Politik „als ob“
ursprünglich erschienen am 14. August 2021 auf „Hallo Meinung“
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Schon so manches Kind wird von seinen Eltern Folgendes als Antwort auf seine Frage erhalten haben, ob es den lieben Gott wohl wirklich gäbe: „Wenn Du ganz fest an ihn glaubst, dann gibt es ihn“.
Kindisch ist freilich nicht jene Frage, sondern diese Antwort. Denn ob es jemanden gibt oder nicht gibt, ob etwas der Fall ist oder nicht: Das hängt ja nicht davon ab, was man selbst glaubt. Vielmehr gilt: Etwas existiert, oder existiert eben nicht, ganz unabhängig davon, was man als existierend vermutet. Die Erde etwa war auch schon zu solchen Zeiten eine Kugel, als man sie sich noch als eine Scheibe vorstellte. Und umgekehrt war das, was heute Amerika genannt wird, durchaus niemals Indien, obwohl Kolumbus einst glaubte, gerade dort gelandet zu sein. Natürlich ändert auch der heutige Name „Westindische Inseln“ nichts daran, dass man sich nicht in Indien, sondern in Amerika befindet, wenn man sich auf den Antillen oder den Bahamas aufhält.
Offensichtlich geht es bei allen diesen Beispielen um den Unterschied zwischen dem, was wirklich ist, und dem, wovon man meint, dass es der Fall wäre. Deshalb geht es auch um jene Methoden des Erkennens, welche die Chancen dafür steigen lassen, dass man zu solchen Aussagen gelangt, die mit den Tatsachen übereinstimmen. Ebenfalls geht es darum, auf welche Weise man mit den Tatsachen nicht übereinstimmende Aussagen entdecken kann und sie zu vermeiden bzw. zu korrigieren vermag.
Auch ohne Beschäftigung mit der hier einschlägigen Wissenschaftstheorie und Methodenlehre wird ein jeder einsehen, dass auch eine noch so große Festigkeit persönlichen Glaubens an das Bestehen von Tatsachen oder an die Eigenschaften von Zusammenhängen nicht das mindeste dazu beiträgt, dass man wirklich Verlässliches über die sachliche Richtigkeit von Aussagen über Tatsachen und Zusammenhänge herausfindet. Wer Letzteres will, der muss sich beim Zusammentragen aussagekräftiger Daten und beim Erkunden ihres Informationsgehalts schon erst einmal anstrengen.
So weit, so klar. Doch sobald es um Politik geht, sperren sich sehr viele gegen diese doch so einfache Einsicht. Das könnte man auf sich beruhen lassen wie so manche Eseleien, die Menschen begehen, wenn derlei Denkfehler samt den ihnen entspringenden Handlungsfehlern wirklich nur den beträfen, der da zu kurz denkt oder gar ganz daneben liegt. So ist es aber gerade nicht, wenn sich das Glaubenwollen oder bloße Meinen auf Sachverhalte bezieht, die beim politischen Handeln in Rechnung zu stellen sind. Dessen Folgen betreffen uns nämlich alle.
Wenige Beispiele genügen, um sich die üblen Folgen gerade politischer Ignoranz vor Augen zu führen. Da glauben Pazifisten an das Bestehen des folgenden Zusammenhangs: Wenn man selbst friedlich ist und nicht zur Gewalt greift, dann wird einem ein anderer auch nichts Schlimmes antun; und also lebt man in Frieden. Es haben die Belgier, die Dänen oder die Norweger aber durchaus andere Erfahrungen mit Nazi-Deutschland gemacht. Da glaubten ebenfalls gar nicht wenige, das Corona-Virus verursache nicht mehr als eine ganz normale Grippe, weshalb es auch keine Abwehrmaßnahmen brauche, etwa ein gewisses Distanzhalten oder Impfungen. Trotzdem starben gar nicht wenige – und mehr als bei einer normalen Grippe – nicht nur mit Corona, sondern auch an diesem Virus. Und da glaubten Kommunisten seit dem 19. Jh. fest daran, die Vergesellschaftung aller Produktionsmittel mache ein Land reich. Doch es führte genau die auf diesen Glauben gegründete kommunistische Wirtschaftspolitik im 20. Jh. zum Ruin der sozialistischen Staaten.
Solche Beispiele ließen sich dutzendfach vermehren. Allesamt warnen sie dringend davor, in der Politik solches Wissenwollen, das aufs Sammeln und Auswerten von neuen Erfahrungen ausgeht, durch ein Glaubenwollen zu ersetzen, das im bisherigen Weltbild möglichst wenig stört. Trotzdem ist es hierzulande nachgerade modisch geworden, sich durch selbstbestärkende Glaubensbekundungen aus der Gefahrenzone des Zweifelns am Erhofften zu retten – und obendrein alle der eigenen Meinung widersprechenden Beobachtungen nach Kräften abzublocken. „Ich kann wirklich nicht glauben, dass Leute das Risiko einer Flucht nach Deutschland auf sich nehmen, und dann nicht bereit sind, Teil unserer Gesellschaft und ihrer Werteordnung zu werden!“ – so ließen sich Herbst 2015, gefragt oder ungefragt, viele Tausende vernehmen. Ein heutiges Credo wiederum klingt so: „Ich glaube fest daran, dass Deutschlands Verzicht auf Kernkraft und fossile Energieträger Wesentliches dazu beiträgt, das Erdklima zu stabilisieren!“
Um wieviel vernünftiger wäre es, solche Glaubensbekenntnisse und Meinungsbekundungen zunächst einmal wie Vermutungen zu behandeln – und dann, geleitet von möglichst präzisen Vermutungen, nicht nur nach solchen Tatsachen zu suchen, welche die eigenen Vermutungen bekräftigen, sondern gerade auch nach solchen Befunden, die jenen Vermutungen widersprechen. Im Verlauf einer Auseinandersetzung mit Widerspruch kann man nämlich viel verlässlicher vom Glauben oder Meinen zum Wissen voranschreiten, als das gelingt, wenn man nur nach dem Ausschau hält, was die bisherigen Überzeugungen zu bekräftigen scheint. Falls sich bei der Suche nach Widersprechendem das ursprünglich nur Geglaubte oder Gemeinte bestätigt, dann besitzt man fortan eine viel verlässlichere Grundlage politischen Handelns als zuvor. Widersprechen hingegen Tatsachen dem bislang Geglaubten oder Gemeinten, dann hat man die Chance zum Dazulernen – und somit zum Vermeiden solcher folgenreicher politischer Fehler, wie sie vorhin umrissen wurden.
Doch ein solcher, auf Tatsachenwissen ausgehender Gebrauch der Vernunft steht leider derzeit nicht hoch im Kurs. Viele mögen nichts weniger als den Hinweis auf solche Tatsachen, welche die eigene Meinung in Zweifel ziehen könnten. Noch weniger mögen sie solche Leute, die derlei unerwünschte Tatsachen betonen. Bei denen versucht man deshalb, „deplatforming“ zu betreiben oder „cancel culture“ zu praktizieren, also: ihnen die Chance aufs Gehörtwerden zu nehmen. Ganz absichtsvoll gehen viele solchermaßen aus auf die Unterbindung von Debatten, bei denen jemand mit Sachverstand oder Autorität eine andere Meinung vertreten könnte als jene, die man selbst für fraglos richtig hält. Und derlei Andersmeinende, die es anscheinend nicht anzuhören, sondern auszugrenzen oder immerhin zu verachten gilt, heißen bei den einen „Lügenpresse“ oder „linksgrün Versiffte“, bei den anderen hingegen „Verschwörungstheoretiker“ oder „Rechtspopulisten“.
Weil es aber sehr oft an eigenen Fähigkeiten oder an eigener Bereitschaft fehlt, Aussagen über politisch wichtige Sachverhalte oder über Zusammenhänge mit gesicherten Tatsachen zu vergleichen, ja überhaupt deren Grad an Sicherheit einzuschätzen, urteilt man über den Wahrheitsgehalt einer politischen Aussage oft anhand des Eindrucks, ob der Beifall für diese von der „falschen“ oder von der „richtigen“ Seite kommt. Die richtige Seite ist natürlich stets die, auf der man selbst steht. Auf diese Weise verschanzt man sich dauerhaft in der eigenen Meinungshöhle – und verlässt diese eigentlich nur, um gemeinsam mit seinen Meinungsgenossen auf die Bewohner einer anderen Meinungshöhle einzuprügeln. Unter solchen Umständen liegt es auch nahe, jedes Widerwort als „Hass und Hetze“ zu empfinden, um dann – nach rein subjektivem Empfinden – eben „Gleiches mit Gleichem zu vergelten“.
So geführte Diskussionen über Politik spalten aber nicht nur unsere Gesellschaft und führen zu verbitternden Verletzungen. Sondern sie entfernen sich leicht von ihrem Gegenstand. Oft verzeichnen oder verfehlen sie ihn – und meist ohne die Fähigkeit oder Bereitschaft glaubensstarker Streithähne, das überhaupt zu bemerken. Statt einer Politik, welche die von ihr zu gestaltenden Sachverhalte und Zusammenhänge zunächst einmal so, wie sie sind, wahrzunehmen und zu verstehen versucht, entsteht dann eine „Politik als ob“ – nämlich: politisches Handeln, als ob der jeweils zu gestaltende Teil der „Welt da draußen“ wirklich so wäre, wie man ihn sich vorstellt. Auf eine unzutreffende Diagnose lässt sich aber keine ihren Zweck erfüllende Therapie gründen. Und genau deshalb führt eine „Politik als ob“ zu einer – beispielsweise – nicht nachhaltigen Rentenpolitik, zu einer mancherlei Staatszerfall herbeiführenden Interventionspolitik, zu einer den gesellschaftlichen Zusammenhalt aufsprengenden Migrations-, Integrations- und Identitätspolitik. Also zu gar manchen jener politischen Übel, unter denen sehr viele Menschen leiden.
Gerade in Wahlkämpfen, die politische Gestaltungsmacht verleihen, sollte eine kritische Journalisten- und Bürgerschaft die für sich werbenden Politiker und Parteien nicht mit dem Aufsagen ihrer politischen Glaubensbekenntnisse davonkommen lassen. Besser wäre ein Hinwirken darauf, dass sachkundig und vernunftgeleitet darüber gestritten wird, was wirklich die zu berücksichtigenden Tatsachen und Zusammenhänge wären – und welche Handlungsmöglichkeiten wohl tatsächlich zielführend sind, welche anderen aber nicht. Doch viel lieber geht man hierzulande – formuliert in den Worten eines üblen deutschen Volksverführers – in politische Gestaltungsaufgaben hinein „wie in einen Gottesdienst“. Und das ist gar nicht gut so.