Gedanken zum Ukraine-Krieg

Gedanken zum Ukraine-Krieg

Gestern griff Russland von fast allen Seiten her die Ukraine an. Abgezeichnet hatte sich das seit langem durch Russlands wochenlangen Truppenaufmarsch. Mehrfach hat Russlands Präsident auch ausführlich erklärt, warum er so handeln wird. Dennoch waren gestern viele entsetzt und überrascht. Das Entsetzen war angebracht, denn Krieg ist nun einmal entsetzlich und sollte nach Kräften vermieden werden. Doch überrascht konnte nur jemand werden, der so gar nicht zur Kenntnis nehmen wollte, nach welchen Spielregeln Großmachtpolitik betrieben wird.

I.

Was Russland betrifft, hegte so mancher viel naivere Vorstellungen, als sie angebracht waren. Zwar stellt Präsident Putin sein Land nun schon jahrelang als ein Opfer dar, das sich endlich wehren müsse. Doch die beiden Weltkriege, Napoleons Feldzug sowie die mongolische Eroberung liegen wirklich lange zurück. Hingegen gehören zur unmittelbaren Vergangenheit Russlands Annexion der Krim sowie seine Kriegführung in der Ostukraine, in Georgien und in Afghanistan. Aus Sowjetzeiten, denen Präsident Putin oft nachtrauert, sollte man auch den festen Klammergriff um jene Länder nicht vergessen, in dem, kaum von der Naziherrschaft befreit, Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn oder Rumänien gehalten wurden – und auch nicht die Zerschlagung des Volksaufstands in Ungarn im Jahr 1956 und den Einmarsch in die Tschechoslowakei von 1968.

Anscheinend gibt es nun eine Putin-Version der Breschnew-Doktrin. Ihr gemäß haben Länder an den europäischen Grenzen Russlands einfach nicht das Recht, ihr politisches System und ihre Bündnispartner nach eigenem Ermessen zu wählen. Also ist es kein Wunder, dass einst sowjetisch beherrschte Staaten oder die zur Sowjetunion gehörenden baltischen Länder in die NATO strebten, sobald sie eine Chance darauf hatten. Russlands Präsident vertauscht also schlicht Ursache und Wirkung, wenn er über die Osterweiterung der NATO klagt. Kein Land wurde nämlich in dieses Bündnis gezwungen. Sie alle suchten vielmehr Schutz vor Russland – wie einst schon die westdeutsche Bundesrepublik. Und noch nie hat die NATO ihre Truppen aufmarschieren lassen, um von mehreren Seiten in ein Nachbarland einzufallen.

Was hat übrigens die Ukraine davon, dass sie nach dem Zerfall der Sowjetunion – von innen her, nicht von außen her verursacht – auf die innerhalb ihrer Grenzen gelagerten, von eigenen Soldaten gehandhabten Atomwaffen verzichtete? Und dafür von den USA, von Großbritannien und von Russland im „Budapester Memorandum“ 1994 zugesichert bekam, diese Staaten würden die Souveränität des sich gegenüber Russland wehrlos machenden Landes sichern? – Gar nichts hat sie davon. Vielmehr rechnet Russland damit, nach einigen Kriegstagen in Kiew eine Vasallenregierung installieren zu können. Dagegen können weder das Vereinigte Königreich noch die Vereinigten Staaten Wirksames tun, solange sie Russland nicht mit Waffengewalt entgegentreten. Das aber will niemand, und zwar aus wohlbegründetem Eigeninteresse sowohl dieser zwei Länder als auch von deren Verbündeten.

II.

Es stimmt schon, dass Putins Reich seinen Anfang in der Kiewer Rus nahm, und dass Russlands Christianisierung von der Krim ausging. Muss man aber deshalb ein inzwischen selbständiges Land erneut an den eigenen Staat ketten? Schließlich beanspruchen doch weder die Ungarn ihre Herkunftsregion südlich des Urals noch die Deutschen die Ursprungsgebiete der ostgermanischen Goten an der Mündung der Weichsel! Vielmehr war es wirkungsvoll friedenssichernd, nach dem Zweiten Weltkrieg mit jenem Verschieben von Grenzen aufzuhören, das von oben herab verordnet wurde, und Grenzveränderungen von unten her nur dann hinzunehmen, wenn sie von der Mehrheit der dort lebenden Bevölkerung in nachweislich freien Wahlen gewünscht wurden. 

Dass aber Putin im Grunde nur einen ukrainischen „Völkermord an Russen“ beenden sowie die Ukraine „endlich entnazifizieren“ will, ist eine schreckliche Relativierung der von nazistischen Deutschen dort einst wirklich begangenen Verbrechen. Im Übrigen sollte man auch den anfangs der 1930er Jahren von Moskau angeordneten Holodomor in der Ukraine nicht vergessen, dem wohl drei bis vier Millionen Menschen zum Opfer fielen. Solche Erinnerungen wird der gestern ganz offen begonnene Krieg Russlands wohl mit etlichen Erlebnissen der kommenden Wochen und Monate verbinden. Das wird dann dauerhaft genau das trennen, was Putin doch zusammenzuhalten hofft: Ukrainer und Russen.

III.

Natürlich wäre alles ganz einfach, wenn die Ukrainer – wie vom russischen Präsidenten gestern gefordert – die Waffen einfach niederlegten, russische Panzer gar mit Blumenkränzen begrüßten und idealerweise auch noch die demnächst eingesetzten russischen Staatskommissare als Befreier von jenem Faschismus feierten, der in der Ukraine angeblich seit der Maidan-Revolte von 2013 herrscht. Doch wie eng muss der kulturelle Horizont von jemandem sein, der – jenseits sarkastischer Zuspitzungen – dergleichen wirklich erhofft! 

Zwar werden die überlegenen russischen Truppen nach Zerstörung der ukrainischen Luftverteidigungsfähigkeit rasch ihre Panzer in alle wichtigen Städte entsenden können. Diese werden sie auch halbwegs leicht einnehmen, weil man in Ostmitteleuropa aus dem Zweiten Weltkrieg noch allzu gut weiß, wie schlimm verteidigte Städte am Ende aussehen. Doch anschließend wird mit einem vieljährigen Partisanenkrieg samt brutalen, ihn verlängernden Bestrafungen zu rechnen sein. Ob das wirklich besser ist als die von Putin offenbar verworfene Möglichkeit, nur die russischsprachige Ostukraine zu annektieren, die zentralen und westlichen Landesteile der Ukraine aber ihren eigenen Weg gehen zu lassen?

IV.

Ist vielleicht die NATO schuld an Russlands Invasion in der Ukraine – nämlich dadurch, dass sie diesem Land den Wunsch nach einer Zugehörigkeit zum nordatlantischen Bündnis nicht für immer abschlagen wollte? Ja und nein. 

Es war wirklich nicht gut, die sehr alte, auch immer wieder geschichtlich bestätigte Einsicht geopolitischen Denkens für unbeachtlich zu halten, dass nämlich zwischen rivalisierenden Machtblöcken gerade Pufferstaaten eine wichtige, stabilisierende Rolle spielen können. Natürlich muss deren Neutralität bewaffnet sein, damit ein Pufferstaat nicht zum Aufmarschgebiet des einen Nachbarn gegen den anderen gemacht werden kann. Doch derlei lässt sich vertraglich regeln und durch Kontrollmaßnahmen sichern. Deutschland und Frankreich erwogen vor dem NATO-Gipfel zu Bukarest im Jahr 2008 anscheinend diese Möglichkeit, wollten aber – auch auf Druck der USA – am Grundsatz freier Bündniswahl eines jeden freien Landes festhalten. 

Doch das Bestehen auf einer solchen Regel ohne die Macht und den Willen, eine einmal getroffene Bündniswahl dann auch gegen den Widerstand dessen durchzusetzen, der sie verhindern will, gerät zu rein symbolischer Politik. Die aber lässt sich von einem entschlossenen Gegner leicht bloßstellen als ein Hantieren mit Spielgeld, wo nur die harte Währung militärischer Machtprojektion zählt. Die NATO erlebt das derzeit in Osteuropa. Ihr Fehler, für den die Ukraine nun bezahlt, bestand darin, diesem Land weder die wohlerwogene Ablehnung seines Wunsches nach einer NATO-Mitgliedschaft mitzuteilen, noch die Ukraine und sich selbst soweit aufzurüsten, dass man durch Abschreckung den andernfalls zu erwartenden russischen Präventivkrieg hätte verhindern können. 

Obendrein sollten sich auch Deutschlands idealistisch gesinnte Politiker endlich klarmachen, dass Staaten ihren Werten viel seltener folgen als ihren Interessen. Stehen konkrete Interessen abstrakten Werten gar im Weg, etwa wie Russlands Interesse an der Ukraine dem in so manchem Vertrag beschworenen Wert einer friedlichen Konfliktlösung, dann zählt in der Praxis so gut wie immer das Interesse. Und wenn – umgekehrt – der Versuch der Befolgung eines Wertes sehr wichtigen eigenen Interessen zuwiderläuft, dann schrumpft das Beharren auf „wertebasierter Außenpolitik“ seinerseits zu einer Predigerfloskel. Eben das erlebt Deutschland derzeit. Denn zwar ist für uns Solidarität mit der Ukraine weiterhin ein wichtiger, gestern vielmals beteuerter Wert. Doch natürlich ist uns das Interesse wichtiger, gerade nicht in einen Krieg mit Russland verwickelt zu werden.

V.

Im Übrigen gab gestern so mancher Politiker zu, dass die Welt eben doch anders ist, als man sie sich in Parteiprogrammen und friedensbewegten Podiumsdiskussionen zurechtlegte sowie anderen als politisch korrektes Glaubensbekenntnis vorgab. Nichts bleibt etwa mehr von der Behauptung, Krieg sei kein Mittel der Politik. Russlands Staatspräsident führt nämlich gerade vor, was geschichtlich Belesene immer schon wissen konnten: Gerade wenn Diplomatie den eigenen Zielen nicht näherbringt, kann ein Krieg zur wirkungsvollen Fortsetzung einer auf unbedingt zu erreichende Ziele ausgehenden Politik werden. 

Eben deshalb lassen jetzt auch immer mehr Politiker ihre endlich wachsende Einsicht erkennen, ein Krieg werde eben doch am sichersten durch eine tatsächlich wirkungsvolle Abschreckung des möglichen Gegners verhindert. Russland schreckt uns ja seit dem Beginn seines Aufmarsches unübersehbar militärisch ab; unsere eigenen Abschreckungsversuche allein durch Androhung von Sanktionen haben hingegen nichts genutzt. In Putins Welt – nicht freilich in der unseren – wären solche Sanktionen „ja ohnehin gekommen“. Sie fanden sich deshalb gleichsam „eingepreist“, sozusagen als eine Art „Großmachtsteuer“, um die man bei tatkräftiger Politik eben nicht herumkommt.

VI.

Hingegen konnte Deutschland – mangels Masse – bislang nicht einmal seine 5000 zur Verteidigung (!) der Ukraine zugesagten Stahlhelme (!) liefern. Obendrein musste der Inspekteur des Heeres gestern eingestehen, seine Teilstreitkraft sei „blank“, da sie von mehreren, auf eine „Friedensdividende“ versessenen Bundesregierungen und Bundestagen soweit armgespart wurde, dass man vor jedem Einsatz das erforderliche Material von den gerade noch nicht zu einem Einsatz befohlenen Verbänden einsammeln muss. Wie ersetzt man aber dieses Material dann, wenn es – wie im Einsatz zu erwarten – beschädigt, zerstört oder verbraucht wird? 

Obendrein: Stimmt denn wirklich allein die Formel „Soldaten sind Mörder“, für die Deutschlands Pazifisten 1994/94 vor unseren Gerichten den Wegfall jeglicher Strafbewehrung wegen Beleidigung oder übler Nachrede durchsetzten? Oder kann auch unterlassene militärische Hilfeleistung als „Beihilfe zum Mord“ angesehen werden, den dann eben andere Soldaten ausführen? Und wo soll man Waffen – außer zur Abschreckung – denn wirklich brauchen, wenn nicht gerade in Spannungs- und Kriegsgebieten wie derzeit der Ukraine?

Vielleicht leuchtet hinsichtlich des Werts eigener Verteidigungsfähigkeit seit dem jetzigen Einbruch der Realpolitik in Deutschlands Schönwetter-Welt mehr Deutschen als bislang ein, was man einem Polen oder Israeli nun wirklich nicht erklären muss. Und vielleicht begreift so mancher auch, dass es gerade keine Kriegstreiberei ist, wenn man Gymnasiastinnen und Gymnasiasten, Studierenden und Erwachsenen erklärt, was Begriffe wie Abschreckung oder Eskalationsdominanz bedeuten – und warum es wichtig ist, anhand ihrer über Außen- und Sicherheitspolitik nachdenken zu können.

VII.

Gibt es Hoffnung? Gewiss nicht darauf, dass billige Appelle der Art „Herr Putin, stellen Sie das Feuer ein!“ irgendwelche Wirkung haben werden. Zwar schlägt sich vielleicht die ukrainische Armee besser als erwartet; doch auch das wird nicht zur Vertreibung der russischen Armee reichen. Womöglich erkunden die Ukrainer dann praktisch, was in Deutschland einst ernsthaft als Alternative zur NATO-Nachrüstung empfohlen wurde. Das war einesteils die „soziale Verteidigung“, nämlich in Form von Kooperationsverweigerung so zu tun, als befände sich der Gegner gar nicht im eigenen Land; und andernteils war das der Einsatz von „Techno-Kommandos“, also ein professionell geführter Partisanenkrieg. Es kann schon sein, dass sich Russland dann nach langer Zeit zurückzieht wie einst aus Afghanistan – was westliche Interventionsarmeen etliche Jahre später ja auch nicht anders machten. Doch zu welchen Kosten an vorab verursachtem Leid geschähe das! 

Oder werden wir schlicht einen „eingefrorenen Konflikt“ haben, der die Ukraine zu einer bleibend gefährlichen, darbenden Grenzmark zwischen Russland und der NATO macht? Das freilich hätten wir mit viel geringeren Schäden auch durch ein Eingehen auf Russlands – gleich wie unnötige – Sicherheitsbedenken erreichen können. Womöglich aber dürfen wir hoffen, dass dieser Krieg Putins Herrschaft in Russland ebenso untergräbt, wie Breschnews Scheitern bei seiner Vorrüstung mit SS20-Raketen einst die Sowjetunion bis hin zur Selbstzerstörung schwächte. Dann gäbe es Hoffnung auf einen neuen Gorbatschow, mit dem man guten Willens verhandeln könnte. 

Doch in der Zwischenzeit sollten wir unbedingt auch darauf achten, was sich derzeit zwischen China und Taiwan vollzieht. Ein Entlastungsangriff Chinas im Fernen Osten wäre nämlich für Putin sehr hilfreich; und angewiesen wird er ohnehin bald auf die chinesische Hochtechnologie sein. Dann freilich hätten wir durch sanktionierende Mithilfe bei der Schaffung eines russisch-chinesischen Machtblocks unseren eigenen Interessen auch nicht wirklich gedient. Es zahlt sich eben nicht aus, wenn man Politik jahrzehntelang auf Hoffnungen und Illusionen statt auf Realismus gründet.

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