Wie gut erfüllt der Bundestag seine Pflichten?

Wie gut erfüllt der Bundestag seine Pflichten?

ursprünglich erschienen am 25. Oktober 2020 auf „Hallo Meinung“, als Text unter https://www.hallo-meinung.de/erfuellt-der-bundestag-seine-pflichten-gut-genug/, als Podcast unter https://youtu.be/QbqHw1azHu8.

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Sehr wohl tut der Bundestag seine Pflicht. Er wählt Amtsträger, etwa eine neue Wehrbeauftragte. Er führt seine Fragestunden durch. Er debattiert über die China-Politik der EU. Er berät über Gesetze, am 9. September 2020 etwa über ein „Gesetz zur Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens“. Auch machen seine Abgeordneten oft wirklich gute Wahlkreisarbeit. Ist also alles gut?

I.

Nein. Der Plenarsaal des Bundestages hat nämlich auch das „Forum der Nation“ zu sein. Dort sind alle großen Probleme unseres Landes mitsamt möglichen Lösungen so zu erörtern, dass derlei Debattieren über das Gemeinwohl von jenem Staatsvolk auch mitzubekommen ist, das im Parlament vertreten wird. Durchaus nicht müssen alle mit dem dabei Gehörten zufrieden sein. Doch die Bevölkerung sollte stets erfahren können, ob ihre Repräsentanten wirklich alles das auf dem Schirm haben und diskutieren, was Thema politischer Gespräche am Esstisch oder Arbeitsplatz ist. Auch sollte das Staatsvolk darauf vertrauen können, dass diese Dinge genau dort verhandelt werden, wohin man mit etlichem Aufwand Hunderte von Abgeordneten wählt: im Bundestag. Also nicht nur in Talkshows oder bloß innerparteilich.

Keineswegs haben alle politisch wichtigen Beratungen ausschließlich im Plenarsaal stattzufinden. Schon die Frankfurter Nationalversammlung von 1848/49 scheiterte am ziemlich naiven Versuch, das Parlamentsplenum sozusagen als Klassenzimmer mit wechselnden Lehrern am Rednerpult zu nutzen. Doch das, was in den Arbeitskreisen und Vollversammlungen der Parlamentsfraktionen oder in den Ausschüssen des Bundestages erörtert wurde, und zwar aus sehr guten Gründen genau dort, muss als Zwischenstand sowie abschließend gerade auch in jenen Debatten des Plenums zur Sprache gebracht werden, die der Öffentlichkeit zugänglich sind. Dort haben politische Inhalte dann so verdichtet und zugespitzt zu werden, dass selbst Unpolitische das Wesentliche zu erkennen vermögen, falls sie sich etwas Mühe geben.

Der Grund für diese Forderung ist gewiss nicht, dass die Wählerschaft den – etwa auf Phoenix übertragenen – Plenardebatten wie einer Netflix-Serie stundenlang folgen würde. Sondern es geht um die Sicherstellung dessen, dass zentrale Aussagen der Politikerschaft mitsamt ihren Gegenargumenten überhaupt die Chance bekommen, über fernseh- oder videotaugliche Debattenauszüge dem Wahlvolk zur Kenntnis zu gelangen. Genau dafür muss der Bundestag unbedingt auch im Plenum diskutieren, weil nur dort verlässlich das freiheitssichernde Doppelpack von öffentlicher Rede und Gegenrede entsteht. Natürlich sollten Debatten über wichtige Themen auch in ganzer Länge als Video im Internet dokumentiert sein. Die entsprechenden Plenarprotokolle sind mit geringer Zeitverzögerung ohnehin über die Webseite des Bundestags zugänglich.

II.

Zum Tango aber gehören zwei. Hier wird zum Problem unserer repräsentativen Demokratie, dass auch viele Bürgerinnen und Bürger, die Plenardebatten aufmerksam verfolgen, deren Aufgabe nicht so recht verstehen. Die meisten glauben nämlich, im Plenarsaal gehe es darum, den politischen Gegner für die eigene Position zu gewinnen. Wer das meint, der weiß in der Regel gar nicht, dass die Plenarverhandlungen wirklich nur die Spitze eines ganzen Eisbergs politisch-parlamentarischer Beratung, Willensbildung und Entscheidungsfindung darstellen. In den Arbeitskreisen der Fraktionen und in den Ausschüssen des Parlaments gehen Abgeordnete sehr wohl auf wechselseitiges Überzeugen aus. Doch im Plenum wird – wenigstens in der Regel – schon Beschlossenes nur „zu Protokoll gegeben“. Deshalb spricht man öffentlichkeitsbezogen „zum Fenster hinaus“.  Auch schließen allzu viele von den vergleichsweise wenigen wirklich polemischen Plenardebatten, die genau wegen ihrer Heftigkeit Nachrichtenwert besitzen, auf den üblichen Stil von Bundestagsdebatten – und werfen sich dann in die Positur eines Erwachsenen, der sich über das Verhalten von Pubertierenden empört. Das aber wird der Praxis von Parlamenten und Parlamentariern durchaus nicht gerecht. Viel angebrachter ist jedenfalls die folgende Kritik.

III.

In einer repräsentativen Demokratie sind alle wichtigen öffentlichen Belange nachvollziehbar von der Volksvertretung zu erörtern. Obendrein bedürfen, gemäß deutscher Verfassungslehre, alle wichtigen politischen Richtungsentscheidungen eines konstitutiven Beschlusses im Parlament. Und nach deutschem Verfassungsrecht braucht es auch immer eine gesetzliche Grundlage, wenn die Regierung ins Leben der Bevölkerung mit konkreten Maßnahmen eingreifen will. Gesetze aber sind im Parlament öffentlich zu erörtern und zu beschließen. Hat freilich der Deutsche Bundestag diese Beteiligungspflichten anlässlich der letzten weichenstellenden Entscheidungen der Bundesregierung wirklich gut erfüllt, vor allem bei der Eurozonenpolitik, bei der Migrationspolitik, bei der Corona-Politik?

Bei der letzteren regierte immer wieder die von der Verfassung nicht vorgesehene, doch natürlich nicht illegitime Konferenz der Ministerpräsidenten mit der Kanzlerin. Allerdings hat dieses Gremium gleich 17 parlamentarische Kontrolleure – und somit keinen, der wirklich wirksam wäre. Zwar wurden, anders als zu Beginn der Migrationskrise, diesmal rasch gesetzliche Grundlagen für das neu erforderliche Regierungshandeln geschaffen, etwa im „Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“. Doch wie intensiv wurden in den öffentlichen Sitzungen des Bundestages die politisch so folgenreichen Unterschiede in den Expertenbewertungen zur Gefährlichkeit der Infektionslage erörtert? Oder pandemisch verursachte Risiken mit denen Folgeproblemen einer Stilllegung des Wirtschafts-, Gesellschafts- und Kulturlebens abgeglichen? Passt es nicht auch ins kritikwürdige Bild, dass sich ebenfalls im Herbst 2015 das Bundestagsplenum durchaus nicht gründlich mit den so folgenreichen Entscheidungen bzw. Nicht-Entscheidungen der Bundesregierung zur Migrationspolitik befasst hat? Und rundet es dieses Bild nicht in unerfreulicher Weise ab, dass schon einige Jahre vorher der Bundestag vom Bundesverfassungsgericht nachgerade gezwungen werden musste, Verantwortung für die Eurorettungspolitik der Regierung zu übernehmen?

Jeder mit Sinn für Politik versteht, warum es eine Regierung gerne hat, wenn ihr das Parlament nicht in die Quere kommt. Doch gerade deshalb darf man in einer Demokratie den Parlamentariern scharfe Vorwürfe machen, wenn sie Anlass zum Eindruck geben, sie nähmen die Ausübung öffentlich sichtbarer Regierungskontrolle nicht ausreichend ernst. Gute Gründe für diesen Eindruck gibt es aber, wenn beispielsweise eine Regierung regelmäßig damit durchkommt, ihre Entscheidungen als alternativlos auszugeben, etwa von der Energiepolitik bis zur Eurozonenpolitik. Oder wenn es der Bundestag hinnimmt, dass die Regierung Grundzüge ihrer Migrationspolitik in Talkshows erläutert, nicht aber im Plenarsaal. Oder ihre Coronapolitik vor allem auf Pressekonferenzen rechtfertigt. 

IV.

Womöglich ließen sich solche parlamentarischen Versäumnisse nachsehen, wenn sich wenigstens die Journalistenschaft – wie einst im 19. Jahrhundert – als Instanz der Regierungskritik verhielte. Doch deren Großteil behandelte bei der Eurorettungspolitik so wichtige Sachverhalte wie die Target2-Salden als für eigene Recherchen zu schwierig und für eine Aufklärung der Bevölkerung zu komplex. Bei der Migrationspolitik stellten sich die meisten Medien dann nicht nur ausdrücklich hinter den Regierungskurs, sondern gaben auch sachliche Kritik an ihm als rassistisch oder unmenschlich aus. Und bei der Corona-Politik sind Kritiker für viele Journalisten einfach „Covidioten“, mit deren Argumenten sich auseinanderzusetzen unter der Würde von seriösem Journalismus wäre. So aber entfällt jeder mediale Druck auf die Parlamentarier, derlei Themen gerade im Bundestag ebenso streitig zu erörtern, wie das der real im Staatsvolk vorhandenen Umstrittenheit dieser Politiken angemessen wäre. 

Doch warum ist das so? Erstens leuchtete das jeweilige Handeln der Bundesregierung den meisten deutschen Journalisten so sehr ein, dass sie angesichts von Bevölkerungskritik diese Politik lieber rechtfertigten als hinterfragten. Zweitens richtet die Bundeskanzlerin ihre Politik seit langem stark an Umfragen aus. Das führt zum Zusammenspiel inhaltlichen Einvernehmens zwischen Regierung und Journalistenmehrheit mit der Prägung der – anschließend demoskopisch nachgewiesenen – Bevölkerungsmeinung durch die etablierten Medien samt einer wirksamen Verpönung von Minderheitsmeinungen. Genau dieses Zusammenspiel sichert der Kanzlerin seit vielen Jahren große Popularität und Durchsetzungskraft. Gestützt auf dies alles versteht es – drittens – die Regierungschefin ganz vorzüglich, die grüne Opposition auf ihre Seite zu ziehen sowie die Opposition in den eigenen Reihen klein und mutlos zu halten. Viertens unterstützen die Grünen, ihrerseits im Einklang mit der Journalistenmehrheit, seit langer Zeit gerade die in der Bevölkerung umstrittensten Politikvorhaben der Kanzlerin und haben sich auf diese Weise auch bundespolitisch zum künftigen Koalitionspartner einer sie jetzt schon anschmachtenden CDU gemacht. Als einzige sichtbare Opposition agiert im Bundestag deshalb die AfD. Doch einesteils ist die Abwehrfront aller etablierten Parteien gegenüber der AfD in den letzten Jahren festgeblieben. Und andernteils hat die AfD wenig dafür getan, ja ihrerseits sogar sehr viel dagegen, dass sie zur Union politisch anschlussfähig würde. Eine Opposition ohne Machtperspektive ist aber einflusslos. Das erlebt – nicht nur auf Bundesebene – seit vielen Jahren die Linke. Die aber hat daraus viel klügere Konsequenzen gezogen als die AfD.

Im Endeffekt ist der Deutsche Bundestag seit vielen Jahren nicht mehr jene Stätte, auf der die großen und wichtigen Streitfragen des Landes sowohl tiefgründig als auch guten Willens erörtert würden. Er wurde vielmehr zur Schaubühne, auf der – in den Auseinandersetzungen zwischen der AfD und allen anderen Parteien – die inzwischen unser ganzes politisches Leben prägende Spaltung zwischen den „Anständigen“ und den „Rechten“ inszeniert sowie, teils mit wirklicher Inbrunst, vorgeführt wird. Die jeweils verhandelten Inhalte dienen dabei eher als theatralischer Stoff denn als an sich wichtige Themen politischen Richtungsstreits. 

V.

In dieser Lage bringt die Frage nicht wirklich weiter, ob an alledem eher die AfD schuld wäre oder so manche törichte Reaktion auf deren Aufkommen. Besser wäre es jedenfalls, wenn immer mehr Leute im Land begriffen, dass wechselseitig selbstberauschendes Polarisieren unsere Parlamente um ihr Repräsentationsvermögen bringt, unseren Parlamentarismus um seine Kontrollfähigkeit, unser Land um viele Vorteile repräsentativer Demokratie. Solche Einsicht schüfe dann vielleicht die – jetzt leider noch fehlenden – Voraussetzungen für diåe wünschenswerte Wiederkehr politischer Vernunft und staatsmännischen Verhaltens.

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