Gedeon und der Antisemitismus. Gutachten
Kurze Einschätzung von Vorwürfen gegen Wolfgang Gedeon
I. Gegenstand, Anlass und Vorgehen des Kurzgutachtens
Gegen Wolfgang Gedeon werden seit dem Mai 2016 Vorwürfe dahingehend erhoben, er habe sich antisemitisch geäußert, füge seiner Partei – der AfD – dadurch Schaden zu und solle deshalb deren Landtagsfraktion in Baden-Württemberg nicht länger angehören.
Begründet werden diese Vorwürfe in der Regel mit Zitaten aus Wolfgang Gedeons Buch „Der grüne Kommunismus und die Diktatur der Minderheiten. Eine Kritik des westlichen Zeitgeistes“ (Frankfurt/ Main 2012: R.G. Fischer). Diesem Buch ging im Jahr 2009 Gedeons Trilogie „Christlich-europäische Leitkultur. Die Herausforderung Europas durch Säkularismus, Zionismus und Islam“ voraus (Frankfurt: R.G. Fischer). Deren zweiter Band „Über Geschichte, Zionismus und Verschwörungspolitik“ steht dem Themenbereich der Antisemitismus-Vorwürfe am nächsten.
Alle diese Werke waren entstanden, bevor Wolfgang Gedeon im März 2016 für die AfD zum Landtag von Baden-Württemberg kandidierte. Spätere Überraschungen über Wolfgang Gedeons Schriften sind also zwar praktisch verständlich, waren aber objektiv unnötig. Desgleichen war Wolfgang Gedeon für die AfD und für deren journalistische Begleiter schon vor dem Öffentlichwerden von Kritik an seinen Aussagen kein Unbekannter. Wie Gedeon auf seiner Webseite www.wgmeister.de mitteilt, trat er im April 2016 in der Programmdiskussion zum Stuttgarter Bundesparteitag der AfD mit eigenen Entwürfen und Stellungnahmen hervor, desgleichen im Vorjahr u.a. mit Thesen zur Islam-Diskussion, zur Asylpolitik und zur Syrienkrise. Insgesamt habe er – so Gedeon – seit dem Erfurter AfD-Parteitag von 2014 „in stärkerem Maß das programmatische Profil der Partei mitgestaltet“. Alle seine einschlägigen Texte sind über die o.a. Webseite leicht erreichbar.
Unübersehbar geht es bei der Kritik an Aussagen von Wolfgang Gedeon – erhoben zunächst vom Internetportal „Netz gegen Nazis“, das von der Amadeu Antonio Stiftung betrieben wird – nicht einfach nur um eine gleichsam „akademische Debatte“ darüber, ob und wie weit wohl welche Aussagen unter Begriffe wie „Antisemitismus“, „Antijudaismus“ oder „Antizionismus“ fallen. Bei solchen „akademischen Debatten“ hängt das – dann unschwer zu ermittelnde – Ergebnis schlicht davon ab, wie und wie weitgehend bzw. trennscharf diese Begriffe definiert werden, und wie sorgfältig (gleich ob entlang dem gemeinten oder einem zugeschriebenen Sinn) jenes Textmaterial bearbeitet wird, anhand dessen festzustellen ist, ob bzw. wie weit untersuchte Aussagen unter jene Begriffe fallen.
Vielmehr geht es bei der Kritik an Wolfgang Gedeon gerade auch um die Frage, ob und wie weit eine Partei im politischen Wettbewerb durch bestimmte Aussagen eines ihrer hervorgehobenen Mitglieder in Mitleidenschaft gezogen wird, und welche Maßnahmen dann seitens der Partei in Abwägung welcher Gesichtspunkte hinnehmbar wären, ja womöglich geboten sind. Es ist nämlich sowohl die Zuschreibung von Antisemitismus als auch die zweckbezogene Hervorhebung von nachgewiesenem Antisemitismus ein in der Regel sehr erfolgreiches Mittel im Kampf gegen politische Gegner. Insofern wäre es nicht sachgerecht, diese politische – und eben nicht nur wissenschaftliche – Dimension des Streits um Aussagen von Wolfgang Gedeon außer Acht zu lassen. Man muss beide Dimensionen allerdings analytisch trennen, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil man nur dann ihr Zusammenwirken in der Praxis abwägen kann.
Diese nachstehende Einschätzung von Vorwürfen gegen Wolfgang Gedeon entstand auf Bitte eines Mitglieds der AfD-Landtagsfraktion von Baden-Württemberg gegen ein bescheidenes Honorar. Dessen Höhe entsprechend liegt ihr keine systematische Durchsicht aller Schriften von Wolfgang Gedeon zugrunde, sondern nur die Lektüre seines Buches „Der Grüne Kommunismus“. Desgleichen bezieht sich diese Einschätzung nur auf die – freilich in ihren Gesamtzusammenhang eingebetteten – Passagen dieses Buches über das, was man den „Antisemitismus-Komplex“ nennen kann (zu dessen Bestandteilen siehe den Abschnitt II). Sie bezieht sich auch nicht auf die Persönlichkeit Wolfgang Gedeons. Im Übrigen habe ich diese Aufgabe vor allem deshalb übernommen, weil ich zeigen wollte, wie – abseits von Überzeugungs- oder Empörungsbekundungen – sachliche Analysen von als problematisch empfundenen Aussagen vorgenommen und in sowohl fair erwogene als auch klare Ratschläge umgesetzt werden können.
Vorgegangen wird in drei Schritten. Zunächst werden die Kriterien für die Identifikation von Antisemitismus, Antijudaismus und Antizionismus verdeutlicht. Das geschieht in enger Orientierung an der einschlägigen sozialwissenschaftlichen Mehrheitsmeinung. Sodann werden die einschlägigen Passagen des Buchs „Der grüne Kommunismus“ in thematisch geeigneter Weise zusammengestellt bzw. paraphrasiert. Deren Interpretation führt im nächsten Schritt zu Einschätzungen dessen, ob und wie weit – bzw. in welcher Ausdeutung – die zuvor dargelegten Kriterien für Antisemitismus, Antijudaismus und Antizionismus in jenen Passagen erfüllt sind. Drittens werden anhand vorab klargestellter Kriterien Ratschläge dazu abgegeben, welche politischen Konsequenzen nun seitens der AfD unter der Prämisse ratsam wären, dass sich die AfD vor allem als erfolgswillige politische Partei und weniger als politischer Diskussionszirkel versteht.
II. Untersuchungsleitende Begriffe: Antisemitismus, Antijudaismus, Antizionismus – und Rassismus
Die nachstehenden Begriffsbestimmungen beanspruchen keinerlei Originalität. Sie folgen vielfach der Position von Wolfgang Benz, die sich nicht nur als sozialwissenschaftlicher Konsens durchgesetzt hat, sondern bis weit ins linke Lager hinein geteilt wird. Es wäre der Klarheit und dem sachlichen Zusammenhalt unserer politischen Diskurse sehr gedient, wenn sich die nachstehenden, höchst plausiblen Kriterien für Antisemitismus auch bis weit ins rechte Lager hinein durchsetzen würden.
1. Antisemitismus und dessen Feststellung
Antisemitismus, entstanden als Eigenbezeichnung selbsterklärter Judenfeinde, ist in heutiger politischer Sprache die zusammenfassende Fremdbezeichnung für sämtliche judenfeindlichen Äußerungen, Tendenzen, Ressentiments, Haltungen und Handlungen, und zwar ganz unabhängig von deren religiösen, rassistischen, sozialen oder sonstigen Motiven. Ebenso wenig wie es beim Sachverhalt der Weitsichtigkeit darauf ankommt, ob man weitsichtig sein will oder sich als weitsichtig versteht, sondern allein auf die objektivierbare Feststellung des Vorliegens von Weitsichtigkeit, kommt es beim Antisemitismus darauf an, ob jemand antisemitisch sein will oder sich als Antisemit versteht, sondern bloß darauf, wie jemand tatsächlich spricht, schreibt oder handelt.
Falls dessen Sprechen, Schreiben und Handeln nicht zu einer tatsächlich gehegten nicht-antisemitischen Einstellung passen sollten, wäre eine gleichwohl getroffene Einschätzung als „Antisemit“ allein ihm zuzurechnen, weil klar nicht-antisemitisches Sprechen, Schreiben oder Handeln von ihm – aus welchen Gründen auch immer – eben nicht zustande gebracht wurde. Doch natürlich kann jemand, der sich fälschlicherweise als Antisemit eingeschätzt empfindet, von jenen Aussagen oder Handlungsweisen abrücken, die zu einer solchen Einschätzung führten. Auch kann er zu zeigen versuchen, dass diese Aussagen oder Handlungen in einem ganz anderen Sinn gemeint waren als jenem, der von anderen aus der Gesamtheit jener Aussagen und Handlungen erschlossen wurden.
Angesichts der langen Tradition von Antisemitismus sowie der über 3000jährigen Geschichte dessen, was oft „jüdisches Volk“ oder „Judentum“ heißt, muss es nicht wundern, dass es schon mehrerer Begriffe bedarf, um den Gesamtkomplex jener sich wandelnden Reaktionen auf „die Juden“ oder auf „das Judentum“ angemessen zu erfassen, in dem sich Geschichte und Vielfalt „des“ Antisemitismus spiegeln. Mindestens sind das die Begriffe „(moderner) Antisemitismus“, „(christlicher) Antijudaismus“ und „(verschwörungstheoretischer) Antizionismus“. Übersprungen werden kann für den hier verfolgten Zweck der – in einer Reihe von Büchern gut dokumentierte – Antisemitismus der Antike, desgleichen die Frage, in welcher Weise dieser im christlichen Anti-Judaismus fortlebte.
2. (Christlicher) Antijudaismus
Antijudaismus ist religiös begründete Judenfeindschaft. In der Antike lag ihr die wechselseitige Ablehnung von jüdischem Monotheimus und heidnischem Polytheismus bzw. Synkretismus zugrunde. Nach dem Siegeszug des Christentums im Römischen Reich entwickelte sich ein speziell christlicher Antijudaismus. Zu dessen Inhalten gehörten: Die Juden entzögen sich dem göttlichen Heilsplan, da sie nicht in Jesus von Nazareth den ihnen verheißenen Messias erkennen wollten; vielmehr hätten sie Jesus sogar umgebracht und ausdrücklich verlangt, dessen Blut solle über sie und ihre Kinder kommen; statt der treulosen Juden wäre deshalb nun die Christen das „neue Volk Israel“; ihm aber setzten die Juden nun durch Ritualmorde an christlichen Kindern, durch Hostienfrevel, Brunnenvergiftungen und allgegenwärtige Wucherei zu. Weil wiederum in Europa das Christentum vom Mittelalter bis zur Frühen Neuzeit nicht nur das gesamte gesellschaftliche Leben prägte, sondern seinerseits von den – auch aus anderen als religiösen Quellen gespeisten – zeitgenössischen Sichtweisen und Interessen geprägt wurde, verschmolzen im Antijudaismus religiöse Vorurteile mit ganz säkularen Abneigungen gegenüber Menschen anderer Abstammung oder anderen Glaubens.
3. (Moderner) Antisemitismus
Moderner Antisemitismus setzte einesteils den christlichen Anti-Judaismus fort, insofern nun der – aus mannigfachen Gründen erklärbare – beachtliche Aufstiegserfolg nicht weniger jüdischer Familien unter den Bedingungen der bürgerlichen und kapitalistischen Gesellschaft nahtlos in die Tradition „jüdischer Wucherei“ gestellt wurde. Andernteils kam – im Zusammenhang mit jenen Erkenntnisfortschritten naturgeschichtlicher Forschung, die im (sozial-) darwinistischen Weltbild mündeten – die Vorstellung von Juden als einer „eigenen Rasse“ auf, die ihrerseits „parasitär“ andere Rassen ausnutze und verderbe. Diese rassistische Deutung des Judentums richtete sich ganz besonders gegen die im 19. Jh. so erfolgreiche Assimilierung zumal jüdischer Deutscher oder jüdischer Franzosen an die Kulturen ihrer Länder. Ihren – hoffentlich auch weiterhin von den Konsequenzen solchen Denkens abschreckenden – Höhepunkt fand diese Sichtweise im nationalsozialistischen Völkermord an Mitmenschen jüdischer Abstammung.
Sekundärer Antisemitismus liegt einesteils dort vor, wo die Ursachen von Antisemitismus und seiner Folgen – bis hin zum Holocaust – weniger in den Einstellungen von Antisemiten gesehen werden, sondern vor allem im Verhalten von Menschen jüdischer Abstammung bzw. Religion. Diese hätten nämlich den Kampf gegen sich gleichsam selbst erzwungen (etwa durch Wucherei, Übervorteilung, Partisanenkrieg …) und lüden nun, erneut auf Vorteile bedacht, ihre eigene Schuld auf ihre Verfolger, die doch nur in Notwehr oder Nothilfe gehandelt hätten. Vor allem setzten sie ihren Kampf gegen andere Völker dadurch fort, dass sie endlos Kompensationen für ihre – doch selbstverschuldete – Verfolgung forderten und sich in ihrer Opferrolle moralisch erhöhten, während sie andere Völker, zumal das deutsche Volk, als „Tätervolk“ herabwürdigten und auf Dauer in Haftung zu nehmen versuchten. Andernteils erkennt man eine sekundär-antisemitische Haltung oft in Argumenten, die sich gegen die bewusste Erinnerung an den Holocaust sowie dagegen wenden, aus ihr Grundsätze für ein allgemein richtiges politisches Handeln abzuleiten. In dieser Variante des sekundären Antisemitismus werden nicht Menschen jüdischer Abstammung oder Religion zur Zielscheibe von Angriffen, sondern widerfährt dies einem jeden, der sich in konkreten Streitfällen auf die Seite damals oder heute verfolgter Menschen jüdischer Abstammung oder Religion stellt.
4. (Verschwörungstheoretischer) Antizionismus
Antizionismus liegt einesteils dort vor, wo das Existenzrecht des 1948 gegründeten Staates Israel sowie dessen das Recht auf Selbstverteidigung bestritten wird. In solchen Antizionismus geht die (natürlich jederzeit zulässige!) Kritik an der Innen- und Außenpolitik eines Staates genau dort über, wo Juden – zumal anhand stereotyper, generalisierender, ja dämonisierender Zuschreibungen – für im Grunde sämtliche Probleme der sie umgebenden Gesellschaft bzw. Staatenwelt verantwortlich gemacht werden.
Andernteils liegt Antizionismus dort vor, vor Gefühle, Überzeugungen und Argumentationen um die Denkfigur einer „jüdischen Weltverschwörung“ kreisen. Manche meinen nämlich, und zwar oft unter Verweise auf die für echt gehaltenen „Protokolle der Weisen von Zion“, dass Menschen jüdischer Abstammung gut vernetzt „hinter den Kulissen“ Wirtschaft und Politik quer über große Teile der Welt nach ihren eigenen, in der Regel selbstsüchtigen und ausbeuterischen Interessen leiteten. Diese Form des Antizionismus hängt eng mit dem Aufkommen des modernen Antisemitismus als Reaktion darauf zusammen, dass Menschen mit jüdischer Abstammung nach Jahrhunderten des netzwerkbildenden Zusammenhalts in der Diaspora besonders leicht die neuen Kommunikations- und Handlungsmöglichkeiten des technisch-industriellen und bürgerlich-kapitalistischen Zeitalters nutzen konnten.
Während der Antijudaismus parallel zum Bedeutungsverlust des Christentums stark abgeklungen ist und rassistischer Antisemitismus aufgrund der Schrecken des Holocaust sowie wegen des Wegfalls eines auf Menschen gemünzten Rassenbegriffs verblasste, findet beiderlei Antizionismus heute breite Zustimmung. Das ist umso beunruhigender, als sich dies nicht nur auf der extremen Rechten vollzieht, sondern auch in sich als links verortenden Gruppierungen – und allemal in den Kreisen von Islamisten oder ganz normalen Zuwanderern aus dem Nahen Osten. Die aber prägen unsere Einwanderungsgesellschaft in ganz besonderer Weise.
Blickt man die knapp umrissenen historischen und modernen Erscheinungsformen von Antisemitismus, so erkennt man unschwer als deren übliche kulturelle, gesellschaftliche und politische Funktion: Es geht darum, einfache Erklärungen für komplexe, zu ihrer Zeit und in ihrem Wirkungsbereich als durchaus bedrohlich empfundene Sachverhalte oder Prozesse zu finden. Die besonders billige, da zugleich kurze und dennoch wie höchst erklärungskräftig behandelte Formel lautet stets: „Die Juden sind schuld!“
5. Die Formen des Antisemitismus und der Rassismus
Alle umrissenen Formen von Antisemitismus verbindet ferner, dass sie auf den – zugeschriebenen – „Typ“ des Juden bzw. des Jüdischen zielen und von daher das Denken, Sprechen, Schreiben oder Handeln eines Mitmenschen jüdischer Abstammung oder Religion vorab einordnen und deuten.
Solange eine solche Typzuordnung wie eine alltagspraktische Hypothese vorgenommen wird (z.B. „Bayern sind nun einmal traditionalistischer als Leute aus XY“), von der man beim konkreten Kontakt mit einem anderen nicht nur Bestätigung erwartet, sondern für deren Veränderung oder gar Widerlegung man jederzeit offen ist, liegt keine problematische Haltung vor, sondern gerade jene, mit der man die im Alltag unweigerlich auftretenden Orientierungsprobleme bewältigt. Gleiches gilt, solange man sich auf die Befunde vergleichender empirischer Untersuchungen bezieht und bereit ist, sie nötigenfalls methodenkritisch zu hinterfragen (z.B. „Der Anteil jüdischer Deutscher unter den in Deutschland zugelassenen Rechtsanwälten war im Jahr 1900 größer / kleiner als der entsprechende Anteil polnischer Deutscher, und die Gründe dafür scheinen die folgenden zu sein: …“).
Doch der Übergang zum Rassismus ist bei alledem fließend. Kern und „primäres Merkmal“ von Rassismus ist es, einen Mitmenschen nicht als einzigartig und nach dessen selbstverantwortetem Handeln zu beurteilen, sondern ihn einfach als „Exemplar“ eines „kollektiven Typs“ zu behandeln – ganz gleich, an welchen Merkmalen sich die „Typerkennung“ (in Wirklichkeit: die Zuschreibung eines Typs) orientiert. Gerade so gingen die Nazis mit Juden um, und zwar auch mit jenen, die sich durch vorbildliches Handeln ausgezeichnet oder Gutes für das gemeinsame Land geleistet hatten. Eben diese Vorordnung des zugeschrieben-Typischen vor dem erfahrbar-Individuellen ist das Inhumane und menschlich Empörende am Rassismus.
Natürlich ändert es nichts an der Tatsache der Zuschreibung eines „Typs“, wenn der zugeschriebene Typ rein imaginär sein sollte. Beispielsweise folgt aus dem Sachverhalt, dass es keine unterschiedlichen menschlichen Rassen gibt, durchaus nicht, dass Menschen nicht an die Existenz von menschlichen Rassen glauben könnten. Und sehr wohl können Menschen, diese falsche Vorstellung für wahr haltend, auf sie gegründete Typzuschreibungen vornehmen, an diesen ihr Handeln orientieren und solchermaßen Rassismus praktizieren. Auch davon zeugt die jüngere deutsche Geschichte.
Lange Zeit bezog sich solche Typzuschreibung auf das Aussehen bzw. die Abstammung eines Mitmenschen, oft – doch nicht immer – mit der unübersehbaren Hautfarbe als zentralem Beurteilungsmerkmal. Auch an Schädel- oder Nasenformen trachtete man „verlässliche Typbestimmungen“ festzumachen, letzteres gerade im Fall von Menschen jüdischer Abstammung. Typisiert man Menschen nach solchen angeborenen Merkmalen, so liegt oft „biologischer“ Rassismus vor. Seit sich die Vorstellung weitgehend verloren hat, es gäbe unterschiedliche menschliche Rassen, hat die verhaltensprägende Bedeutung von biologischem Rassismus anscheinend abgenommen.
Damit endete aber nicht die Praxis, das zugeschrieben-Typische an Mitmenschen dem erfahrbar-Individuellen vorzuordnen. Gerade in entstehenden multikulturellen Gesellschaften gewinnen kulturelle Prägungen – zu denen auch religiöse Prägungen gehören – für viele Leute eine herausragende Bedeutung. Dann werden Typzuschreibungen nicht nur – oder auch gar nicht – auf angeborene Aussehensmerkmale bzw. auf nachweisbare Abstammungsbeziehungen gegründet, sondern auf rein sozialisatorisch erworbene kulturelle Merkmale. Sitten oder Kleidung dienen dann als ebenso leicht erkennbare Merkmale für die Typzuschreibung wie früher – oder in anderen Kulturen – das Aussehen von Menschen. Typisiert man auf diese Weise Menschen nach ihren kulturellen Merkmalen, so liegt „kultureller“ bzw. „kulturalistischer“ Rassismus vor.
Beispiel: Wem für das Kennenlernen eines anderen sowie für die Ausgestaltung der eigenen Beziehungen zu ihm die Information ausreicht, dieser andere „sei ein Jude“, der ordnet das zugeschrieben-Typische dem erfahrbar-Individuellen vor und praktiziert auf diese Weise kulturalistischen Rassismus.
Sofern es einen realen Zusammenhang zwischen der Kultur und der Herkunft eines Menschen gibt, welch letztere über dessen Aussehen erschlossen werden kann, mag kulturalistischer Rassismus durchaus entlang äußerlicher Merkmale aktiviert werden. Das vollzöge sich etwa dann, wenn jemand meinte, man würde Menschen jüdischer Abstammung verlässlich an ihrer Nasenform erkennen, er dann einen so „erkannten“ Mitmenschen für einen Juden nähme – und ihn schließlich als Juden ablehnte, während er ihn ansonsten trotz seiner Nasenform durchaus akzeptierte. Es können also biologischer und kulturalistischer Rassismus miteinander verkoppelt sein, obwohl sich das nicht zwingend so verhält.
Konkretes Verhalten ist jedenfalls der Eigenverantwortung eines Einzelnen zuzuschreiben. Gerade darauf zu achten, bewahrt vor Rassismus. Hingegen konstituiert es Rassismus, wenn man einen anderen allein nach seinem angeborenen Aussehen oder nach der ihm durch Sozialisation aufgeprägten Kultur beurteilt. Für beide Merkmale seiner selbst ist nämlich keiner individuell verantwortlich. Vielmehr kann man durch eigenes Verhalten über Probleme oder Schwachstellen der aufgeprägten Kultur hinausgelangen, weshalb es zweifellos persönlich zurechenbar ist, ob jemand solches unternimmt oder unterlässt. Dem angeborenen Aussehen kann man hingegen nicht entkommen, so dass es in jeder Hinsicht ungerecht, ja inhuman ist, jemanden auf sein angeborenes Aussehen festzulegen.
Die Abwertung von kollektiv typisierten Menschengruppen ist – gegenüber dem praktizierten Vorrang des Typischen vor dem Individuellen – erst ein „sekundäres Merkmal“ von Rassismus. Aus verschiedenen Gründen ist es sogar falsch, in solcher „kollektiven Abwertung“ von typisierten Menschengruppen das zentrale Merkmal von Rassismus zu sehen.
Erstens besteht der nicht akzeptable Verstoß gegen die Menschenwürde bereits darin, jemanden nicht als Individuum, sondern als Exemplar eines Typs wahrzunehmen und zu behandeln. Auch ohne dass der andere abgewertet würde, ist er dann nämlich bereits seiner Individualität beraubt, weil er eben nicht als Individuum wahrgenommen und behandelt wird.
Zweitens ist es durchaus nicht verwerflich, typologisch abgrenzbare Menschengruppen dann abzuwerten, wenn sie tatsächlich gruppenspezifische unethische Handlungen begehen. Das verhält sich beispielsweise so bei einer Bande von Herstellern und Händlern von Kinderpornographie oder bei einer Gruppe von Terroristen. Die einen darf man sehr wohl gegenüber anständigen Erwachsenen, die anderen gegenüber normalen politischen Gegnern abwerten. Ursache ist, dass solche Gruppenmerkmale auf persönlich zu verantwortenden eigenen Handlungen beruhen – und gerade nicht auf einer kulturellen Prägung oder gar auf angeborenen Merkmalen, von der man sich nicht emanzipieren könnte.
Drittens ist eine Abwertung anderer tatsächlich nur dann evident verwerflich, wenn sie sich auf das physische Aussehen bezieht, das – weil genetisch bedingt, und somit im Unterschied zur kulturellen Prägung nie wieder abzustreifen – allem ethisch zu verantwortenden und dann auch legitimerweise zu bewertenden individuellen Handeln vorausliegt.
Insgesamt ist somit festzuhalten, dass Antijudaismus und Antizionismus zum kulturalistischen Rassismus zumindest tendieren und in der Regel zweifelsfrei kulturalistisch rassistisch sind. Moderner Antisemitismus ist das auch. Obendrein war – bzw. ist er weiterhin – oft biologisch-rassistisch. Deshalb steht jede Haltung, die zum „Antisemitismus-Komplex“ gehört, aus guten Gründen unter Rassismusverdacht. Und keineswegs entgeht man der Feststellung, man sei ein antisemitischer Rassist, einfach mit der Entgegnung, man werte doch niemanden ab, sondern betone ganz im Gegenteil die herausragenden (gemeint ist dann meist: ausbeuterischen oder konspirativen) Fähigkeiten von Menschen jüdischer Abstammung oder Religion. Rassismus besteht nämlich, wie gezeigt, allein schon in der Vorordnung des Typischen vor dem Individuellen – und er bedarf, um einer zu sein, eben nicht auch noch der Abwertung eines anderen.
III. Sind Aussagen Wolfgang Gedeons antisemitisch?
1. Zum Buch über den „Grünen Kommunismus“ als Kontext der zu untersuchenden Aussagen
Das Buch „Der grüne Kommunismus“ ist keine Schrift über Menschen jüdischer Abstammung oder Religion, und auch keine über den Staat Israel und dessen Politik. Sie ist vielmehr eine Abhandlung über alles das, was Wolfgang Gedeon am heutigen „westlichen Zeitgeist“ für falsch hält und im Wesentlichen jenem Fühlen und Denken zuschreibt, dem er selbst in jüngeren Jahren angehangen hat: dem kommunistischen und grünen Denken. Im Grunde enthält sein Buch die Selbstverständigung eines Renegaten über das, was er heute für falsch bzw. richtig hält. Es handelt sich um den Text eines belesenen, klugen Mannes, der – wie an vielen Stellen kenntlich wird – aber nicht wirklich ein Fachmann für die von ihm behandelten Themen ist, sondern ein leistungswilliger Autodidakt mit intellektuellem Wagemut. Letzterer kann aber auch ins sachliche Scheitern führen.
Im Kapitel 1 seines Buchs führt Gedeon in der Gegenüberstellung des Umgangs mit etwa Chodorkowski und Assange, mit Liu Xiaobo und Horst Mahler vor, was er als „doppelte Moral“ des Westens und seiner Medien bezeichnet. Relevant für die nachstehende Untersuchung ist hier vor allem der Abschnitt über die strafrechtliche Verfolgung von – Anführungsstriche im Original – „Holocaust-Leugnern“.
Im Kapitel 2 behandelt Gedeon „spezifisch grüne Elemente des westlichen Zeitgeists“, nämlich vom Feminismus über „Sexualismus und Homosexualismus“ bis hin zu „Multi-Kulti-Ideologie, Zuwanderungslobbyismus und Fremdenkult“, was alles problematisch sei, doch mit der Umwelt- und Klimapolitik als der „Öko-Schokoladenseite der Grünen“ verblendet werde.
Im Kapitel 3 widmet sich Gedeon dem, was sein Buch stark von anderen zeitgeistkritischen Schriften dieser Art unterscheidet, nämlich der Religion. Er nimmt sie als Prägefaktor auch heutiger Gesellschaften sehr ernst, betont die Passung gerade des Christentums zu einem vitalen Europa und gelangt von daher zu kritischen Aussagen nicht zur zum Islam, sondern auch zum insbesondere postchristlichen, talmudischen Judentum. Insbesondere Abschnitte wie der über Juden als „die älteren Brüder der Christen“ sind für die nachstehende Untersuchung wichtig.
Im Kapitel 4 geht es um „Die Basisideologien des westlichen Zeitgeistes“. Behandelt werden „Wissenschaftsgläubigkeit als Religionsersatz“, der Weg „Vom Aufklärungshumanismus zum heutigen ‚Humanitarismus‘“, „Gleichheit und Egalitarismus“, „Brüderlichkeit und Humanitarismus“ sowie „Antinazismus“. In diesem letzteren Abschnitt finden sich für die Einschätzung eines möglichen antisemitischen Gehalts dieses Buches besonders wichtige Passagen, zumal in den Unterabschnitten über Antisemitismus, Zionismus und die „Protokolle der Weisen von Zion“.
Im Kapitel 5 wird der „Grüne Kommunismus“ im Vergleich mit dem „roten Kommunismus“ abgehandelt.
Im Kapitel 6 werden praktische Konsequenzen in Form einer „Politischen Zusammenfassung“ gezogen, der sich als „Schluss“ noch „Sentenzen zum politischen Nachdenken“ anschließen.
Nach vielen Kommunikations- und Leseerfahrungen des Gutachters drückt dieses Buch – mit Ausnahme seines pro-christlichen Grundtons – ziemlich genau jene Weltsicht aus, die sich, gröber oder feiner, bei vielen „intellektuellen PEGIDA-Sympathisanten“ findet. Sie dürfte auch die Weltsicht eines nennenswerten Teils von AfD-Wählern, ja vermutlich nicht weniger AfD-Mitglieder sein. Das alles ist aber nicht Gegenstand des nachfolgenden Kurzgutachtens. Es schreitet allein jene drei Themenbereiche ab, deren Durcharbeitung eine faire Antwort auf die Frage nach einem antisemitischen Gehalt von Wolfgang Gedeons Buch ermöglicht: Antijudaismus, Antizionismus und sekundärer Antisemitismus.
2. Zum Antijudaismus
Kern der religionsgeschichtlichen und religionssoziologischen Aussagen Gedeons ist die Vorstellung, Religion habe sich in drei Phasen entwickelt. Die erste wäre die heidnische mit ihrer immanenten Erfahrung des Göttlichen, in der zunächst Naturgötter empfunden und diese dann – nach menschlichem Vorbild – zu den olympischen Göttern ausgestaltet würden. Die zweite wäre die „jüdische Phase der Religions- und Menschheitsgeschichte“, in welcher sich der Durchbruch zum Monotheismus vollziehe. Der nun vor Augen geführte Gott sei seiner Schöpfung unendlich weit entfernt; und so fände sich die Natur völlig entsakralisiert, ja wäre dem Menschen ein Dualismus zwischen sich und einem jenseits der Welt agierenden Gott auferlegt. Die dritte Phase beginne mit der „christlichen Revolution“ und jenem „trinitarischen Gottesbild“, in dem Gott sowohl der Schöpfer als auch – in Jesus – Mitmensch wäre, und in dem – kraft des Heiligen Geistes – das Himmelreich bereits mitten unter den Menschen bestünde, falls sie denn die Gebote Gottes befolgten.
Ins religionswissenschaftliche Detail muss hier nicht gegangen werden. Es reicht der Blick auf die zentrale Aussage, wonach die jüdische Religion durch das Christentum überholt sei – und zwar gerade nicht in der Weise, dass „Juden die älteren Brüder der Christen“ wären, sondern dahingehend, dass mit dem Christentum etwas überhaupt Neues in die Welt gekommen wäre, nämlich die höchste Form von Religion überhaupt (was denn auch lange Zeit das Selbstverständnis zumal des Katholizismus war). Doch eben dieses Neue lehne das nachchristliche, vom Talmud geprägte Judentum ab, das „im Kern antichristlich, d.h. dem christlichen Grundgedanken diametral entgegengesetzt“ sei (S. 95). Eben dies zeichnet Gedeon auf S. 94ff („Die Entwicklung des nachchristlichen Judaismus“) mit etlicher Liebe zum Detail nach.
Sein zusammenfassender Befund von S. 95 lautet so:
Über Jahrhunderte hat dieser Talmud das Judentum geistig geprägt, sind Juden also in seinem Geist sozialisiert worden. Nicht nur viele Nichtjuden, auch viele Juden halten deshalb den Talmud für einen wesentlichen Faktor bei der Generierung von Antisemitismus in den Ländern, in denen die Juden lebten.
Hier wird klar eine Zentralaussage des sekundären Antisemitismus formuliert: Die Juden sind an jenen Missgeschicken, die ihnen widerfuhren, selber schuld! Die übrigen Schlüsselstellen zum Ergebnis von Gedeons Analyse lauten auf S. 95f so (die vorangestellten Ziffern stammen vom Gutachter):
[1] Während das christliche Reich dementsprechend ein transzendentes, ein jenseitiges ist – Jesus sagt: »Mein Reich ist nicht von dieser Welt« –, bleibt das jüdische Reich irdisch gebunden und diesseitig. Wohl erwartet man einen Messias. Er wird aber mehr oder weniger politisch vorgestellt als einer, der den Juden im Sinne Davids ein neues großes Reich und Macht und Frieden beschert. Dabei wird der Gedanke der Auserwähltheit des jüdischen Volkes, den wir aus dem Alten Testament kennen und als Christen im Wesentlichen symbolisch interpretieren, kultiviert und übersteigert: »Wenn der Messias kommt, sind alle die Sklaven der Israeliten« – so steht es im Talmud. [Gemara, Traktat Enubin, Abschnitt IV] Die Versklavung des Restes der Menschheit im messianischen Reich der Juden ist also das eschatologische Ziel der talmudischen Religion. Dementsprechend finden wir auch in vielen anderen Abschnitten Hass und Verachtung für alles Nichtjüdische bis hin zu Aufrufen, die Nichtjuden zu vernichten.
[2] Über Jahrhunderte hat dieser Talmud das Judentum geistig geprägt, sind Juden also in seinem Geist sozialisiert worden. Nicht nur viele Nichtjuden, auch viele Juden halten deshalb den Talmud für einen wesentlichen Faktor bei der Generierung von Antisemitismus in den Ländern, in denen die Juden lebten. […]
[3] Die jüdische Religion hat im Hinblick auf die Entwicklung von Christentum und Islam geschichtliche Weltbedeutung. Von ihrer tatsächlichen Verbreitung her kann man sie heute aber nicht mehr als »Weltreligion« bezeichnen. Weltbedeutung hat das Judentum heute nicht direkt durch seine Religion, sondern im Wesentlichen indirekt, nämlich durch Judaisierung der christlichen Religion und Zionisierung der westlichen Politik.
Der Zionismus ist keine Religion, sondern eine nationalistische Ideologie. In dieser gibt es keinen Gott, hier ist sozusagen Israel selbst zum Gott, zum Selbstzweck geworden. Entscheidend gestärkt wurde die zionistische Bewegung – es hört sich eigenartig an – durch die nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen und den Untergang des Nationalsozialismus 1945. Ab 1967 (Sieg Israels im Sechstagekrieg mit Besetzung weiterer arabischer Gebiete) spielt der Zionismus in der internationalen Politik eine nicht mehr zu übersehende Rolle als permanenter Brandherd im Nahen Osten. Wichtiger aber als der Staat Israel muss hier der zunehmende Einfluss des Zionismus in den USA eingeschätzt werden, insbesondere auf die dort betriebene Außenpolitik. Man kann sagen, dass diese seit 1989 (Zusammenbruch der Sowjetunion) vom Zionismus dominiert wird. So war beispielsweise auch Obama trotz verschiedener Bemühungen nicht in der Lage, die Fortsetzung der israelischen Siedlungspolitik im Westjordanland und in Ostjerusalem zu unterbinden.
[4] Wie auch aus der Entwicklung des nachchristlichen Judaismus deutlich wird, stellt das Christentum nicht eine Universalisierungsvariante des Judaismus dar, sondern einen revolutionären Sprung in der religiösen Entwicklung, der, was die Dimension anlangt, den Sprung vom Heidentum zum Sinai-Judentum übertrifft.
Der Abschnitt [1] steht klar in der Tradition des christlichen Antijudaismus. Der Abschnitt [2] kommt einesteils kulturalistischem Rassismus sehr nahe: „Juden werden verlässlich so sozialisiert, dass sie einfach …“ Andernteils findet sich im Abschnitt [2] expliziter sekundärer Antisemitismus: „Die Juden sind selber schuld, wenn …“ Der Abschnitt [3] entwickelt klaren Antizionismus aus traditionellem christlichen Antijudaismus. Und aus dem Abschnitt [4] geht hervor, dass der heutige, gerade auch von Christen unternommene Versuch schlechterdings abzulehnen ist, die religiösen Anliegen von Judentum und Christentum in einer – dann auch noch den Islam einbeziehenden – „abrahamitischen Mischreligion“ aufgehen zu lassen.
Zusammenfassend erkennt Wolfgang Gedeon auf S. 101 das Folgende:
Als sich im 20. Jahrhundert das politische Machtzentrum von Europa in die USA verlagerte, wurde der Judaismus in seiner säkular-zionistischen Form sogar zu einem entscheidenden Wirk- und Machtfaktor westlicher Politik. So haben wir heute in Europa folgende Situation: Der vormals innere geistige Feind des Abendlandes stellt jetzt im Westen einen dominierenden Machtfaktor dar, und der vormals äußere Feind des Abendlandes, der Islam, hat via Massenzuwanderung die trennenden Grenzen überrannt, ist weit in die westlichen Gesellschaften eingedrungen und gestaltet diese in vielfacher Weise um. Geistig vorbereitet wurde diese Entwicklung vor allem dadurch, dass den Europäern ihre christlich-humanistische Grundorientierung abhanden gekommen ist.
Alles in allem wird hier jedem Versuch die Grundlage entzogen, gerade von der Grundhaltung religiöser Menschen her zu einem guten Miteinander in einer von religiöser Vielfalt gekennzeichneten Einwanderungsgesellschaft zu kommen. Obendrein wird gerechtfertigt, warum die abendländische Geschichte gerade nicht die einer „jüdisch-christlichen“ Kultur war, sondern die einer ständigen Ausgrenzung von Juden seitens der meisten Christen (siehe dazu auch S. 103f: „Gibt es eine jüdisch-christliche Religion und eine jüdisch-christliche Kultur?“ und S. 104f: „Was bedeutet ‚Abendland‘, was bedeutet ‚Europa‘, was bedeutet ‚Untergang des Abendlandes‘?“). „Die Juden passen einfach nicht zum christlichen Abendland“, ja sie schädigen Europa wie immer schon durch jene zionistische Übersteigerung des Judentums, welche allzu großen Einfluss auf die US-amerikanische Politik gewonnen hat: Das sind die Kernaussagen aus jenem Buchkapitel, das der Rolle von Religion für Politik gewidmet war.
3. Zum Antizionismus
Nicht nur in christlich-antijudaische Zusammenhänge, sondern auch in seine Erörterung der „Ideologisierung des Antinazismus“ bettet Gedeon seine Befassung mit dem Zionismus ein (S. 148ff). Dieser spiele nämlich eine besondere Rolle bei der „Ideologisierung“ sowohl des Antinazismus im Allgemeinen (nämlich unter Betonung einer Alleinschuld Deutschlands am Zweiten Weltkrieg) als auch des Holocaust im Besonderen (unter Betonung von dessen „Singularität“ und der Deutschen als „Tätervolk“).
Bei seiner Kritik an der Rede von der „Singularität des Holocaust“ lässt Gedeon einmal mehr den traditionellen Antijudaismus anklingen und führt eine Argumentationsfigur an, die – nach seinen Eindrücken – „weder Elie Wiesel noch die anderen darüber sich auslassenden Zionisten explizit benennen, die aber letztlich all diesen Äußerungen zugrunde liegt“, nämlich:
Der Holocaust unterscheidet sich von allen anderen Massenverbrechen vor allem dadurch, dass er an Juden verübt worden ist. Wenn man nun der Ansicht ist, die Juden seien immer noch das auserwählte Volk Gottes, dann sind natürlich jüdische Opfer mehr wert als ukrainische oder japanische, und man kann dementsprechend eine exklusive Singularität für den Holocaust gegenüber anderen Massenverbrechen beanspruchen.
Den Kern von Zionismus arbeitet Gedeon, ganz in der Argumentationslinie seiner oben dargestellten religionsgeschichtlichen Sichtweise, dabei so heraus:
Zionismus ist keine Religion, sondern eine nationalistische Ideologie, die glaubt, einen Sonderstatus für Israel und für Juden allgemein politisch einfordern zu können.
Diesen Sonderstatus erläutert Gedeon im Hinblick auf Israel unter Rückgriff auf ein Zitat eines jüdisch-amerikanischen Autors wie folgt: Israel – dessen Existenzrecht er ausdrücklich nicht bestreitet – könne sich Tabubrüche wie »die Rhetorik ethnischer Homogenität und Deportationen überall« erlauben. Es könne »sein Territorium erweitern, eine Grenzmauer bauen, Siedlungen in besetzten Gebieten errichten, mit scharfer Munition auf Demonstranten schießen oder illegal Tötungen und Häuserabrisse vornehmen, ohne mit Boykotten und Sanktionen rechnen zu müssen«.
In der deutschen Innenpolitik erkennt Gedeon an vielen Stellen seines Kapitels 1 den Zionismus am Werk und verortet ihn insgesamt so (S. 152):
In der Rechtsprechung äußert sich der zionistische Einfluss in einer Einschränkung der Meinungsfreiheit. Wir haben bei uns für alles und jedes eine Statistik, aber keine über die Anzahl der Verurteilungen wegen »Leugnung des Holocaust«. Mutmaßlich gab es in Deutschland einige tausend Prozesse deswegen. Einige hundert Menschen, wenn nicht mehr, sind zu teilweise hohen Gefängnisstrafen wegen solcher »Meinungsdelikte« verurteilt worden, ohne dass sie dabei zu Gewaltmaßnahmen aufgerufen hätten. […] Man kann nicht in China, in der Mongolei und auf der ganzen Welt Vorträge über Meinungsfreiheit und Demokratie halten und im eigenen Land die Leute ins Gefängnis sperren, wenn sie eine gegebenenfalls auch falsche Ansicht über bestimmte historische Ereignisse haben. Das bedeutet nicht nur eine Deformierung unserer Rechtskultur, sondern macht unsere Politik und den dahinter stehenden Zeitgeist unglaubwürdig und verlogen“.
Und in der internationalen Politik lässt sich der Einfluss des Zionismus nach Gedeon wie folgt erkennen (152f):
Hier gibt es neben den USA und Deutschland bald kein anderes Land mehr auf der Welt, das bereit wäre, israelische Staatsverbrechen sanktions-, ja kommentarlos zu tolerieren; z. B. das Massaker, das die Israelis zum Jahreswechsel 2008 / 2009 im Gaza angerichtet haben: 1500 Zivilisten, darunter 500 Kinder, wurden vor den Augen der Weltöffentlichkeit massakriert, Schulen, Krankenhäuser und UNO-Gebäude bombardiert, Phosphorgranaten in Schulhöfen abgeworfen usw. Brennende Schulkinder – ein Aufschrei der westlichen Öffentlichkeit? Fehlanzeige! Empörung natürlich über Achmadinedschad, natürlich über die Taliban, natürlich über Saddam Hussein, natürlich über Gaddafi usw., aber über Israel? Solch hanebüchene Widersprüchlichkeiten im Verhalten der westlichen Staaten zeugen davon, wie fundamental der Zionismus Politik und Denken des Westens bestimmt. Über die spezifische Prägung und Ausrichtung des Antinazismus, wie es Slezkine beschrieben hat, wurde der Zionismus, die politisierte Idee von der Auserwähltheit des jüdischen Volkes, sozusagen durch die Hintertür zu einem tragenden Fundament der westlichen »Zivilreligion« und errang in der westlichen Politik eine mächtige Position.
Das alles sei hochgefährlich auch aus dem folgenden Grund (S. 220):
Der Zionismus aber ist ein integraler, wenn nicht dominanter Bestandteil des westlichen Systems. Deshalb hat der Widerspruch zwischen Islam und Zionismus auch starke Auswirkungen auf die innere Stabilität des westlichen Systems. Es geht dabei nicht nur um territoriale Ansprüche im Nahen Osten, sondern um den ideologischen Widerspruch zwischen zivilisatorischem Progressivismus und kulturfundamentalistischem Traditionalismus. Die einen halten die anderen für rückständig und demokratiefeindlich, die anderen die einen für gottlos und verlottert. In der Auseinandersetzung zwischen Westen und Islam wird der Westen mutmaßlich immer zionistischer werden, und die größte Gefahr dabei wäre ein eskalierender Zusammenstoß im Nahen Osten, in und um Israel. Der von Israel geplante und vom Westen geförderte Angriff auf den Iran könnte den Startschuss hierfür bedeuten.
Doch woher weiß man, dass dies alles nicht bloß Interpretationen anderweitig vielleicht plausibler zu erklärender Züge israelischer, deutscher und überhaupt westlicher Politik sind, nicht aber auf das Wirken einer jüdischen Weltverschwörung zurückgehen? Hier kommen die „Protokolle der Weisen von Zion“ ins Spiel, denen Gedeon die Seiten 153f widmet. Zu ihnen führt er aus:
- Dass diese „wissenschaftlich längst als Fälschung entlarvt“ wären, „stimmt freilich so nicht“.
- Zu den „Protokollen“ gäbe es zwei Ansichten, und für keine gäbe es „im wissenschaftlichen Sinn eindeutige Belege“. Folgendes wären die Positionen: „Die vermeintlichen ‚Wissenschaftler‘ sehen den Verfasser […] im Umkreis des zaristischen Geheimdiensts“ – und die anderen meinen, die Protokolle wären „die Studie einer jüdisch-zionistischen Loge aus Odessa“.
- Seine eigene Beurteilung, die „im Wesentlichen von einer allgemeinen Plausibilität her erfolgen“ müsse, gestaltet Gedeon so aus, dass ihm eine Autorenschaft aus dem Umfeld des Zionismus als wahrscheinlicher erscheine als die – von ihm als nur quasi-wissenschaftlich gekennzeichnete – „Fälschungsthese“.
- An den Protokollen fällt Gedeon vor allem auf: „Intellektuell […] sind sie hochwertig, ja genial. Es geht um ein politisch-strategisches Herrschafts- und Eroberungskonzept“. Und in seiner Gesamtwürdigung kommt er zum Schluss: „Bei den Urhebern der Protokolle geht es also um zionistische Cliquen, von denen einige sicher nach diesem Konzept arbeiten dürften“.
- Und als Beweis dafür, dass diese Deutung auch höchstwahrscheinlich stimmt, fügt Gedeon an: „Dass sie [d.h. diese Cliquen] dabei im 20. Jahrhundert sehr erfolgreich waren, wird deutlich, wenn man sich gewisse Analogien zwischen der in den Protokollen propagierten politischen Strategie und Taktik und zum Beispiel den politischen Methoden der Brüsseler EU vor Augen hält“.
Damit ist für Gedeon klar: Zionisten sind nicht nur in Israel, sondern vielerorts im Westen am Werk; sie schaden Deutschland und dem Westen; und antizionistisch zu sein, ist deshalb die gebotene Haltung eines jeden, der Deutschland, dem Westen und der Welt Gutes will.
4. Zum sekundären Antisemitismus
Klar in den Bereich von „sekundärem Antisemitismus“ gelangt Gedeon schon auf S. 25f, wo er sich mit der Frage befasst, ob „eine strafrechtliche Verfolgung von ‚Holocaust-Leugnung‘ legitim“ sei (Hervorhebungen im Original). Zweifelsfrei feststehende geschichtliche Tatsachen zu seinem Argument auf Distanz haltend, schreibt Gedeon von einer „historischen Meinung bezüglich nationalsozialistischer Verbrechen an europäischen Juden im Zweiten Weltkrieg in der Form, wie sie die große Mehrheit der Historiker an westlichen Universitäten vertritt“. Da steht klar zwischen den Zeilen: Eine Minderheit der Historiker, zumal außerhalb des Westens, bestreitet die Tatsache des Holocaust. Seine eigene Position lässt Gedeon an dieser Stelle in der Schwebe mit der folgenden Formulierung: „die Faktizität des Holocaust in der offiziellen Version wird hier unterstellt“. Hier schon; anderswo vielleicht nicht; unterstellen kann man ja vielerlei; und wo es eine „offizielle Version“ gibt, dort findet sich gewiss auch eine inoffizielle und vielleicht ja gar nicht unzutreffende Version. Auf seiner Webseite allerdings – und implizit an mehreren Stellen des Buchs über den „Grünen Kommunismus“ – erklärt Gedeon ausdrücklich, er selbst ziehe die Tatsache des Holocaust nicht in Zweifel.
Im Kern seines Argumentationsgangs wendet sich Gedeon dagegen, dass die „gesellschaftliche Durchsetzung“ der „Akzeptanz“ dieser (bloßen?) westlichen Mehrheitsmeinung nicht nur durch „demokratische Information und Diskussion“ erfolge (also wohl unter Geltung der Regel, dass man auch anderer Meinung sein, den Holocaust somit gerne auch bestreiten dürfe). Vielmehr würde – was ja auch stimmt – der Umgang mit dem Holocaust jutiziabilisiert, d.h. die Leugnung oder Relativierung des Holocaust zu einem Straftatbestand gemacht. Eben das hält Gedeon für falsch. Zur Stützung seiner Position führt er eine Reihe von Zitaten prominenter Wissenschaftler auf.
Die durch Zitate sich selbst angeeigneten Argumente für die eigene Position sind die folgenden:
- Solange man die Holocaust-Leugnung nicht mit einem Aufruf zur Gewalt verbinde, soll man dieses Bestreiten historischer Tatsachen akzeptieren. Das lässt sich so lesen: Gewalttätige Extremisten dürfen den Holocaust nicht leugnen, Salon-Rechte aber schon.
- Man entzieht sich einer wissenschaftlich gebotenen Nachweispflicht, wenn man Zweifel am Holocaust bestraft. Das lässt sich so lesen: Wer die Holocaust-Leugnung justiziabilisiert, gibt faktisch zu, keine überzeugenden Gründe für dessen Tatsächlichkeit vorbringen zu können; und somit ist gerade das Verbot der Holocaust-Leugnung ein Beweis dafür, dass die Wahrheit unterdrückt wird.
- Wer die Holocaust-Leugnung unter Strafe stellt, schränkt das Recht auf freie Meinungsäußerung ein und übt Gesinnungsjustiz. Das lässt sich so lesen: Ob es den Holocaust gegeben hat oder nicht, ist eine Meinungs- oder Überzeugungsfrage. Also tut man gut daran, nach jenen Gruppen zu suchen, die von einer Gesinnungsjustiz profitieren, die eine freie Bekundung der eigenen Meinung oder Überzeugung zum Holocaust unterbinden. Und das sind – bei Gedeon freilich an dieser Stelle ungenannt – recht offensichtlich „die Juden“, die aufgrund der (bloßen) Behauptung, Deutsche hätten den Holocaust begangen, dem deutschen Volk Geld abpressen und sich moralisch über es erheben.
Wenn schon nicht auf den geschriebenen Zeilen, so doch zwischen ihnen sowie als dem eigenen Mit- und Nachdenken sich erschließender Kontext äußert sich hier unverkennbar eine der oben umrissenen Ausprägungsformen von sekundärem Antisemitismus. Auch die Klage von S. 146, wie schlimm es sei, dass die Deutschen „ein riesiges Denkmal zur Erinnerung an gewisse Schandtaten“ ihrer Geschichte in Berlin errichtet hätten, bekräftigt jene Deutung.
Dem fügt sich gleich auch die Klage an, dass dem durchaus „einer besonderen Würdigung“ bedürfenden „Verbrechen der Nationalsozialisten an den europäischen Juden“ nicht das „moral bombing“ der Briten sowie die nukleare Bombardierung von Hiroshima und Nagasaki durch die USA „als Zivilisationsbruch und größtmögliches Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ (S. 147) an die Seite gestellt würde. Das aber misslinge deshalb, weil Zionisten „eine dämonologisch manichäistische Aufteilung der Welt in reine Täter und reine Opfer [durchgesetzt hätten]: die Deutschen die Täter, die Juden die Opfer“ (S. 149). Im Grunde habe man „die Holocaust-Ideologie zu einer Art Zivilreligion des Westens“ gemacht, die faktisch das Christentum abgelöst hätte (S. 152).
5. Wolfgang Gedeon zum Antisemitismus
Es ist nicht nötig, Wolfgang Gedeon eine Haltung zum Antisemitismus einfach zuzuschreiben. Er hat seine eigene Position vielmehr selbst klar bestimmt. Das geht hervor aus dem im Folgenden unverkürzt wiedergegeben, nur mit Referenzziffern versehenen Abschnitt „Was ist Antisemitismus?“ von S. 150f seines Buches:
[1] Die unzulässige Ausweitung von Schuld im Begriff »Tätervolk« findet ihr Gegenstück im freilich nicht explizit verwendeten Begriff »Opfervolk«. Dieses sind in dieser Sichtweise natürlich die Juden, und das nicht erst seit Hitler, sondern schon die gesamte abendländische Geschichte hindurch. Auf dieser definierten Rolle als absolutes Opfervolk fußt die zeitgeistkorrekte Deutung des »Antisemitismus«: die Christen, die Deutschen, die Polen oder wer auch immer, die Täter, die Juden die Opfer.
[2] Es gebe kein objektives Korrelat für Antisemitismus, heißt es. Vielmehr handle es sich um ein rein psychologisch fassbares Ressentiment. Immer wenn es eines Sündenbocks bedurfte, hätten die Juden herhalten müssen.
[3] Um dieses psychologistische Deutungsdogma wissenschaftlicher daherkommen zu lassen, gibt man inzwischen Millionen für sog. »Lehrstühle für Antisemitismus-Forschung« aus, denen im Wesentlichen die Aufgabe obliegt, den Vorwurf des »Antisemitismus« auf immer weitere Argumentationsbereiche auszudehnen.
[4] Ziel ist, Juden im allgemeinen und den Staat Israel im besonderen nicht nur vor jedweder Kritik abzuschirmen, sondern jedwede diesbezügliche Kritik als »antisemitisch« zu diskreditieren und die Kritiker als Sympathisanten nationalsozialistischer Schandtaten zu diffamieren.
[5] Wer zum Beispiel die offizielle Gedenkpraxis für einseitig hält, weil sie immer nur des Holocausts und der jüdischen, nicht aber der zahllosen anderen Opfer von Krieg und Terror gedenkt, gilt inzwischen schon als »antisemitisch«. Wer – nach 70 Jahren! – gar einen historischen »Schluss-Strich« unter die anhaltende Diskussion um deutsche Schuld und Wiedergutmachung fordert, macht sich eines »Schluss-Strich-Antisemitismus’« schuldig usw. So hält die sog. Antisemitismus-»Forschung« ein breites Reservoir an Argumentationskeulen bereit, um entsprechende Kritiker in Schach zu halten. Diese Art Forschung hat wenig mit Wissenschaft zu tun, aber viel mit Ideologie und psychologischer Kriegsführung.
[6] Im Wesentlichen will man verhindern, dass eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen »Antisemitismus« und »Antizionismus« gemacht wird und diese Eingang in die politische Diskussion der westlichen Gesellschaften findet. Dabei geht es im einen Fall (Antisemitismus) um einen undifferenzierten pauschalen Hass gegen alles Jüdische, den jeder vernünftige und anständige Mensch ablehnt, im anderen Fall (Antizionismus) um politische Kritik am Staat Israel sowie an zionistischen Cliquen, die gerade in den USA sehr stark sind.
[7] Ist Antisemitismus also nur ein psychologisch erklärbares Phänomen, oder ist diese Weise der Deutung ein zeitgeist-typischer Psychologismus, mit dem eine differenzierte Diskussion des Themas blockiert werden soll? Sicherlich gibt es Situationen und Aktionen, in denen die Sündenbock-Deutung ihre Berechtigung hat. Aber trifft das wirklich für das Gesamtphänomen zu? Könnte es vielleicht sein, dass, wie der Jude L. Deutsch schreibt, die Juden genügend Gründe für die ihnen entgegengebrachten Feindseligkeiten geliefert haben? Lassen wir einmal die historischen Vorwürfe beiseite, in denen es um jüdische Kollaboration mit äußeren Feinden, insbesondere den islamischen Aggressoren geht, um Zinswucher im Mittelalter und ähnliches! Lassen wir auch den religiösen Leitfaden der Juden, den Talmud, aus dem Spiel, in dem Dinge über Nichtjuden formuliert werden, die nicht nur diese, sondern auch viele Juden entsetzen.
[8] Bleiben wir in unserer Zeit und schauen auf Israel, das viele wegen seiner internationalen Isoliertheit inzwischen als globalisiertes Ghetto des modernen Judentums betrachten! In den letzten Jahren gab es immer wieder Umfragen, auch in Europa, die ergaben: Eine große Mehrheit der Bevölkerung hält Israel für die größte Bedrohung des Weltfriedens. Die erwartete Reaktion aus Jerusalem, besonders heftig vom damaligen Premier Ariel Sharon vorgetragen: Die Europäer seien eben »Antisemiten«. In diesem Fall kann sich aber jeder Zeitungsleser ein eigenes Urteil bilden, ob das, was Sharon da »Antisemitismus« nennt, psychologischer Ausdruck eines Sündenbockdenkens der Europäer ist, oder ob in der Politik Israels vielleicht doch eine objektive Grundlage für diese zunehmend antiisraelische Einstellung der Weltbevölkerung vorliegt.
Der Abschnitt [1] beschreibt eine zwar in der politischen Diskussion immer wieder genutzte Denkfigur zumal derer, die deutsche Identität vor allem vom Holocaust her zu begreifen versuchen. Eine solche Engführung kann man mit guten Gründen kritisieren. Doch derlei kann die Tatsache nicht zum Verblassen bringen, dass tatsächlich die Geschichte Europas ganz markant auch eine Geschichte der Verfolgung von Menschen jüdischer Abkunft oder jüdischen Glaubens war. Das aber zu bestreiten, führt unmittelbar zum sekundären Antisemitismus.
Der Abschnitt [2] steht argumentativ nicht auf soliden Beinen. Erstens gibt es sehr wohl „objektive Korrelate“ für Antisemitismus. Sie wurden im Abschnitt II dieses Kurzgutachtens vor Augen geführt. Zweitens wird insinuiert, niemals hätten Juden „als Sündenböcke herhalten müssen“. Das entspricht aber nicht den Tatsachen.
Der Abschnitt [3] ist seinerseits ressentimentgeladen. Die Professuren für Antisemitismusforschung sind nämlich wirkliche, keine bloß „sogenannten“ Professuren; und sie haben – im Zusammenhang der Freiheit von Forschung und Lehre – keine andere Aufgabe als die, empirisch möglichst zutreffende Aussagen über das vielfältige und sich wandelnde Phänomen des Antisemitismus zu erarbeiten. Über diese Aussagen und über deren politische Verwendung kann man gewiss streiten. Doch der Abschnitt [3] tut so, als sei Antisemitismusforschung an sich ideologisch, illegitim oder von der Sache her unsinnig.
Der Abschnitt [4] schießt weit über sein Ziel hinaus, die politische Funktionalisierung der Autorität von Antisemitismusforschern zu kritisieren. Eine nähere Befassung mit den öffentlichen Aussagen von Antisemitismusforschern wird nämlich zeigen, dass deren übergeordnete Ziele durchaus nicht – und schon gar nicht allein – die genannten sind. Allenfalls nutzt mancher ihm passende Befunde der Antisemitismusforschung, und zwar ganz im Rahmen seiner politischen Meinungsfreiheit, als Munition bei politischen Auseinandersetzungen des beschriebenen Inhalts.
Der Abschnitt [5] schießt ebenfalls weit übers Ziel hinaus. Zwar werden mancherlei „Argumentationskeulen“ der angesprochenen Art tatsächlich verwendet. Doch sie treffen selten – und schon gar nicht wirkungsvoll – jene, die wirklich nur Einseitigkeiten der Gedenkpraxis kritisieren, oder die es schlicht für angemessen erklären, wenn der Holocaust allmählich historisiert und nicht länger als stets möglicher Sündenfall gerade der jetzt in Deutschland Lebenden behandelt wird. Und gerade im Schlusssatz Gedeons merkt man, wie ressentimentgeladen dieses Thema vom Verfasser behandelt wird.
Im Abschnitt [6] geht Richtiges mit Falschem durcheinander. Richtig – und hoffentlich auch Gedeons persönliche Einstellung ausdrückend – ist der Satz, dass es sich beim Antisemitismus „um einen undifferenzierten pauschalen Hass gegen alles Jüdische handelt, den jeder vernünftige und anständige Mensch ablehnt“. Falsch ist, dass in der deutschen Öffentlichkeit und Wissenschaft eine Unterscheidung von „Antisemitismus“ und „Antizionismus“ unterbunden würde sowie jegliche Kritik am Staat Israel oder an jüdischen Netzwerken schlechterdings als antisemitisch geächtet würde. Ganz im Gegenteil ist derlei Kritik weit verbreitet und ohne Zweifel zulässig. Nur macht es einen großen Unterschied, ob sie aus einer kulturalistisch-rassistischen Haltung erfolgt und in welchem Ton sie vortragen wird. Gedeons Formulierung von „zionistischen Cliquen“ legt dabei durchaus die Frage nahe, wieviel tatsächlicher Antisemitismus sich in derlei Antizionismus wohl ausdrücken mag.
Im Abschnitt [7] klingt unverkennbar sekundärer Antisemitismus an. Mittels der rhetorischen Figur „Lassen wir einmal beiseite …“ wird die Liste der üblichen Aussagen darüber eingeleitet, warum eben doch „die Juden“ an ihrer Verfolgung schuld wären. Und als einleitendes Signalwort liest man die aus Nazi-Quellen wohlbekannte rassistische Wendung „der Jude XY“ – gerade so, als ob Jude zu sein auch schon die inhaltliche Richtigkeit oder Falschheit einer Aussage verbürge.
Und der Abschnitt [8] führt erst recht vor Augen: Die Juden sind an vielen Weltübeln schuld, diesmal als Israelis, und die Mehrheit der Europäer weiß das auch! Folglich wäre es ganz ungehörig, diese realistische Einschätzung der Tatsachen – wie das in perfider Weise israelische Politiker tun – als „antisemitisch“ auszugeben. Sie stellten sich also wieder einmal als Opfer dar, während sie doch in Wirklichkeit die zu kritisierenden Täter wären. Eben das ist nun aber eine typische Argumentationsfigur des sekundären Antisemitismus.
6. Eine knappe Gesamtwürdigung
Es ist richtig, dass Wolfgang Gedeon im untersuchten Buch nirgendwo gegen Juden hetzt und auch an keiner Stelle jenen biologisch-rassistischen Antisemitismus vertritt, der – aufgrund zumal des Holocaust und seiner inhaltlichen Begründung – bei der Rede vom Antisemitismus zuallererst in den Sinn kommt. Gedeon nennt den Holocaust auch klar ein Massenverbrechen, was offensichtlich voraussetzt, dass er die Tatsächlichkeit des Holocaust nicht bestreitet. Er macht aber ein Problem daraus, dass die Bestreitung dessen, was unzweifelhaft der Fall war, auch strafbewehrt sein soll. Eine solche Haltung indessen kommt allein jenen zupass, die – aus welchen Gründen auch immer – die Tatsächlichkeit des Holocaust gerade in Zweifel ziehen wollen.
Im Übrigen zeigte die Untersuchung der einschlägigen Passagen des Buchs von Wolfgang Gedeon über den „Grünen Kommunismus“:
- Der Rahmen von Gedeons Argumentation besteht im christlich begründeten Antijudaismus.
- Gedeons Position ist ausdrücklich antizionistisch, und zwar darin, dass er das Handeln des Staates Israel sowie jüdischer Netzwerke als abträglich für Deutschland und die internationalen Beziehungen ansieht. Über eine völlig normale und legitime Kritik an der Politik eines anderen Staates oder an Bestrebungen einzelner Bevölkerungsgruppen geht Gedeon aber zweifach hinaus. Erstens hält er eine „zionistische Verschwörung“ nicht nur für möglich, sondern sieht sie auch ausdrücklich am Werk. So begründeten Antizionismus will er zwar vom Antisemitismus klar abtrennen. Doch er führt – zweitens – den Zionismus unmittelbar auf religionsgeschichtliche Eigentümlichkeiten des nachchristlichen Judentums zurück. Antijudaismus lässt sich aber nicht vom Antisemitismus trennen.
- Wiederkehrend zeigen sich zwei Denkfiguren des sekundären Antisemitismus: Es sind „die Juden“ selbst daran schuld, wenn sie nicht gemocht und verfolgt werden; und es sorgen Juden dafür, dass in Deutschland die Meinungsfreiheit eingeschränkt wird und Deutsche kein komplexfreies Verhältnis zur eigenen Geschichte mehr erlangen können. Es wird schon so sein, dass Gedeon sich nicht in den Reihen derer sieht, für die der sekundäre Antisemitismus bloß ein Teil ihres umfassenden Antisemitismus ist. Doch er vertritt Sichtweisen, die ihrerseits Bestandteil einer klar antisemitischen Weltsicht sind.
Insgesamt lässt sich den Stellungnahmen Wolfgang Gedeons zum Antisemitismus entnehmen, dass er sich als Antizionist versteht, dies aber nicht mit Antisemitismus gleichgesetzt haben will. Außerdem sagt er klar, dass einen „undifferenzierten pauschalen Hass gegen alles Jüdische […] jeder vernünftige und anständige Mensch ablehnt“, als der er sich zweifellos selbst sieht. Subjektiv mag Wolfgang Gedeon also kein Antisemit sein; doch objektiv fallen nicht wenige Aussagen über Juden im Buch über „Grünen Kommunismus“ unter die Teilbegriffe von Antisemitismus.
Durchaus stützt sich dieses Urteil nicht auf willkürlich herausgegriffene Zitate, sondern auf eine Gesamtwürdigung der von Gedeon verwendeten Argumentationsstrukturen. Wer dieses Urteil zurückweisen will, muss deshalb vor allem die untersuchungsleitenden Begriffe von Antisemitismus, Antijudaismus und Antizionismus als ihrerseits untauglich zurückweisen. Dafür hätte er sich mit dem Mehrheitskonsens der einschlägigen Fachwissenschaftler anzulegen. Das aber liefe mit großer Wahrscheinlichkeit nicht auf einen Sieg in der dann zu führenden Debatte hinaus.
III. Politische Ratschläge
Eine politische Partei ist in erster Linie eine auf Wahlerfolge ausgehende Mannschaft, doch kein Debattierclub. Deshalb muss eine politische Partei – anders als eine Universität – nicht in erster Linie ein Forum kontroverser Debatten samt folgenloser Meinungsfreiheit sein. Sie braucht zwar immer wieder gründlichen Streit über ihre politische Gesamtlinie sowie über Lösungsvorschläge für anstehende politische Gestaltungsaufgaben. Doch innerhalb einer bis auf weiteres festgelegten Gesamtlinie und grundsätzlicher Politikvorstellungen benötigt sie ein großes Maß an begrifflicher und argumentativer Geschlossenheit. Zerstrittenheit schätzt nämlich der Wähler nicht; und an Streitfronten pflegen politische Gegner oft mit durchaus nicht sachorientierter, sondern – ganz im eigenen Sinn – erfolgsorientierter Kritik anzusetzen, d.h. „auf Wirkungstreffer auszugehen“. Also verkennt die Spielregeln von Parteipolitik, wer dort „analytische Denkanstöße“ gerade auf solchen Feldern geben will, die der politische Gegner als ihn bevorteilenden Kampfplatz schätzt.
Die schlimmste Kritik, die ein Künstler, ein Intellektueller, ein Politiker oder eine politische Partei in Deutschland durch gleich welche „Denkanstöße“ auf sich ziehen kann, ist nun aber der Vorwurf des Rassismus bzw. des Antisemitismus. Derlei politisch meist existenzvernichtende Kritik trifft jeden ganz zu Recht, der tatsächlich ein Rassist oder Antisemit ist. Beide Einstellungen oder Haltungen sind in einer um die Würde des Menschen gelagerten freiheitlichen demokratischen Grundordnung nämlich ganz inakzeptabel. Also gehören Rassisten oder Antisemiten nicht in staatstragende Parteien und in ihnen schon gar nicht auf verantwortliche Positionen.
Nicht selten kommt es allerdings vor, dass zwar gutgemeinte, doch missverständliche Äußerungen dazu ausgenutzt werden, einem Gegner Rassismus oder Antisemitismus zuzuschreiben. In solcher Funktionalisierung mag ein Großteil der Kritik an Gedeon durchaus zu verstehen sein. Eben deshalb aber muss, wer immer in der Öffentlichkeit steht, derlei Äußerungen umsichtig unterlassen – und zwar gerade dann, wenn er kein Rassist oder Antisemit ist. Sind solche Aussagen dennoch unterlaufen, so muss man sie klarstellen und sich von jedem verwerflichen Aussagengehalt distanzieren. Meist tut man außerdem gut daran, um Entschuldigung für missverständliche Äußerungen solcher Art zu bitten. Letzteres muss aus redlichen, nicht nur taktischen Motiven erfolgen.
Wer nicht in der Lage ist, als rassistisch oder antisemitisch auslegbare Äußerungen zu unterlassen, schädigt seine Partei und gehört schon gar nicht auf Führungspositionen einer staatstragenden Partei. Das gleiche gilt für jeden, der nicht willens ist, missverstandene Aussagen klarzustellen, von ihnen zweifelsfrei abzurücken und um aufrichtig um Entschuldigung für jenen Schaden zu bitten, den er anderen mit solchen Aussagen zugefügt hat.
Alle diese Grundsätze gelten erst recht für Parteien im rechten Bereich des politischen Spektrums. Sie sind nämlich die Hauptverdächtigen, sobald es im politischen Streit um eine mögliche Neigung zum Rassismus oder Antisemitismus geht – oder gar darum, der Ausbreitung beider verwerflicher Haltungen werde Vorschub geleistet. Insbesondere eine Partei, die sich bewusst rechts von CDU/CSU aufstellt, muss damit rechnen, dass die Suche nach sie belastenden rassistischen oder antisemitischen Aussagen ihrer Mitglieder und Repräsentanten als wünschenswertes Mittel des Kampfs gegen sie genutzt wird. Obendrein darf eine Partei rechts der Union zu keiner Zeit mit irgendwelcher Nachsicht rechnen, falls sie sich nicht rasch und klar von rassistischen und antisemitischen – bzw. von als rassistisch und antisemitisch ausdeutbaren – Aussagen eines ihrer (zumal herausgehobenen) Mitglieder distanziert.
Also müssen die für das Geschick einer Partei Verantwortlichen ihre Prioritäten klar setzen. In erster Linie haben sie für den Erfolg ihrer Mannschaft zu sorgen, also die Interessen Einzelner hintanzustellen. Das gilt nicht nur für persönliche Positionskämpfe, die Parteiführer bei der Handhabung innerparteilicher Probleme eben auch auszutragen pflegen. Sondern das gilt gerade auch beim Blick auf Parteimitglieder, die durch Aussagen, Schriften oder Verhaltensweisen ihrer Partei schaden. Im Zweifelsfall darf man dann nicht die Nachteile für die Betroffenen minimieren, sondern muss den Schaden für die Gesamtpartei möglichst gering halten.
Es ist verständlich, dass eine junge Partei wie die AfD in ihren Reihen und in den Rängen ihrer Verantwortungsträger auch solche Personen haben wird, die – teils aufgrund früherer Aktivitäten, teils aufgrund unzulänglicher Erfüllung ihrer neuen Aufgaben – zu einer Belastung ihrer Partei werden. Es ist ebenso verständlich, dass so mancher, der in eine neue Partei eingetreten und in ihr aufgestiegen ist, sich sehr darüber wundert, dass ausgerechnet das zum Schaden seiner Partei gereichen sollte, was ihn doch an eigenen Überzeugungen einst in diese Partei gebracht hat oder ihn in ihr aufsteigen ließ. In beiden Fällen muss für Parteiführer aber der Grundsatz gelten, dass der Erfolg der Mannschaft wichtiger ist als das Interesse eines Mitglieds dieser Mannschaft.
Im konkreten Fall ist nicht von einer Chance auszugehen, die Aussagen Wolfgang Gedeons ließen sich in der Öffentlichkeit als „in keiner Weise antijudaistisch oder (sekundär) antisemitisch“ auslegen. Der Vorwurf von Antisemitismus wird also an Wolfgang Gedeon kleben bleiben. Offen antizionistisch ist er ohnehin. Also bleibt die AfD solange sehr leicht angreifbar, wie Wolfgang Gedeon eines ihrer Mitglieder mit politischer Verantwortung ist.
Deshalb wäre es für die AfD am besten, Wolfgang Gedeon verzichtete auf sein Landtagsmandat und träte nicht länger als eines der Gesichter der AfD auf. Weil nun aber ein Großteil von Wolfgang Gedeons Positionen – wenn wohl auch nicht von den antisemitischen – in der AfD mehrheitsfähig zu sein scheint, wäre ein solcher Verzicht auf das Landtagsmandat gewiss ein nicht nur für den Betroffenen, sondern auch für nicht wenige Mitglieder und Wähler der AfD harter Schritt. Es ist auch wahrscheinlich, dass mit einem solchen Schritt die Empfindung widerfahrenden Unrechts verbunden ist.
Doch in einer Güterabwägung zwischen den persönlichen Interessen Wolfgang Gedeons und den Interessen seiner Partei wäre die Aufgabe des Landtagsmandats die zweifellos am wenigsten parteischädigende Lösung jenes Problems, das zur Erstellung dieses Gutachtens führte. Wenig nützt in diesem Zusammenhang die Mahnung, man solle sich nicht unter dem Druck öffentlicher Meinung taktisch verhalten. Beim Ringen um Sieg oder Niederlage in der Parteienkonkurrenz geht es nun einmal um taktisch richtiges Verhalten sowie um politische Kalküle, doch nur sehr nachrangig um den „Mut zur Wahrheit“. Dessen Stätte ist die wissenschaftliche Diskussion, nicht der politische Diskurs – was man normativ beklagen mag, faktisch aber hinzunehmen hat. Wer nämlich schon gar nicht in Parlamente gewählt wird, oder wer wieder aus ihnen herausgewählt wird, der kann das, was er für wahr hält, ja ohnehin nicht politikleitend machen; also ist bloßer „Mut zur Wahrheit“ fehlinvestiert. Folglich muss man sich entscheiden, ob man eher ein „politischer Bekenner“ oder ein „politischer Durchsetzer“ sein will. Unter manchen Umständen kann das zwar auf das gleiche hinauslaufen. Solche Umstände sind aber selten, und sie sind nicht jene, unter denen die AfD Baden-Württembergs derzeit zu handeln hat.
Sollte sich Wolfgang Gedeon nicht zum Verzicht auf sein Landtagsmandat durchringen wollen, liegt die Verantwortung für den Fortgang der Dinge allein bei der AfD-Fraktion des Landtags von Baden-Württemberg. Auch eine Nicht-Entscheidung, die den inzwischen eingetretenen Zustand fortdauern ließe, hätte die gleiche Wirkungen wie eine Entscheidung. Man würde die weitere Fraktionsmitgliedschaft Wolfgang Gedeons nämlich wahrnehmen als zumindest Billigung, wenn nicht gar als tatsächliche Unterstützung der nachgewiesenen antizionistischen, antijudaischen und (sekundär) antisemitischen Aussagen in Wolfgang Gedeons Buch über den „Grünen Kommunismus“. Falls aber die AfD die Entstehung einer solchen Wahrnehmung zuließe, wäre sie allein schon durch Unterlassen in einer Entscheidung über die politische Zukunft Walter Gedeons in Mithaftung für dessen Aussagen genommen. Das würde der AfD über Baden-Württemberg hinaus politisch schaden. Nutzen würden ihr hingegen Entscheidungen, die einen klaren Trennstrich zwischen akzeptablen AfD-Positionen und antisemitischen bzw. rassistischen Aussagen zögen, die eben keine akzeptablen AfD-Positionen sein können.
Also wäre einer auf politischen Erfolg ausgehenden Parteiführung anzuraten:
- Die AfD-Fraktion des Landtags von Baden-Württemberg bewegt – und zwar in einer möglichst gesichtswahrenden Weise – Wolfgang Gedeon zur Aufgabe seines Landtagsmandats.
- Falls dies nicht gelingt: Die AfD-Fraktion des Landtags von Baden-Württemberg schließt Wolfgang Gedeon aus der Fraktion aus.
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