Wechselseitiges Verachten löst politische Probleme nicht
erschienen unter dem Titel „Wechselseitiges Verachten löst politische Konflikte nicht“
in: „Die Welt“ , 3. September 2020 https://www.welt.de/debatte/kommentare/plus214942674/Querdenker-Diffamierung-des-politischen-Gegners-hat-Hochkonjunktur.html?utm_source=headtopics&utm_medium=news&utm_campaign=2020-09-04
Woher kommt die heftige Kritik an der Corona-Politik der Bundesregierung, die auf Demonstrationen und im Internet auch noch mit abgrundtiefer Verachtung für Deutschlands Politiker und Staat verbunden ist? Weil breiter Anti-System-Protest seit Jahren aus dem politisch rechten Bereich aufzieht, scheint für viele das auch „bei Corona“ der Fall zu sein. Dann sind „Covidioten“ nur Wiedergänger der „Pegidioten“, und gegen sie hilft am besten mehr „Kampf gegen rechts“.
Doch vielleicht liegt unser Problem mit der neuen Welle grundsätzlicher System- und Politikerkritik viel tiefer. Womöglich ist das alles Teil einer neuen „Großen Weigerung“ (Herbert Marcuse) gegenüber politischen Entscheidungen, deren Richtung man nicht will und an deren Vernunft man zweifelt: die permissive Migrationspolitik; Deutschlands Willfährigkeit beim finanziellen Einstehen für EU- und Euro-Partner; die jetzige Drosselung unseres Wirtschafts-, Gesellschafts- und Kulturlebens. Bei alledem handle die Regierung, schweige das Parlament, lobten die Medien. Zivilgesellschaftlicher Widerstand werde da zur Pflicht.
Solche Bekundungen von Empörung und Widerständigkeit gibt es aber schon lange. Zu denken ist nicht nur an PEGIDA oder an die Stuttgarter Bahnhofsproteste, wo der „Wutbürger“ auftrat. Eine Spur von Angst und selbstbehauptender Aggressionslust führt auch an die Baustellen der Nuklearwirtschaft, an die Depots amerikanischer Atomwaffen, zu den Protesten der 1960er Jahre gegen die Notstandsgesetze. Seit Jahrzehnten wird „das System“ herausgefordert – teils mit zivilem Ungehorsam, teils mit offener Gewalt, meist gegen Polizisten. Zwar sind die Inhalte und Zeitumstände sehr verschieden. Doch ähnlich ist der Empörungskern: weithin geteilte Empfindungen, eine politisch gewollte oder ermöglichte Entwicklung führe auf schlimme Wege. Große Gefahren drohten; doch „die Politiker“ mitsamt ihren Unterstützern im Medien-, Kultur- und Wissenschaftsbetrieb wollten das nicht wahrhaben. Also müsse man sie aufrütteln. Hier verbinden sich Protestbewegungen mit aufquellendem Populismus: Es wird das Handeln „der Politik“ wahrgenommen als im Widerspruch zu den „eigentlichen Interessen“ einer Mehrheit der Leute im Land, als Provokation des „wahren Volkswillens“. Im so aufklaffenden Gegensatz zwischen „uns hier unten“ und „denen da oben“ treibt der Wille zum Erzwingen politischer Korrekturen leicht zur Radikalisierung und Polarisierung – und dabei je nach Empörungsgegenstand nach links oder nach rechts oder in eine Querfront der endlich „Aufgewachten“.
Leicht auch können sich Erregung und Wut an rein eingebildeten Problemen entzünden. Der als Folge der NATO-Nachrüstung vorhergesagte Dritte Weltkrieg ist jedenfalls ebenso ausgeblieben wie der „Atom-Staat“; und von einer Beseitigung unserer Demokratie im Zug der Corona-Politik ist auch nichts zu erkennen. Bei so umstrittenen Lagebeurteilungen wäre es zwar vernünftig, die ganze Bandbreite empfundener Besorgnisse aufzufächern, ihren Kern ausfindig zu machen und dann redlich zu klären, welche Ängste sich an realen Problemen entzünden, welche anderen hingegen eher eingebildet sind. Doch so gehen wir mit alledem gerade nicht um. Was immer von Protestierenden oder deren Gegnern vorgebracht wird, geht einher mit einem nachgerade selbstberauschenden Gefühls- und Polemiküberschuss. Bei PEGIDA reichte es nicht, Unplausibles an Deutschlands Einwanderungs- und Integrationspolitik zu kritisieren; es mussten die Politiker auch noch Volksverräter, die Medien Lügenpresse sein. Bei den Corona-Demonstrationen erregt man sich nicht nur über die zweifellos vorhandenen Kollateralschäden einer wirklich alternativlosen Politik von Versuch und Irrtum, sondern sieht gleich auch Deutschlands Demokratie vorsätzlich in Gefahr gebracht. Und an den Baustellen von Kernkraftwerken oder den Lagerorten von Atomwaffen ging es um kaum weniger als um die Verhinderung der Apokalypse. Wer aber solche Gefühls- und Denkwege aufsucht, wird rasch gesprächsunfähig.
Spiegelbildlich hegen viele eine schon gefühlsmäßige Abscheu gegen aufsässige Protestierer. Gehasst wurden einst „langhaarige linke Chaoten“, später „rechtsradikale Glatzköpfe“, dann „sächsisch blökende Pegidioten“. Rasch verbindet sich das mit Analysefaulheit. Dann will man auch gar nicht näher hinsehen, denn es „ist ja klar“, worum es „wirklich geht“: bei PEGIDA um Rassismus, bei den Anti-Nachrüstungsdemonstranten um „von Moskau ferngesteuerte Linksextremisten“, bei den Corona-Demonstranten um „Verschwörungstheoretiker“.
Wechselseitiges Verachten löst aber politische Konflikte nicht. Die werden dann nur von solchen, die man anhand fairnesssichernder Spielregeln austragen könnte, zu Kämpfen, bei denen es vor allem auf Macht und auf die Rücksichtslosigkeit ihrer Anwendung ankommt. Auf der Straße führt das zur Gewalt, im Alltag zur denunziatorischen Ächtung von Gegnern. Wer sich schützen will, praktiziert am besten Selbstzensur und Heuchelei. Politisch-medial kämpft man um den Fortbestand kultureller Hegemonie: durch Sicherung von Grenzen politischer und sprachlicher Korrektheit, die man entlang eigener Interessen zieht, durch „Cancel Culture“, durch selbstradikalisierende Gegenwehr.
Das aber zerstört genau den Diskurs, der allein die auf friedliche Konflikte gegründete pluralistische Demokratie zusammenhalten kann. Es gibt dann Debatten Gleichgesinnter in einer „offiziellen Öffentlichkeit“ – und jene „alternativen Diskurse“, die in den selbstbezüglichen „Gegenöffentlichkeiten“ der sozialen Medien geführt werden. Aus diesen nährt sich wohl die jetzige „Große Weigerung“ gegen jenen „Verblendungszusammenhang“ (Horkheimer/Adorno), den heute viele von „Geschwätzwissenschaftlern“, „Lügenpresse“ und „volksverratenden Politikern“ verfertigt empfinden. Im Vergleich zu den1960er Jahren haben sich anscheinend nur die Strukturen der Öffentlichkeit gewandelt, nicht aber die Pathologien einander meidender Diskurse. Also könnten die derzeitigen Corona-Demonstrationen ein weiterer, warnender Vorbote dessen sein, was sich zwischen breiten Bevölkerungsschichten und ihren Eliten, zwischen den Regierten und Regierenden, noch viel konfrontativer aufschaukeln wird, wenn in kommenden Krisenzeiten die Rechnungen für Politikfehler des letzten Jahrzehnts zu begleichen sind.
Ohnehin endet in funktionierenden Demokratien jeder Versuch einer repressiven Sicherung kultureller Hegemonie an der Tür zum Wahllokal. Dahinter münzt sich Protest gegen machtarrogante Praktiken meist in Stimmen für populistische Parteien um. Es scheint auch nur vom Zusammenwirken jeweils aktueller Empörungsanlässe mit deren zeitspezifischer ideologischer Rahmung abzuhängen, ob Bevölkerungsprotest in Populismus eher von rechts oder von links, eher von unten oder von oben mündet. Unstimmigkeiten deutscher Migrations- und Integrationspolitik haben jüngst den Rechtspopulismus gemästet, Unzulänglichkeiten unserer Ressourcen- und Klimapolitik den Populismus von links. Nur darf der nicht so heißen, weil Linkes sich immer als intellektuell durchdacht, dem wahren Gemeinwohl verpflichtet und somit allem Populismus wesensfremd versteht.
Ist das aber wirklich so? Stehen breit bejubelte Demonstrationen gegen staatliche Verbote und ziviler Ungehorsam nicht auch in einer linken Tradition? Wurde denn von Linken nie geglaubt, Politiker wären Charaktermasken eines Systems, das von der Kapitalverwertungslogik großer Wirtschaftsunternehmen getrieben würde, die ihre Märkte gern auch manipulierten? Tatsächlich fügen sich die jetzigen Corona-Demonstrationen nicht gut ins traditionelle links/rechts-Schema. Also dürfte der routinierte „Kampf gegen rechts“ diesmal noch weniger bewirken als einst gegen Pegida und die AfD. Wo aber fänden sich realistische Ansatzpunkte, um mit solchen Protesten hinzulernend umzugehen?
Wenn immer wieder so viele gegen ein Weiterbefahren bislang selbstverständlicher Gleise protestieren: Könnte das damit zu tun haben, dass ehedem erfolgreiche Politiken (Europäische Integration, Globalisierung, grundsätzlicher Multilateralismus, postnational-multikulturelle Gesellschaft …) mittlerweile in ihren „Grenznutzenbereich“ geraten sind? Wenn Verschwörungstheorien grassieren: Kann das mit einem Bildungssystems zusammenhängen, das Kritik vor allem als überzeugungsbasierte inhaltliche Kritik lehrt, doch viel weniger als erfahrungsbegründete Methodenkritik? Wenn beim Streit selbstgerechtes Polemisieren, demonstratives Verachten und systematisches Ausgrenzen wie unverzichtbar gehandhabt werden: Auf welche Unzulänglichkeiten von Persönlichkeitsbildung und Regelvermittlung in unserem Erziehungswesen lässt das schließen? Und wenn weitverbreitete Zweifel an der Verlässlichkeit von journalistischen Wirklichkeitsbeschreibungen entstanden sind: Könnte dafür ein allzu anwaltschaftlicher Journalismus mitursächlich sein, der auch ordnungsgemäß recherchierte Daten vor allem nach Maßgabe ihres politischen Gebrauchswerts mitteilt? Vielleicht liegen jene Anfänge, denen es zu wehren gilt, gerade auch hier.