Politiker am Ende ihres Lateins

Politiker am Ende ihres Lateins

Der folgende Text erschien unter dem Titel „Wenn Politiker mit ihrem Latein am Ende sind“ am 28. März 2021 auf „Hallo Meinung“, und zwar sowohl als Text (Link: https://www.hallo-meinung.de/wenn-politiker-mit-ihrem-latein-am-ende-sind/) wie auch als Podcast (Link: https://www.youtube.com/watch?v=qJXpfVZMaGQ).

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I.

Wenn Politiker mit ihrem Latein am Ende sind, ereignen sich Dinge wie beim letzten „Corona-Gipfel“ von Kanzlerin und Ministerpräsidenten. Da entsteht eine Beratungsgrundlage, die noch so viele nicht zusammenpassende Vorschläge enthält, dass nur geringe Chancen auf eine Einigung bestehen. Also setzt man darauf, dass die Dynamik wechselseitiger Zermürbung zwischen Mitternacht und Morgengrauen schon irgendwelche Lösungswege gangbar machen wird. Nach einigen Stunden stellt die Kanzlerin fest, dass man der Öffentlichkeit nichts Neues mitzuteilen habe, und das ginge gar nicht. Anschließend wird das Gespräch in kleine Runden der wirklich Wichtigen verlagert, was den anderen frustrierende Wartezeiten beschert. Irgendwann kommt – wie „Kai aus der Kiste“ – eine ganz unerwartete Idee auf. Sich für sie zu entscheiden, erlebt man dann als befreiend. Und wenn sich deren Umsetzung tags darauf als undurchführbar erweist, nimmt man sie eben zurück – idealerweise mit anschließendem Lob für eine so ganz unübliche, ja nachgerade vorbildliche Politikereinsicht. Peinlich ist der ganze Vorgang trotzdem.

Wie nur konnte so ein Missgeschick einer Politikerin widerfahren, von der Journalisten, Akademiker und politische Anhänger seit Jahren zu rühmen wissen, sie bedenke alles vom Ende her, wäge sämtliche zielführenden Mittel ab und weise deshalb stets den bestmöglichen Weg. Den dann auch zu gehen, sei alternativlos richtig. Ob nun so mancher Glaube ans Genie der Kanzlerin erschüttert ist? Und das auch bei solchen, die Merkels Energiewende oder Einwanderungspolitik dahingehend verteidigt haben, die Kritiker begriffen weder die große Weisheit noch die überlegene Moral der Kanzlerin?

II.

Freilich sollten wir fair bleiben. Es gibt nämlich keinen Grund für die Erwartung, dass sich überhaupt alle politischen Probleme lösen ließen – überhaupt und fehlerfrei, obendrein friedlich, gar ohne Begleitschäden. Vielmehr ist das Bestmögliche meist ein solches Sich-Durchwursteln, bei dem das Allernötigste immerhin halbwegs erreicht wird – und sich schädliche Nebenwirkungen gerade noch verkraften lassen. Wie real das hier Gemeinte ist, zeigt sich bei jedem Blick darauf, was derzeit mit der Stilllegung des öffentlichen Lebens erreicht werden soll, auch durch Testen und Impfen, und auf das, was vielen Gastronomen, Geschäftsleuten und Dienstleistern in den nächsten Monaten droht. Wenn also Politiker irgendwann mit ihrem Latein am Ende sind, muss das nicht nur an lausigen Lateinkenntnissen liegen. Es kann auch der zu bearbeitende Text überaus schwierig sein. Tatsächlich gehören die Corona-Pandemie, der Umgang mit dem weltweiten Migrationsdruck und die Notwendigkeit, zu einer wirklich nachhaltigen Energieversorgung zu gelangen, zu den besonders schwierigen politischen Herausforderungen. Fragen wir deshalb, welche Art von „politischem Latein“ man überhaupt gelernt haben sollte, um mit seinen Kenntnissen angesichts großer Führungsaufgaben nicht allzu rasch ans Ende zu gelangen.

III.

Gerühmt wurde oft an der Kanzlerin, dass sie ihrer Ausbildung nach eine Physikerin wäre, also klar in Begriffen von Ursache und Wirkung zu denken gelernt habe und empirische Befunde zu schätzen wisse. Das alles ist lobenswert – gerade zu Zeiten, da in den Geisteswissenschaften und in den Feuilletons viele der Mode des sogenannten „Konstruktivismus“ verfallen sind, also glauben, so etwas wie „die Wirklichkeit“ gäbe es außerhalb unserer persönlichen Vorstellungen gar nicht. Doch Viren gibt es wirklich, und an etlichen Viren wird auch gestorben – ganz gleich, wieviel man über ein einzelnes Virus, über seine Gefährlichkeit oder über sinnvolle Gegenmaßnahmen konkret weiß. Das alles muss man sich durch das Zusammentragen und die Auswertung von solchen Daten überhaupt erst erschließen, die ihrerseits wichtige Merkmale des zu verstehenden Gegenstandes einer empirischen Analyse zugänglich machen. Diesen Ansatz vertritt die Kanzlerin grundsätzlich, wenn sie ihn auch nicht immer befolgt. Letzteres kann – muss aber nicht – im Einzelfall verzeihlich sein; und ersteres ist unbedingt zu loben.

Doch das Denken von Naturwissenschaftlern wird allzu oft allein am Vorgehen der Experimentalphysik geschult. Bei der geht es meistens – doch nicht immer – um die Entdeckung von Ursachen konkreter Wirkungen. Unruhig werden Physiker – sofern nicht in der Quantenphysik tätig – immer dann, wenn sie nur zu Wahrscheinlichkeitsaussagen gelangen können und bloß dicht verknotete Ursachenbündel zu entdecken vermögen. Genau das ist aber für politische Problemlagen typisch. Wer dann, wie unsere Kanzlerin, etwas bewirken will, etwa die Verringerung von Ansteckungen durch das Corona-Virus, der neigt zur Verabsolutierung des Hauptziels und zur Geringschätzung von Nebenwirkungen – wie einst Alexander d. Gr., als er einen für unlösbar erklärten Knoten eben doch lösen wollte: Er zerschlug ihn einfach mit dem Schwert. So in etwa wird seit einem Jahr bei der auf Inzidenzwerte und Kontaktbeschränkungen gegründeten Pandemiepolitik verfahren. Und als Kanzlerin und Ministerpräsident(inn)en vor wenigen Tagen angesichts der nächsten Ansteckungswelle nicht mehr weiterwussten, da verfielen sie – sozusagen – auf ihre inzwischen eingeübten Lieblingsvokabeln: Besuchsverbote, Lockdown, Ausgangssperren …

Über ein besseres politisches Latein verfügen meist die Ingenieure. Solche fand man – glücklicherweise – besonders oft in den ersten ostdeutschen Landtagen nach der Wiedervereinigung. Dort brachten sie pragmatisch und lösungsorientiert solche Aufbauleistungen zustande, die man bloß nach Plänen aus Studierzimmern oder Zeitungsredaktionen gewiss nicht hinbekommen hätte. Ingenieure verbinden nämlich den Respekt vor Tatsachen, und gerade auch vor unwillkommenen Tatsachen, mit dem Willen, das aufgegebene Problem dennoch zu lösen – etwa: eine Maschine zum Laufen zu bringen. Es kommt ihnen zunächst nicht darauf an, ob versuchsweise ergriffene Maßnahmen auch die bestmöglichen sind oder allen gefallen. Es zählt allein, ob etwas nun überhaupt funktioniert. Verbesserungen werden sich schon noch finden lassen; doch zunächst einmal darf das Schiff nicht untergehen oder das Flugzeug nicht abstürzen. Es ist nicht zu erkennen, dass unsere Politiker mit dem Corona-Problem bislang wie Ingenieure umgegangen wären. Wahrscheinlich haben wir inzwischen auch viel zu wenig Leute mit Ingenieursausbildung in der Politik. Dann sollte uns die Pandemie lehren, dass mit der Rekrutierung unseres politischen Personals mancherlei nicht mehr stimmt.

Was ist mit den Juristen und ihrem Latein? Die sind doch die Experten beim Umgang mit jenen Rechtsnormen, die in einem Rechtsstaat die Richtschnur politischen Handelns sein müssen, und die in einem Verwaltungsstaat sogar das wichtigste Werkzeug von Politikern sind. Natürlich ist es gut, wenn Juristen ihr Wissen darüber ins politische Entscheiden einbringen, was rechtlich überhaupt möglich ist. Doch zunächst gilt es ausfindig zu machen, was denn sachlich erforderlich wäre; und erst anschließend kann es die Sache von Juristen sein, den bestmöglichen Rechtsweg zum sachlichen Ziel zu finden. Oft erledigen Juristen diese Aufgabe auch in löblicher Weise. Doch nach etlichen Jahrzehnten von Gesetzesnovellierungen, von immer wieder zusätzlichen Gesetzen und von einander widerstreitenden Urteilen höherer Gerichte wird das heranzuziehende Recht nun einmal sehr unübersichtlich. Die Spielräume des sachlich Machbaren finden sich dann eingeengt oder sind gar zugestellt. Unter solchen Umständen werden Juristen von sich angreifbar machenden Problemlösern oft zu Großmeistern beim Erklären dessen, was alles warum eben nicht geht – und deshalb auch gar nicht „angedacht“ werden sollte. Wenn Politiker dann nicht beschließen, sich über geltendes Recht hinwegzusetzen, finden sie sich leicht zur Untätigkeit oder Wirkungslosigkeit verurteilt. Um aus dieser misslichen Lage auszubrechen, liegt es für eine Regierung nahe, mit Rechtsnormen gerade so umzugehen, dass die größtmögliche politische Rendite winkt. Bei der Migrationskrise wandte man unangenehme Rechtsnormen einfach nicht mehr an – und bei der Corona-Krise griff man solange in Grundrechte ein, bis Gerichte das stoppten. Beides aber tut unserer politischen Kultur nicht gut und löst die wirklichen Probleme ohnehin nicht. Womöglich sollten wir viel weniger Juristen unter unseren Politikern haben – und stattdessen viel mehr Ingenieure.

Oder mehr Leute mit geschichtlichem Wissen! Zwar wiederholt sich Geschichte nicht. Doch vielerlei Problemlagen und Problemlösungsversuche kennt man aus unterschiedlichen Zeiten und aus mannigfachen Kulturen. Pandemien kamen schon öfters vor; immer wieder geben Regierungen mehr Geld aus, als sie haben; nicht selten bestreiten öffentliche Meinung oder andere Mächtige gerade das, was einem selbst als richtig erscheint. Häufig waren Aufsässigkeit oder Aufstände einer nicht zur eigenen Zufriedenheit regierten Bevölkerung; und so gut wie nie gab es „perfekte Politik“. Niccolò Machiavelli hat schon vor einem halben Jahrtausend überzeugend vorgeführt, wie sich zur Gewinnung praktischer Handlungsratschläge aus solchen geschichtlichen Erfahrungen lernen lässt. Allerdings muss man aus Erfahrungen schon auch lernen wollenund darf sich nicht an die bequeme Formel halten, wonach die Geschichte nur lehre, dass Menschen nichts aus ihr lernten. Helmut Kohl beispielsweise war als Politiker auch deshalb so erfolgreich, weil er zeit seines Lebens geschichtliche Bücher verschlang und aus Politikerbiographien zu lernen verstand, wie man es mit Entscheidungen gerade unter den so politiktypischen Umständen von Nichtwissen und Unsicherheit halten soll. 

IV.

Unter genau solchen Umständen haben unsere Politiker auch derzeit ihre Aufgaben zu erfüllen. Vermutlich wären sie darin besser, wenn sie nicht nur ihre eigenen Karrierebedingungen kennen würden, unter denen man oft genug vom Kreißsaal über den Hörsaal in den Plenarsaal gelangte und fortan alternativlos in politischen Seilschaften zu leben hat. Wiederum ist zu sehen, dass mit der Rekrutierung unserer Politiker etliches nicht mehr stimmt. Daran sollten wir bald etwas zu ändern versuchen. Wir brauchen einfach mehr geschichtlich geschulten Ingenieursgeist in unseren Parlamenten – und weniger Leute mit juristischer Perfektionierungslust oder ideologischer Leichtfertigkeit. Wäre das so, dann hätten wir – anders als jetzt – mehr solche Politiker, die auch in Krisenlagen mit ihrem Latein nicht so schnell ans Ende kommen.

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