Was läuft schief in Deutschland?
Am 11. Oktober erschien auf „Hallo Meinung“ der folgende Beitrag,
den ich leichter Erreichbarkeit halber auch hier wiedergebe.
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Grundsätzlich läuft vieles richtig in Deutschland. Das muss man immer wieder betonen, weil allzu viele den Zusammenbruch unseres „Systems“ samt dem Ruin einer „links-grün versifften“ Gesellschaft befürchten, erwarten oder gar erhoffen. Nachstehend geht es allerdings nicht um das, was Deutschland weiterhin stark und zu einem wirklich guten Land macht. Stattdessen sollen wichtige Fehlentwicklungen samt ihrem inneren Zusammenhang vor Augen geführt werden. Auf zwei, drei Seiten geht das bloß zugespitzt, holzschnittartig, beschränkt aufs Grundlegende. Vollständigkeit ist unmöglich. Wichtig ist nur, dass die Gesamtlage unserer Herausforderungen überschaubar wird. Dann nämlich lassen sich auch Problemlösungen finden.
Mir scheint: Die tiefste Ursache unserer Probleme liegt darin, dass die meisten Deutschen mit ihrem Land nicht im Reinen sind. Die weiterwirkenden seelischen Verwundungen durch den Verlust von Deutschlands Ansehen im Ersten Weltkrieg, gar erst die millionenfachen Traumatisierungen durch die – von so vielen mitgetragene – Diktatur der Nationalsozialisten mitsamt ihren Verbrechen und deren Folgen vergällen es bis heute vielen, dass sie nun einmal Deutsche sind. Wie Zahnweh oder Mundgeruch fühlt sich das oft an. Weil beides unangenehm ist, wollen seit 1945 nicht wenige unser Land in einem „postnationalen Europa“ aufgehen sehen. Dann müssten sie nämlich keine Deutschen mehr sein. Viele sehnen auch eine multikulturelle, multiethnische, bunte Gesellschaft herbei. In der würden, vor allem dank sehr unterschiedlicher Kinderzahlen, die „Biodeutschen“ im Vergleich zu den „Passdeutschen“ immer weniger. In den Grundschulen der Großstädte ist diese Zukunft schon zu erkennen. Und die wäre auch gut für uns, weil „der Deutsche“ nun einmal zum autoritären Untertanengeist neige – und zugleich zur rassistischen Überheblichkeit. Deshalb soll eine internationale Migrantenschaft uns „mit diesen Deutschen nicht alleinlassen“.
Von einer deutschen Kultur, zu deren Mitträgern sehr viele Zuwanderer werden könnten, meinen etliche Intellektuelle, eine solche wäre gar nicht fassbar, jedenfalls nicht gesondert von unserer Landessprache. Und soweit es eine solche Kultur dennoch gäbe, führten ihre Spuren von jenen wilden Germanen, die einst das kultivierte (West-)Römische Reich zerstörten, über Luther, Bismarck, Nietzsche und Wagner geradewegs zu Adolf Hitler. In derlei Unkultur aber könne man wirklich niemanden einladen, der auch nur einen Funken Selbstachtung hätte. Umgekehrt werde ein Schuh draus: Gerade Zuwanderer machten die Kultur hierzulande reich – und endlich zu einer wirklich guten, falls wir uns bereitwillig auf solchen Kulturwandel einließen.
Allerdings wird in einem Land, das keine um ihres Wertes willen zu bewahrende Kultur kennt, sich Bildung bald beschränken auf die Vermittlung von alltagstauglichen Sprachkenntnissen sowie auf die Handhabung jener elektronischen Geräte, die uns das Rechnen, die Rechtschreibung, auch das Lernen durch Lesen oder Tun abnehmen. Nicht minder verändert sich Erziehung als Teil einer verächtlich gewordenen Kultur. In Deutschland vermittelten Pädagogen seit Kaisers Zeiten sogenannte „Sekundärtugenden“: Fleiß und Sorgfalt, Disziplin und Pflichterfüllung. Das alles– so einst ein deutscher Spitzenpolitiker – kann man brauchen, um Angriffskriege vorzubereiten oder Konzentrationslager zu betreiben. Solches wollen wir aber nicht mehr, und das ist auch gut so. Also sinkt die Nachfrage nach derlei Haltungen. Diese zu erwerben oder an den Tag zu legen, ist ohnehin anstrengend. Einladender sind die Alternativen: halblang machen, fünf gerade sein lassen, locker bleiben. Zwar lernen und leisten dann die meisten nicht mehr verlässlich viel. Aber man tröstet sich, es gäbe jetzt eben andere Zeiten und Umstände.
In denen beklagen nun Ausbildungsbetriebe, dass sie zu wenige Bewerbungen von jungen Leuten bekämen, gar von solchen ohne jedes Sprachproblem, und dass anschließend etliche ihre Lehrzeit abbrechen. Ähnliche Schwäche, Begonnenes zu beenden, sieht man an den Hochschulen. Für deren Besuch soll mittlerweile nur der Elternwille den gymnasialen Weg bahnen, doch nicht notwendigerweise eine unter Beweis gestellte Dauerleistungsfähigkeit. Trotzdem gilt sogar jemand mit Billigabitur oder billigem Hochschulabschluss meist mehr als ein Handwerksgeselle oder Meister. Auf diese Weise verbinden sich mit Erziehungsmängeln auch noch gesellschaftliche Fehlsteuerungen von Bildungs- und Berufslaufbahnen. Am Ende machen viele junge Leute aus sich und ihrem Land deutlich weniger, als sie das eigentlich vermöchten – und eines Tages auch schätzen würden.
Verscherzen aber nur junge Leute allzu leicht eine gute Zukunft? Etwa durch Drogen, einen vernachlässigten Einstieg ins Arbeitsleben, auch durch Bindungsangst? Gibt nicht obendrein ein ins Gewicht fallender Teil unserer Gesellschaft deren Zukunft auf? Denn wieso schaffte es die nun aufs Rentenalter zugehende Generation nicht, so viele Kinder in die Welt zu setzen, dass es weiterhin genügend Pflegekräfte gibt, außerdem ausreichend viele Ärzte, Polizisten und Handwerker? Weshalb erlangen deutsche Firmen und Banken inzwischen mehr Aufmerksamkeit durch Betrügereien als durch Neuerungen, die international wettbewerbsfähig sind? Warum sind so viele so stolz darauf, weltweit unterwegs zu sein und Deutschland gar nicht mehr zu brauchen – wobei sie jene dezent bemitleiden oder gar verachten, die ihr Land, das im Vergleich zu asiatischen Ländern technisch und sozialorganisatorisch zurückfällt, niemals werden dauerhaft verlassen können? Weshalb auch werden so viele so böse bei der Feststellung, auf solche Weise schaffe sich Deutschland irgendwann selber ab? Und weswegen reagieren sie so gereizt beim Ratschlag, Deutsche sollten sich auf ihre Kultur besinnen, sie mögen und auch weiterhin in Geltung halten?
Ein Grund ist, dass viele derlei Überlegungen für reaktionär halten, gar für kulturrassistisch. Ihnen erscheint es viel richtiger und wichtiger, umfassende Zuwanderungsrechte nach Deutschland zu sichern, minimale Abschiebungsmöglichkeiten vorzusehen und auf eine auch kulturelle, nicht nur wirtschaftliche Integration der zum Bleiben Gekommenen zu verzichten. Hängt aber die Leistungsfähigkeit unserer Wirtschaft und Gesellschaft nicht sehr stark vom Ausbleiben kultureller Konflikte ab, auch von der Vermeidung ethnisch-sozialer Spannungen? Und braucht wohl jener Sozialstaat, der zum Stolz der Deutschen und zum Magneten globalen Wanderungsgeschehens geworden ist, keine nachhaltig blühende Wirtschaft, die ihrerseits die Steuerquellen sprudeln lässt und Umverteilungspolitik nach Gerechtigkeitskriterien ermöglicht? Wenn sich das alles aber so verhält: Warum findet hierzulande fast jeder Versuch großen Beifall, die Grenzen der Belastbarkeit von Wirtschaft und Gesellschaft weiter auszutesten – etwa durch bürokratische Gängelung, durch Auferlegen hoher Steuern, auch durch sprunghafte politische Richtungswechsel samt Abwertung und Ausgrenzung jener, die derlei Politik scharf kritisieren?
Mir drängt sich da die Vermutung auf: Durch praktizierte und hingenommene Autoaggression, also durch selbstverletzendes Verhalten, werden uneingestandene Gefühlsprobleme mit dem eigenen Land ausagiert. Das legt auch der Blick auf unsere Europapolitik nahe. Zweifellos brauchen wir eine zusammenhaltende EU. Doch weshalb überspannt dann Deutschland den Bogen, indem es an der Vision eines postnationalen Europas festhält und der EU immer mehr Zuständigkeiten verschafft, während keines unserer Nachbarvölker wünscht, sein Staat möge „in Europa aufgehen“? Und mit wie guten Gründen greift Deutschland in der Migrationspolitik zum Mittel der moralischen Erpressung solcher EU-Partner, die eine andere Politik als die hierzulande bevorzugte für sinnvoll halten? Reicht es nicht, England auch auf diese Weise aus der EU vertrieben zu haben? Soll man nun wirklich die für uns so wichtige EU noch weiter spalten, nämlich durch deutschen Führungsdruck hin in Richtungen, die allenfalls vielen Deutschen als plausibel gelten?
Zu denken gibt ferner, dass fast jedes Lob des heutigen Deutschlands verbunden wird mit einer Herabsetzung dessen, wie frühere Generationen dieses Land ausgestaltet haben. Gewiss verdienen die Nationalsozialisten alle nur erdenkliche Ablehnung und Verachtung. Doch gilt das auch für das Kaiserreich? Sind Schwarz-Rot-Gold nur dann gute Farben, wenn man erst einmal das Schwarz-Weiß Preußens abgewertet hat, dem bei Gründung des Norddeutschen Bundes noch das Rot der Hansestädte Bremen, Hamburg und Lübeck angefügt wurde? War die Lebensleistung derer, die Deutschland nach 1945 aus seinen Ruinen neu aufbauten, denn wirklich bloß zweitklassig und darin wenig respektabel, dass – angeblich – nicht mehr zustande gebracht wurde als ein „restaurativer Weststaat“ sowie die an ihrer kommunistischen Partei scheiternde DDR? Kann sich dieses Land denn keinesfalls um seiner selbst willen samt seiner Geschichte mögen, in der die überwundenen Diktaturen doch nicht die Höhepunkte waren, sondern schreckliche Abwege vom Richtigen?
Und wie gut gehen wir eigentlich mit der seit 1989 für alle in Deutschland errungenen Freiheit um? Paart sich denn nicht schon wieder der Wille, sich in den Dienst eines guten Ziels zu stellen (2015 sichtbar in der Willkommenskultur, 2020 im Mittragen der Anti-Corona-Politik), mit der Lust am Diffamieren und Denunzieren jener anderen, die zwar ebenso guten Willens sein mögen, ihn aber nicht auf Ziele und Mittel auszurichten wünschen, die sie für ungut oder untauglich halten? Und wie verlässlich werden wir gerade eine Einwanderungsgesellschaft zusammenhalten können, wenn wir politische Gegnerschaft so gern in selbstgerecht erklärte Feindschaft verwandeln? Die einen tun das derzeit mit revolutionsrhetorischer Empörung über ein „versifftes System“ und einen „verrotteten Parteienstaat“, die anderen im „Kampf gegen rechts“, der heute alle trifft, die nicht-links und nicht-grün sind. Von welchen seelischen Störungen auf beiden Seiten zeugt wohl solches Verhalten samt der Freude an ihm? Wieso auch dienen bei alledem gerade Deutschland und das Deutschsein als Kristallisationspunkte von Empörungs- und Hassbereitschaft?
Unzureichend für eine Wendung zum Besseren sind anscheinend Forderungen wie „der muss weg“ oder „die müssen weg“. Denn wer und was genau soll da wegmüssen? Und wohin? Wer oder was genau soll an die Stelle des zu Beseitigenden treten? Und wie gut begründet ist überhaupt die Hoffnung, dass anschließend die Herausforderungen besser bestanden, die Spannungen nicht verschlimmert würden? Leichtfertige Antworten werden da nicht weit tragen. Besser sollten wir den Übeln unseres Landes auf den tiefsten Grund gehen und dort Heilungsversuche unternehmen, wo wirklich jener Eiter entsteht, der so große Teile unseres gesellschaftlichen Gewebes krank macht. Das aber ist unser Verhältnis zu unserem Land – und zu uns selbst als solchen, die hier doch gern und gut leben wollen.