DIE ZEIT über das ungarische MCC
Strategische Kontextbildung
Am 22. Dezember 2022 erschien auf S. 5 des Politikteils der Wochenzeitung DIE ZEIT ein Artikel über das Budapester Mathias Corvinus Collegium. Verfasst von Mariam Lau, hat er zur Überschrift: „Die Orbanologie. Konservative aus aller Welt pilgern zu einer Schule mitten in Budapest, wo man lernen kann, wie Viktor Orbán zu denken und zu reden“. Dieser Text bringt das Kunststück fertig, einerseits weitgehend zutreffende Informationen zu vermitteln, diese aber andererseits so zu kontextualisieren, dass nach dem Lesen als einzig angemessene Haltung zur dargestellten Institution die naserümpfende Ablehnung gelten mag. Weil ich selbst nach neun Monaten als Senior Fellow am MCC Budapest und nach vier Monaten als Forschungsdirektor am MCC Brüssel diese Institution ziemlich gut kenne, will ich nachstehend umreißen, was das MCC unbestreitbar ist – und welche herabwürdigenden Deutungskunstgriffe DIE ZEIT ihm hat zukommen lassen. Mit den letzteren setzt man sich am besten ironisch auseinander.
I. Was unbestreitbar der Fall ist
Benannt nach einem der wichtigsten Könige Ungarns (1443-1490, König seit 1458), ist das Mathias Corvinus Collegium eine im ganzen ungarischen Sprachraum tätige, multidisziplinäre Begabtenförderungsinstitution. Als solche steht sie in der Tradition jener Fachkollegien, in denen die universitäre Ausbildung studienbegleitend durch zusätzliche Bildungsinhalte vertieft wurde. Typisch für die aufs 19. Jh. zurückgehenden Fachkollegien ist gemeinsames Wohnen der Studierenden in Verbindung mit – je nach Wohnheim verschieden ausgerichteten – zusätzlichen Fachkursen, die von Hochschullehrern gegeben werden. Das MCC entstand freilich erst im Jahr 1996 dank finanzieller Unterstützung einer wohlhabenden ungarischen Familie. Bis heute ist es in Gestalt einer Stiftung organisiert. Es setzt sich die Förderung begabter junger Ungarn zum Ziel, damit diese später als kulturelle, wirtschaftliche und gesellschaftliche Elite zur Wohlfahrt ihres Landes beitragen können. Die Auswahl der Stipendiatinnen und Stipendiaten erfolgt auf der Grundlage von Bewerbungen durch ein leistungsbezogenes Verfahren.
2001 wurde mit rund vier Dutzend Studierenden ein eigenes Wohnheim am Budapester Gellért-Berg eröffnet, wo auch zusätzliche, kostenfreie Kurse in Rechts- und Wirtschaftswissenschaft, in Sozialwissenschaften und Internationalen Beziehungen sowie in der Kommunikationswissenschaft angeboten wurden. Die Zahl der Stipendiatinnen und Stipendiaten wuchs dann von Jahr zu Jahr. 2008 kam eine eigene Verlagstätigkeit des MCC hinzu, 2009 eine Akademie für angehende Führungskräfte. Nach 2010 startete man Bildungsprojekte auch im heute rumänischen Siebenbürgen sowie in der Karpatenukraine, wo starke ungarische Minderheiten leben. Im Jahr 2015 wurde das Bildungsprogramm des MCC auf Grundschüler und Gymnasiasten ausgedehnt. Leitgedanke war, den Geförderten praktische Erfahrungen auf solchen Gebieten zu ermöglichen, die nicht Teil des schulischen Bildungsprogramms sind. Neben Kursen für Studierende und Doktoranden wurden 2018 auch noch postgraduale Kurse eingeführt, darunter einer für weibliche Führungskräfte. Im gleichen Jahr startete ein Förderprogramm speziell für junge Roma. 2019 erweiterte sich das Angebot des MCC noch mehr, unter anderem durch ein Forschungsinstitut, bei dem es um solche Analysen sozialer Sachverhalte geht, die wissenschaftliche Sorgfalt mit breiter Verständlichkeit paaren.
Das Jahr 2020 brachte eine folgenreiche Wende: Auf Beschluss des mit breiter Fidesz-Mehrheit ausgestatteten Parlaments erhielt das MCC je zehn Prozent der Aktien der in staatlichem Besitz befindlichen Konzerne MOL (Energie) und Richter (Pharmazie). Gar nichts hat das mit dem zu tun, was DIE ZEIT ihren Lesern einflüstert: „Die EU wirft Orbán vor, ihre Fördermittel … zweckzuentfremden – zum Beispiel für eine politische Kaderschmiede“. Bemessen am Wert jener aus Staatsbesitz übereigneten Aktien kam ein Stiftungskapital von rund 1,7 Milliarden Euro zusammen. Von den – natürlich nie in solcher Höhe anfallenden – jährlichen Dividenden dieser Aktienpakete finanziert das MCC seither die eigenen Aktivitäten. Dabei werden rund 80 Prozent der jährlichen Mittel auf die unmittelbare Förderung der Stipendiatinnen und Stipendiaten verwendet. Dank dieses Kapitalschubs konnte sich das MCC nicht nur an den Ausbau seiner zentralen Einrichtung in Budapest machen, sondern außerdem 15 Bildungsstätten mit Studentenwohnheimen in ganz Ungarn errichten. Hinzu kommen neun weitere im übrigen ungarischen Sprachraum, d.h. in jenen Gebieten des Karpatenbeckens, die im Jahr 1920 der Vertrag von Trianon von Ungarn abtrennte. In der Regel bezieht das MCC an seinen Standorten zunächst provisorische Liegenschaften, übernimmt aber von Anfang an architektonisch bedeutende, doch jahrelang ungenutzte und deshalb in desolatem Zustand befindliche öffentliche Gebäude, saniert sie, und soll sie nach einigen Jahren zu Zentren des Unterrichts und des öffentlichen Lebens in der jeweiligen Stadt machen.
In den MCC-Bildungseinrichtungen sind derzeit über 6000 Stipendiatinnen und Stipendiaten bzw. Schülerinnen und Schüler eingeschrieben. Im Endausbau soll es rund 10.000 besonders talentierte Studierende in 35 Einrichtungen geben. Die neueste Niederlassung ist das MCC Brüssel, wo sowohl langfristig angelegte als auch kurzfristig Ergebnisse liefernde Forschungsarbeit zu europäischen Fragen geleistet wird, wo ungarische Studierendengruppen mit europäischen Themen und Institutionen vertraut gemacht werden, und von wo aus ein eigener Beitrag zu jeweils aktuellen europapolitischen Debatten erfolgen soll. In Budapest selbst sind unter dem Dach des MCC Institute zur Jugendforschung angesiedelt, zur Klimaforschung, zur Migrationsforschung sowie für innovatives Lernen. Außerdem gibt es gesonderte Schulen für Psychologie, Wirtschaftswissenschaft, Rechtswissenschaft, Medien, Internationale Beziehungen, Sozialwissenschaften und Geschichte, obendrein das „Deutsch-Ungarische Institut für Europäische Zusammenarbeit“. Alle diese Institute und Schulen bieten quer übers Land Lehrveranstaltungen für die Stipendiatinnen und Stipendiaten sowie öffentliche Vorträge und Diskussionen für alle Interessierten. Außerdem wurde ein Fellowship-Programm eingeführt, in dessen Rahmen Wissenschaftler – oft hohen akademischen Rangs – aus einer Vielzahl von Ländern mehrwöchig bis mehrmonatig nach Budapest kommen und dort, ebenso wie in den MCC-Zentren anderer Städte, Lehrveranstaltungen oder Vorträge und Podiumsdiskussionen abhalten. Dank dieses großen Personenkreises sowie vieler Gastredner, die für einige wenige Tage eingeladen werden, finden im Budapester MCC-Zentrum mehrmals wöchentlich öffentliche Vortrags- und Diskussionsveranstaltungen sowie Buchpräsentationen statt.
Das alles entspricht den Leitideen des MCC: Es sollen begabte junge Ungarinnen und Ungarn gefördert werden; die Lehrtätigkeit des MCC setzt dort ein, wo die des üblichen Bildungssystems endet; aktiv wird das MCC nicht nur in Ungarn, sondern auch im Ausland; und die ganze Institution ist zwar ideologisch unabhängig, doch gerade nicht wertneutral. Ihre zentralen Bildungsziele sind vielmehr Weltoffenheit und Leistungsbereitschaft für das eigene Land.
Geleitet wird dieses nach Zielsetzung, wissenschaftlicher Potenz und Finanzkraft nicht nur in Ungarn einzigartige Bildungsnetzwerk von einem Generaldirektor, der seinerseits dem Stiftungskuratorium verantwortlich ist. Die Stipendiatinnen und Stipendiaten werden von der Grundschule an gemäß ihrer Leistungsfähigkeit ausgewählt, also – zumindest dem Vorsatz nach – gerade nicht in Abhängigkeit von politischen Sympathien. Doch weil ausweislich demoskopischer Umfragen ohnehin mehr als die Hälfte der ungarischen Jugendlichen dem Fidesz nahesteht und dieser Partei auch ein Großteil der Mitarbeiter am MCC zugetan ist, hat das Binnen- und Gesprächsklima des Mathias Corvinus Collegiums sehr wohl eine besondere und klar fühlbare politische Akzentuierung. Das ist freilich gerade so, wie es sich ebenfalls zu Deutschland bei den Bildungswerken etwa der Konrad-Adenauer-Stiftung oder der Heinrich-Böll-Stiftung verhält: Bei dieser mag man die Grünen, bei jener die CDU – und beim MCC mag man das, wofür das ungarische bürgerliche Lager und der Fidesz als dessen Partei steht.
II. Herabwürdigende Kontextualisierungen
DIE ZEIT ihrerseits mag ganz offensichtlich nicht dasselbe wie das MCC. Das ist auch ganz in Ordnung. Doch obendrein wird in jenem Artikel sogar korrekt Beschriebenes so kontextualisiert, dass es anschließend wie höchst übel anmutet. Gleich im zweiten Absatz wird das Abgelehnte „Orbanismus“ genannt, in schönem Gleichklang mit etwa „Leninismus“ oder „Stalinismus“. Und betrieben wird am MCC, gemäß der Überschrift des Textes, ohnehin nichts weiter als „Orbanologie“. Sprachlich meint das zwar – wie im Begriff der „Geo-logie“ oder der „Psycho-logie“ – die „Erforschung von Viktor Orbán“. Doch hier klingt das wie die Verbreitung einer Ideologie „von Amts wegen“, etwa wie einst im Fall der „Mao Zedong-Ideen“. Der Untertitel des Artikels erklärt denn auch, man pilgere „aus aller Welt“ ans MCC, um dort zu lernen, „wie Viktor Orbán zu denken und zu reden“. Eben das gilt es im Artikel dann nachzuweisen.
Deshalb gibt er sich zunächst einmal verwundert, dass man am Budapester MCC keine „kurz geschorenen Jungmänner“ vorfindet, welche auch noch „patriotische Parolen brüllen“. Hier tritt als Hintergrundgewissheit des Textes hervor: Bloßer Schein verdeckt das eigentliche Sein dieser „gigantischen Denkfabrik“! In so einem Zusammenhang wird dann auch berichtenswert, dass die studentischen Moderatorinnen auf MCC-Veranstaltungen „durchweg High Heels und kurze Röcke“ tragen – weil sie, „sagt ein Kommilitone“, andernfalls „hier nicht ernstgenommen werden“. Die Mannsbilder am MCC sind also sexistisch urteilende Machos, woran sich natürlich nichts ändert, wenn sie einstweilen auf geschorene Köpfe und Parolengebrülle verzichten.
Klar durchdringt so das Sein den vorgeblendeten Schein, und zwar auch in den Bücherregalen des großen Cafés im Erdgeschoß vom Budapester MCC-Gebäude. Dort stehen nämlich nicht nur mancherlei „Klassiker des Konservatismus“, sondern – wen wundert’s! – auch noch Bücher eines „Klimawandelleugners“, solche über den „Untergang Deutschlands“ und, potztausend, gar des CDU-Vorsitzenden Merz! Außerdem wird jenes so übel buchbestückte Café mehrmals in der Woche, manchmal gar mehrfach am Tag, zum Diskussionsforum umgebaut. Ob der sich darin äußernde „Hunger nach Grübelei“ den Leuten am MCC wohl gut bekommen kann? Zumal wenn darüber gegrübelt wird, wie gut der Liberalismus westlicher Prägung wohl der Familie getan habe, dem gesellschaftlichen Zusammenhalt oder – igitt – dem „Glauben“! Oder wenn, anscheinend das Verschwörungstheoretische mehr als nur streifend, gar zum Thema gemacht wird: „Wie beeinflussen NGOs die öffentliche Meinung?“ Gottlob erwähnt der ZEIT-Artikel, dass jenen Studierenden, welche die Podiumsdiskussionen am MCC oft moderieren, „die Fragen … von der Institutsleitung vorgegeben“ werden. Wie sonst könnte man auch verhindern, dass junge Leute eigenständig statt „orbanologisch“ denken!
Lernen kann man als angehender „Orbanologe“ am MCC, so wird das ausdrücklich berichtet, „von Chinesisch über Gulaschkochen bis Weltwirtschaft“ so ziemlich alles. Wer mag, entnimmt dem als Leser: Es geht dem MCC um anti-europäisches Paktieren mit der chinesischen Diktatur, um eitlen ungarischen Nationalismus, um eine präpotente Annäherung an die Spielwiese des großen Deutschlands. Natürlich gibt es für solchen Unfug auch keine „international anerkannten Abschlüsse“, sondern nur MCC-Diplome. Nicht hinzugefügt wird freilich, dass die am MCC erwerbbare Bildung jene Studiengänge nur umfänglich abrunden, doch nicht ersetzen soll, die zu international anerkannten Universitätsabschlüssen führen. Und weil jene – im Text demonstrativ in Anführungsstriche gesetzten – „Diplome“ dann „angeblich innerhalb Ungarns hoch angesehene Empfehlungen“ sind, ist aufs Schönste nahegelegt, dass die MCC-Leute in einer vom wirklichen akademischen Betrieb abgeschotteten Ideologieblase leben.
Als „verblüffend“ wird vermeldet, den im Text vorkommenden ungarischen Studierenden sei die Geschichte ihres Landes „höchst präsent“, gerade auch der 1920 aufgezwungene Friedensvertrag von Trianon. Der ließ das einst größte europäische Königreich stark schrumpfen. Kein Wunder somit, dass solches Wissen Ressentiments gedeihen lässt. Die – im Text gerade so gekennzeichneten – eher geschichtsvergessenen deutschen Studierenden haben derlei selbstverständlich überwunden. Deshalb fallen zwar junge Ungarn am MCC auf Viktor Orbán herein, doch gewiss nicht junge Deutsche. Die müssen sich – so im Artikel nicht erwähnt – allerdings auch nicht gegen politische Übergriffigkeiten von außen verwahren, sind Deutsche doch ihrerseits in Europa die wirtschaftlich Übermächtigen und weltweit die moralisch Vorbildlichen.
Wohl weil sie Letzteres eben doch ahnen, senken die im Text erwähnten ungarischen Studierenden schamvoll den Blick, sobald die Rede auf eine „Legitimität“ der Regierungsmacht von Viktor Orbán kommt. Nie und nimmer kann dieser Mann nämlich freie Wahlen gewonnen haben! Erstens kam die Opposition zur Wahlkampfzeit in den ungarischen Medien kaum vor, weswegen viele Wähler wohl gar nicht wussten, dass sie für eine sinnvolle Alternative zu Orbán hätten stimmen können. Und zweitens werden Ungarns Wahlen dadurch manipuliert, dass inzwischen auch Ungarischstämmige, die in Rumänien oder in der Slowakei leben, eine doppelte Staatsbürgerschaft und somit das Stimmrecht bei ungarischen Parlamentswahlen erwerben können. Als ungebührlich kann das aber wohl nur so lange erscheinen, wie man nicht Frage stellt, ob etwa türkische Politiker sich von in Deutschland schon länger Lebenden wählen lassen dürfen. Wenn Orbán freilich auf Ungarisch einen Begriff verwendet, den man auf Deutsch als „Rasse“ übersetzen kann, dann hat er sich doch gewiss rassistisch äußern wollen; denn wie kann jemand wirklich glauben, im Ungarischen hätten Worte bisweilen andere Valeurs als im Deutschen!
Überhaupt ist Orbán, um dessen „-logie“ es am MCC geht, aus höchst einfachen Verhältnissen aufgestiegen und gar noch stolz darauf. Diesen ländlich beschränkten Horizont merkt man ihm und seiner Partei bis heute an, zumal dann, wenn man den als „intellektuell, kosmopolitisch“ zu bezeichnenden Kreisen Budapests zugehört. Ansonsten ist Orbán, der zur Jugendzeit immerhin „Begabungen zeigte“, ganz wesentlich von George Soros gefördert worden. Was aber machte er als Ministerpräsident mit jener Hand, die ihn einst fütterte? Er biss sie – und vertrieb gar die von Soros finanzierte „Central Europe University“ aus Budapest! Muss denn eine Universität, die in Ungarn anerkannte akademische Grade vergeben will, wirklich mehr sein als ein 1991 gegründetes Privatunternehmen? Warum sollte nicht ein jeder Mäzen eine Universität nach eigenen Wünschen eröffnen und deren Absolventen Master-Urkunden verleihen dürfen, auch wenn seine Hochschule nicht mit einer bereits staatlich anerkannten Universität zusammenarbeitet? Leider fehlt – unwissend oder absichtlich? – im ZEIT-Artikel jeder Hinweis darauf, dass man in Budapest weiterhin an der Central European University studieren kann. Deren Gebäude liegt auch gar nicht weit von der unübersehbaren St.-Stephans-Basilika entfernt. Doch es kann wohl nicht sein, was vorzustellen man sich nicht traut. Dargestellt wird vielmehr, dass es aufgrund antisemitischer Hetzereien von Viktor Orbán und seinen Anhängern so kam: „Soros´ Uni ist gegangen, das Mathias Corvinus Collegium kommt“. Offen bleibt eigentlich nur, ob dieses nun seinerseits, natürlich in Orbáns Auftrag, dem Antisemitismus einen akademischen Anstrich geben wird – auch wenn einstweilen am MCC noch keine Kurzgeschorenen zu sehen sind.
Auch ansonsten ist in Ungarn „etwas Merkwürdiges“ geschehen. Ein Land nämlich, das in den 1990er Jahren „unter großen Opfern und Verlusten die Anpassung an den Westen versuchte“, ist nun ein „Modell für Konservative in den USA, in Italien, Frankreich und auch in Deutschland geworden“. Andere Erklärungen für eine so schlimme Entwicklung als menschliche oder intellektuelle Defizite von Viktor Orbán und des Fidesz kennt der ZEIT-Artikel freilich nicht. Dabei wären sie recht leicht zu finden: Ungarns Liberale und Sozialisten gingen in ihren von 1994 bis 1998 und von 2002 bis 2010 währenden Regierungszeiten ein enges Bündnis mit dem neoliberalen Zeitgeist der Globalisierungsära ein, was vielen Leuten in Ungarn gar nicht gut bekam. Für diese klingt Liberalismus deshalb nicht – wie etwa für einen wohlsituierten deutschen CDUler – nach „Liberalkonservatismus“, sondern nach einer Ellbogengesellschaft samt Durchsetzung eines arrogant in Anspruch genommenen „Rechts des Stärkeren“.
Und weil vielen wichtigen Politikern Ungarns, die großenteils nicht länger deutschsprachig, sondern englischsprachig sind, das Politik- und Gesellschaftsverständnis der deutschen Unionsparteien oft nicht naheliegt, sondern sie eher wie US-amerikanische Republikaner oder englische Konservative denken, prägt die in deren Ländern inzwischen verfestigte Frontstellung zwischen liberal-woken Bessermenschen und ranzig-bornierten Reaktionären auch die ungarische Innenpolitik, und zwar schon lange, bevor man das so beschrieb. Gerade von daher kommt die Fidesz-Allergie gegen alles, was in Ungarn als „übler Liberalismus“ wahrgenommen und mit dem Namen Soros verbunden wird. Ebenso stammt von daher die europäisch-zivilgesellschaftliche Allergie gegen alles, was den eigenen Anspruch in Frage stellen könnte, dem Fidesz gegenüber moralisch überlegen zu sein. Zu allem Überfluss haben sich Deutschlands Unionsparteien auch noch entschlossen, den Fidesz als die „ungarische AfD“ zu behandeln und ihn – wie in einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung – in die Reihen des europäischen Rechtspopulismus zu treiben. Wie schön also, dass Viktor Orbán oft so gut über den menschlich wie politisch allgemein verachteten Donald Trump spricht, und dass viele polemikstarke angelsächsische „Neocons“ zu Orbán-Fans wurden!
Weil sich auf diese Weise das Sprichwort „Gleich und gleich gesellt sich gern“ zu erfüllen scheint, kann DIE ZEIT auch noch Deutschlands Unionsparteien am Zeug flicken. Zwar agierten diese einst als Hauptbetreiber einer Verdrängung des Fidesz aus den Reihen der Europäischen Volkspartei. Doch leider gilt wenigstens hinsichtlich des MCC immer noch: „Zu Deutschlands Christdemokraten sind die Verbindungen eng“. Umso schlimmer, dass gemeinsame Veranstaltungen von MCC und Adenauer-Stiftung weiterhin „kein Problem in den Augen der KAS“ sind! Und was soll man gar davon halten, dass ein langjähriger Budapester Mitarbeiter der KAS es fertiggebracht hat, sich beim MCC als Direktor des Deutsch-Ungarischen Instituts zu verdingen? Als solcher behauptet er nun auch noch, „Ungarn werde in der Bundesrepublik konsequent missverstanden“. Wie kann er nur!
Denn anscheinend missversteht dieser Mann bloß seinerseits, was politisch wache Deutsche an Ungarn völlig richtig verstehen. Deshalb ist es gut, dass DIE ZEIT endlich die erforderlichen Einblicke in solche Zusammenhänge gegeben hat, deren Zurkenntnisnahme einen nicht länger vom schönen Schein des MCC betört werden lässt. Mission erfüllt, bravo!