Zum Ende von Illusionen
Krieg zu führen, kann durchaus sinnvoll sein. So verhielt es sich bei Israels Selbstbehauptungskriegen, so beim militärischen Niederringen des Nazi-Reiches. Und derzeit drücken viele von uns den Ukrainern die Daumen bei ihrem Verteidigungskrieg gegen die russische Aggression.
Freilich können auch die lobenswerten Solidaritätsdemonstrationen der letzten Tage nicht verbergen, dass wir zwar ukrainischen Mut bewundern, doch keinen Finger krümmen werden, um den Ukrainern bei ihrem Kampf wirklich beizustehen. Der wiederum wäre chancenreicher geworden, hätten wir westlichen Staaten die von der Ukraine erbetenen Waffen zur wirkungsvollen Flieger- und Panzerabwehr schon geliefert, bevor es Russland möglich war, die Lufthoheit über die Ukraine zu erringen und die großen Städte einzuschließen.
Doch vermutlich gab es wirklich keinen gangbaren Ausweg aus dem Dilemma der NATO, weder als Kriegstreiber auftreten noch die Ukraine russischer Willkür überlassen zu wollen. Manche Länder haben nun einmal eine verhängnisvolle geopolitische Lage, und die Ukraine ist eines davon. Auch ist Großmachtpolitik selten fair, wie Russland derzeit – und bei anderen Gelegenheiten Amerika oder China – vorzuführen pflegt. Und oft genug werden wichtige Weichen auch mit den besten Absichten falsch gestellt, wie nämlich damals, als die NATO der Ukraine Hoffnungen auf einen Beitritt zu diesem Bündnis machte.
Vielleicht ist unter solchen Umständen unsere jetzige – mit späten Waffenlieferungen untersetzte – Bewunderung für die ukrainische Gegenwehr bei Scham über die eigene Zuschauerrolle samt lobenswerter Bereitschaft zur Aufnahme von ukrainischen Kriegsflüchtlingen wirklich zur einzigen uns noch möglichen Haltung geworden. Selbstverständlich ist sie zu verbinden mit einer Unterscheidung zwischen der Politik des russischen Präsidenten und dem, was tatsachengetreu informierte Russen von dieser Politik halten würden, und wie sie auf Putin Einfluss nähmen, wenn sein Staat nicht zu einer üblen Diktatur geworden wäre. Außerdem hoffen wir alle, dass eines Tages wieder gute Beziehungen zwischen sämtlichen europäischen Staaten möglich sein werden, wie das im Verhältnis Deutschlands zu seinen ehemaligen Kriegsgegnern einst ja auch gelungen ist. Doch bis dahin werden noch Jahrzehnte vergehen.
Und zunächst einmal sind ohnehin praktische Konsequenzen aus der russischen Aggression zu ziehen. Erstens: Natürlich muss man auch die Sicherheitsinteressen einer Großmacht wie Russland respektieren, nicht aber, dass diese – wie unter Putin – ins Paranoide übersteigert werden. Zweitens: Auch Staaten, die – wie Deutschland – Krieg durchaus nicht mehr führen wollen, tun gut daran, sich auf eine wirkungsvolle Kriegführung vorzubereiten. Nur dann haben sie nämliche jenes Verhandlungsgewicht, das zur wünschenswerten diplomatischen Beilegung von Konflikten erforderlich ist. Drittens: Jene Friedensdividende, die einst das Ende des Ost/West-Konflikts verschaffte, ist eingestrichen und verbraucht. Also wird es Zeit für eine neue Ernsthaftigkeit in der Außen- und Sicherheitspolitik unseres Landes. Nicht auf wechselseitiges Lob für schöne Worte über einladende Ziele kommt es an, sondern auf die Sicherung des Zusammenhalts im westlichen Bündnis – und sei es auch nur auf einem sehr kleinen gemeinsamen Nenner.
Was Deutschland betrifft, bewahrheitet sich einmal mehr die Klugheit des Satzes „Nur Nixon konnte nach Peking reisen“ – also: Nur ein ausgewiesener Kommunistengegner konnte gegen den zu erwartenden innenpolitischen Widerstand jenen Schritt hin auf Maos China tun, der sich jahrzehntelang für China und den Rest der Welt segensreich auswirkte. Das Beispiel selbst können wir nun beiseite lassen, nicht aber jenen innenpolitischen Mechanismus, auf den es verweist.
In Deutschland konnte nämlich einst nur der tüchtige Außenminister Fischer von den pazifistischen Grünen die humanitär wünschenswerte Beteiligung Deutschlands am NATO-Einsatz im Kosovo durchsetzen, und nur der starke SPD-Kanzler Schröder vermochte – um den Preis der dauerhaften Schwächung seiner eigenen Partei – jene wirtschaftsliberale Agenda 2010 auf den Weg zu bringen, von deren Auswirkungen die nachfolgende Unionsregierung ohne sonderliches eigenes Zutun profitierte. Und nun ist es wiederum eine von SPD und Grünen geprägte Bundesregierung, welche jene wichtigen Fehler ihrer Vorgängerregierung korrigiert, auf die Sozialdemokraten und Grüne einst selbst hingedrängt haben. Genau die Scholz-Regierung beendete nämlich das Nordstream II-Projekt, mit dem weiterhin die russische Rüstungsindustrie finanziert worden wäre, das aber jahrelang von SPD und Union als Unterpfand dauerhaft freundschaftlicher Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Russland ausgegeben worden war. Die Scholz-Regierung scheint auch wirklich darauf hinzuwirken, dass aus der Bundeswehr eines Tages eine wieder einsetzbare Armee werden kann – obwohl deren Entkernung durch Sparmaßnahmen sowie die Schmälerung des Rufs von Soldatentum seitens der deutschen politischen Linken eine lange Tradition hat. Und genau die Scholz-Regierung hört auf mit der Pflege von Illusionen über die Wirksamkeit von Verhandlungen ohne eigene Durchsetzungsmöglichkeiten. Dabei war es bis zum „Normandie-Format“ des westlichen Umgangs mit dem Ukraine-Konflikt ein Grundmuster sozialdemokratischer Politik, russische Truppen und Waffen einfach „wegverhandeln“ zu wollen – gerade so, als habe sich Russland gar nichts weiter Bemerkenswertes dabei gedacht, als die Krim und Teile der Ostukraine faktisch annektiert und rings um dieses Land kriegsstarke Militärverbände aufgestellt wurden.
Genug der Beispiele. Jeder Gedanke an die wahrscheinlichen Verhaltensmuster von Linken, Grünen und Sozialdemokraten im Fall einer derzeitigen Regierungsführung durch einen CDU-Kanzler zeigt jedenfalls, wie gut es sich für unser Land und für dessen Rolle als Teil der westlichen Staatengemeinschaft auswirkt, dass im letzten Herbst die Linke an die Macht gewählt und somit zum politischen Lernen verurteilt wurde. Möge diese Regierung also möglichst lange durchhalten, denn sie ist auf jenem richtigen Weg, den sie aus der Rolle der politischen Opposition wohl lieber versperren als begehen würde.
Und vielleicht kommt unserer Bundesregierung im weiteren Verlauf der russischen Ukraine-Besetzung ja auch zu neuen Einsichten über den Zusammenhang von energetischer Versorgungssicherheit und der Fähigkeit zur Erzeugung nuklearer Energie im eigenen Land. Womöglich gelingen so manchem Fan der Vorgängerin von Bundeskanzler Scholz sogar noch zusätzliche Einsichten in weitere Politikfehler Deutschlands, die unsere Bundesregierungen während des letzten Jahrzehnts unter breitem öffentlichem Beifall begangen haben – und die ihrerseits zum jetzigen Verhalten Russlands beitrugen und nun so übel an der Bevölkerung der Ukraine ausgehen. Doch gute Politik verlangt eben mehr als nette Worte und schöne Absichten – auch wenn die Wortführer von Deutschlands Wohlfühldebatten das während wirklich langer Zeit nicht wahrhaben wollten.