesen an. Immerhin zeigt sich aus einem Abstand von mehr als zwei Jahren, die obendrein voll von damals sehr unerwarteten politischen Ereignissen waren (Aufkommen von PEGIDA, Politik der offenen Grenzen, Euro-Rettung à tout prix …), ob man die politische Lage und deren Entwicklungspotential wohl eher richtig oder eher falsch einschätzte. Und nachträgliches Klittern ist bei längst veröffentlichten Texten ja nicht mehr möglich.
Nach der Lektüre meines damaligen Kommentars war ich recht zufrieden. Es zeigte sich nämlich, dass meine damalige Einschätzung von der seitherigen Entwicklung voll bestätigt wurde. Mehr noch: Meine – von Anfang an bis heute durchgehaltene und inzwischen auch zum Mehrheitskonsens gewordene – Einschätzung von PEGIDA findet sich in jenem Gastkommentar bereits angelegt. Und weil nach wie vor analytisch-politische Orientierung bieten kann, was ich damals aufschrieb, mache ich diesen Text nachstehend neu zugänglich.
Diskussionen auf meiner Facebook-Seite (https://www.facebook.com/WJPatzelt/) sind, wie immer, hochwillkommen!
Hier nun mein damaliger Text:
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Die AfD kommt! Was ist los mit den Wählern?
Nach dem Europäischen Parlament und dem Sächsischen Landtag wird die AfD wohl auch in die Landesparlamente von Thüringen und Brandenburg einziehen. Ihre Stimmen gewinnt sie, gemäß bisherigen Erfahrungen, vor allem von früheren Wählern der CDU und FDP, desgleichen von Nichtwählern, in sehr nennenswertem Umfang auch von Wählern der NPD und (!) der Linkspartei, ja obendrein von SPD und Grünen. Ihr Spitzenpersonal, meist Mandatsträger im Europäischen Parlament, ist überwiegend (wirtschafts-) liberal, auf Landesebene meist konservativ. Unter den Mitgliedern, teils auch den Landtagskandidaten, finden sich zudem viele mit klar rechtem Hintergrund – und das merkt man etlichen AfD-Aussagen dann eben an. Was braut sich da zusammen, und was macht diese neue Partei, zumal in Ostdeutschland, derzeit so attraktiv?
Eine populäre Erklärung geht so: Die AfD ist eine rechtspopulistische Partei; viele Deutsche haben ziemlich rechte Ansichten; und deshalb wählen sie oft rechte Parteien – vor allem in Ostdeutschland, wo es viel mehr „nachwirkenden Autoritarismus“ und „kulturelle Ressentiments“ gibt als im Westen. Verhindern lässt sich das nur, falls man die AfD – wie einst die NPD – als „für vernünftige Leute unwählbar“ ausgrenzt.
Da ist schon manches dran. Doch noch Wichtigeres erkennt, wer Folgendes vor Augen hat:
Seit vielen Jahren hat die CDU mit Erfolg versucht, sich durch inhaltliche Annäherung an – massenmedial stark unterstützte – sozialdemokratische Positionen von links her wenig angreifbar zu machen. Der Preis dafür ist abnehmende Bindekraft am rechten Rand. In diese Lücke stießen einst NPD und DVU. Jetzt tut das die AfD.
Ferner ist es so, dass wichtige Bestandteile des bundesdeutschen Elitenkonsenses („Nationales ist schlecht, Multikulturelles aber gut“ usw.) in der Bevölkerung viel weniger Zustimmung finden als unter Intellektuellen und Politikern, und im Osten überhaupt weniger als im Westen. Zugleich trägt dieser Konsens mancherlei zivilreligiöse Züge, was Streit um ihn oft zum Konfessionskrieg macht. Jedenfalls wird von vielen Bürgern die Verteidigung dieses Konsenses gegenüber Abweichlern als „Aufzwingen von Geboten und Verboten politischer Korrektheit“ wahrgenommen, zumal oft schon bloßer Begriffsgebrauch bestraft wird. Das wiederum verleitet zu Trotz und Provokation. Hierauf reagierende Ausgrenzungsversuche erfolgen meist durch Etikettierung als „rechtspopulistisch“, und sie führen zum „Kampf gegen rechts“. Das aber empfinden viele Deutsche als sich selbst gegenüber ungerechtfertigt und allgemein als überzogen. Wer sich nun ohnehin nicht „in der Mitte“ und schon gar nicht als „links“ sieht, den ziehen so aufs Korn genommene Gruppierungen erst recht an. Umgekehrt erscheint ihm jene Mehrheit, die sich in pauschaler „Abgrenzung gegen rechts“ übt, als abgehoben und besserwisserisch. Im Schutz der Wahlkabine rechnet man dann gefahrlos mit ihr ab.
Von solchen Zusammenhängen profitierten schon DVU und NPD. Beide aber waren bzw. sind wirklich zu rechtsradikal, ja rechtsextremistisch, um nicht mit guten Gründen ausgegrenzt zu werden. Doch eine sich ihrerseits von allem Rechtsradikalismus überzeugend abgrenzende AfD, die außerdem zur professionellen Partei würde, hätte durchaus die Chance, in ganz Deutschland zu jener demokratisch legitimierten – vielleicht ja nationalliberalen – „Partei rechts von der Union“ zu werden, vor der einst Franz Josef Strauß warnte. Sein Motiv: Sie könnte rechts der Mitte die Union in dieselbe unangenehme Konkurrenzsituation bringen, in der sich die SPD seit dem Aufkommen von Grünen und Linkspartei befindet. Also ist es strategisch paradox, dass ausgerechnet linke Parteien die AfD zum Teufel wünschen. Für das ganze Land aber wäre es am besten, wenn die etablierten Parteien die Sorgen der AfD-Wähler ernstnehmen und jene Probleme gründlich erörtern würden, ja vielleicht auch tatkräftig anpackten, welche AfD-Wähler als von ihnen vernachlässigt empfinden.
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Und hier nun noch drei kurze Nachbemerkungen aus dem heutigen, viel späteren politischen Erfahrungshorizont:
Erstens füllt der AfD/PEGIDA-Komplex inzwischen wuchtvoller denn je die damals bereits zu diagnostizierende Repräsentationslücke.
Zweitens begreift die CDU inzwischen, wie strategisch dumm sie sich verhalten hat, als sie glaubte, den rechten Rand gerade durch Ausgrenzung, nicht aber durch Integration „wieder in Griff zu bekommen“.
Drittens nehmen die etablierten Parteien inzwischen tatsächlich die zentralen Sorgen von AfD-Sympathisanten ernst, erörtern die von einem nennenswerten Teil der Bevölkerung als vernachlässigt empfundene Probleme und fangen an, sie auch anzupacken – von der Begrenzung der Zuwanderung über die Durchsetzung des „an sich geltenden“ Aufenthaltsrechts bis hin zum Ernstnehmen von Herausforderungen innerer Sicherheit selbst seitens solcher Grüner, die jahrelang dergleichen als „law-and-order-Politik“ in die Nähe von verachtenswerten autoritären Herrschaftsgelüsten gerückt haben.
Da fragt sich der normale Bürger: Warum nicht gleich so? Und der erfahrungsbelehrte Politikwissenschaftler antwortet: Weil in der Politik nun einmal jeder Wagen erst einmal im Dreck stecken muss, bevor die Lenker und Insassen sich darüber halbwegs einig werden, ob denn der eingeschlagene Kurs des Wagens wirklich in den Dreck führe und also zu korrigieren sei.
Deshalb zeitigt der Rückblick auf ideologische Verzögerungen politischen Lernens stets den resignativen Seufzer: Lieber spät als nie! Doch rechtzeitiges, bereitwilliges Lernen wäre natürlich besser für uns alle. Ob wohl je ausreichend viele aus dieser Einsicht politisch-praktische Schlussfolgerungen ziehen werden?
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