Zum Sturm aufs US-Kapitol – samt Lehren für Deutschland
Hoffen wir, dass jetzt – kurz nach 24 Uhr des 6. Januar – die übelsten Szenen am und im US-Kapitol Vergangenheit sind, dass also nichts noch Schlimmeres in die Analyse einzubeziehen ist. Was sich da ereignet hat, sind die ganz unübersehbar hässlichen Folgen von politischer Selbstgerechtigkeit und von leichtfertigem Zündeln mit politischem Sprengstoff.
Da glaubt ein amerikanischer Präsident so fest daran, die Wahl vom letzten November gewonnen zu haben, wie einst Stalin an den Verrat seiner einstigen Weggefährten. Da bringt dieser Präsident Dutzende von Millionen Leuten im eigenen Land und anderswo zur Ansicht, sie müssten sich unbedingt dem „Diebstahl seines Wahlsiegs“ entgegenstellen. Da überzeugt er wochenlang kein einziges Gericht von der Stichhaltigkeit seiner Beweismittel für großflächige Wahlfälschungen, versucht dann aber, durch allein politischen Druck auf die Abgeordneten seiner Partei – und sogar auf seinen eigenen Vizepräsidenten – das Ergebnis seiner Abwahl rückgängig zu machen. Und als seine Anhänger am Tag der abschließenden Feststellung des Wahlergebnisses ins Kapitol eindringen, eine Sitzungsunterbrechung der verfassungsmäßig vorgeschriebenen Kongresssitzung bewirken und Bilder liefern, die man nur von Revolutionen in brüchig gewordenen Regimen kennt, da ringt dieser Präsident sich zu nicht mehr durch als zum Rat an die Kapitolsumzingler, nicht länger durch ein Recht und Anstand verletzendes Verhalten dem politischen Gegner in die Karten zu spielen, sondern nach Hause zu gehen, obwohl doch wirklich (!) ihm – und somit dem ganzen amerikanischen Volk – die Wahl gestohlen worden sei.
Einmal mehr lässt sich in dieser, weitestgehend vom abgewählten Präsidenten verschuldeten Krise bei Donald Trump keinerlei staatsmännische Größe erkennen. Wieder sieht man nur das wütende Aufstampfen eines politisch pubertierenden Egozentrikers. Das ist beschämend für ein Land, das sich so lange und wirklich gern in biblischen Bildern als leuchtende „Stadt auf dem Berg“ und strahlendes „Licht auf dem Scheffel“, ja als „Gottes eigenes Land“ verstand und darstellte, ja zu manchen Zeiten seinen ethischen Ansprüchen auch gerecht wurde. Amerikahasser mögen nun die Bilder vom gestürmten Kapitol durchaus mit Schadenfreude sehen, kommentieren und mit anderen teilen. Politikrealisten werden die heute ganz außer Rand und Band geratene politische Leidenschaft von Amerikanern als ohnehin irgendwann fällige Korrektur der oft arrogant wirkenden politisch-kulturellen Selbstüberschätzung eines Landes verbuchen, das sich ungeniert für das beste auf Erden hält. Und die Liebhaber der USA sowie die Freunde einer funktionierenden Demokratie werden beschämt, traurig und wütend sein.
Wir in Deutschland sollten uns aber nicht darauf beschränken, das eine oder andere dieser Gefühle zu teilen, oder den US-Amerikanern einfach mit wohlfeilen Ratschlägen zu kommen, selbstgerecht herabgerufen vom – wieder einmal sehr hochgewachsenen – deutschen Moralross. Sondern wir sollten vor allem bedenken, dass schon sehr oft auch schlechte Entwicklungen nach Deutschland schwappten, die in den USA ihren Anfang nahmen. Also sollten wir die Ursachen dieser verstörenden Entgleisung politischen Streits bedenken. Allesamt wuchern sie nämlich auch bei uns.
Da ist – in den USA seit Nixons und Reagans Zeiten – die Verachtung der Intellektuellen für jene, die einfacher denken, anders sprechen oder auch nur andere politische Ansichten vertreten als sie selbst. Da ist die lange aufgestaute – in den USA sich in der Wahl und Unterstützung Donald Trumps entladende – Gegenreaktion dieser Anderen, die man seitens der (so ihre Selbstsicht) „Gebildeten und Anständigen“ gern die Idioten, die Populisten oder die Extremisten nennt. Die glauben (und verhalten sich entsprechend): nur betrogen und belogen würden sie von den etablierten Politikern; sie würden zum Vorteil globaler Eliten ausgenutzt und dann fallengelassen; sie würden dumm gehalten oder für dumm verkauft mittels Durchsetzung von politisch korrektem Neusprech und dank einer Symbiose von „Lügenpresse“ und politischen „Volksverrätern“. Das alles schaukelte sich – nicht nur in den USA – jahrzehntelang immer weiter auf: Immer unerträglicher wurde für die „da unten“ der akademische und mediale Beifall für „die ganz oben“, ganz gleich ob mit oder ohne Friedensnobelpreis – und für die „Guten“ wurden alle Wahlerfolge und gar erst die reale Übernahme politischer Macht durch die „Bösen“ ebenso unerträglich. So spaltete sich die Gesellschaft nicht nur sozial zwischen den Reichen und den gerade nicht so Reichen, den „anywheres“ und den „somewheres“, sondern ebenfalls zwischen den „moralisch Überlegenen“ und den „ethisch Verwerflichen“. Die Zusammenstöße zwischen diesen Gruppen vollzogen sich, soweit nicht – wie das immer mehr geschieht – „cancel culture“ und „deplatforming“ zuschlagen – auf Debattenpodien, in Talkshows, auf der Straße zwischen Demonstranten und Gegendemonstranten, auch in und vor den Parlamenten, und heute sogar im schauderhaften Eindringen eines Mobs in ein so lange in Ehren gehaltenes Parlament.
Wir sollten also endlich begreifen: Solche Gewalttätigkeiten, die – wie Bilder aus so mancher Revolution zeigen – noch viel schlimmer werden könnten, beginnen mit selbstgerechtem und herablassend-aggressiven Verhalten gegenüber politischen Gegnern, setzen sich fort in Regelverletzungen zum eigenen Vorteil, werden gerechtfertigt durch den Verzicht auf Faktentreue beim Reden über Politik und durch die Vermeidung von Logik beim Argumentieren über Politik, falls Faktentreue und Logik nicht ins politisch bevorzugte Narrativ passen. Diese Dynamik schaukelt sich – nicht nur in den USA – immer weiter auf, und zwar sowohl in den jeweils eigenen Filterblasen und Echokammern als auch zwischen den immer heilloser verfeindeten und nachgerade in unterschiedlichen Wirklichkeiten agierenden politischen Lagern.
In Deutschland können wir vielleicht noch stoppen, was zur derzeitigen Erkrankung der politischen Kultur der USA führte. Wir sollten das auch guten Willens versuchen: in allen kommenden Wahlkämpfen, auch bei den sie begleitenden Auseinandersetzungen in den Parlamenten, in den Talkshows und in den – gerade auch „alternativen“ – Medien. Wir sollten das tun trotz aller Enttäuschungen und Misserfolge, die so sicher kommen werden wie das Amen in der Kirche.
Die Leitlinien für richtiges Verhalten lassen sich unschwer finden. Nachzulesen sind sie in allen Texten über den Wert von Pluralismus und diskursiven Anstand, desgleichen in den heutigen Reden des republikanischen Mehrheitsführers im US-Senat sowie des demokratischen neuen US-Präsidenten. Und anders als in den USA gibt es in Deutschland wohl wirklich noch eine Chance, unsere Gesellschaft gerade nicht bis hin zur Gewalttätigkeit an den politischen Lagergrenzen zerfallen zu lassen, sondern sie durch unbeirrbares politisches Fair Play zusammenzuhalten. Nutzen wir diese Chance – oder sehen wir immerhin ein, dass unter der Oberfläche demoskopisch gemessenen Regierungsvertrauens da auch in Deutschland viel an Empörung und Aufsässigkeit am Brodeln ist. Dann mag man auch erkennen, dass allein mit Ausgrenzung und „Kampf gegen rechts“ nichts Nachhaltiges zu bewirken ist.