CORONA, PEGIDA und die Politik
Am 27. Mai 2020 erschien in der „Sächsischen Zeitung“ (S. 8) unter dem Titel „Die neue Querfront der Populisten“ mein nachstehender Text.
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Spektakulär war seit März die Fügsamkeit im Land. Einhellig wie lange nicht mehr wurde ziemlich alles getan, was Deutschlands Regierungen „gegen Corona“ anordneten. Nun aber gibt es viele Protestaktionen. Nicht wenige fühlen sich an die Pegida-Demonstrationen erinnert. Wutbürger, wie einst zu „Stuttgart 21“, sind auch wieder dabei, sogar Hutbürger – diesmal allerdings mit Alu auf dem Kopf, nicht mit Schwarz-Rot-Gold.
Ähnlich sind Corona- und Pegida-Kundgebungen darin, dass lautstark Sorgen über laufende Politik und Empörung über Politiker zum Ausdruck gebracht werden. Doch unterschiedlich sind die Sorgen: damals die Einwanderung, vor allem von Muslimen – heute die Stilllegung großer Teile des Wirtschafts- und Arbeitslebens. Unterschiedlich sind auch die Quellen von Wut: damals der Unwille von Politik und Medien, die Aufbegehrenden inhaltlich ernstzunehmen – heute eine zeitweise Einschränkung von Freiheitsrechten. Unterschiedlich ist die Zusammensetzung der Demonstrierenden: damals nur Leute aus dem Spektrum rechts der Mitte, mit dann immer stärkerer Präsenz von Rechtsradikalen – heute auch viele Leute, die man bislang eher auf von Linken organisierten Veranstaltungen sah.
Die Pegida-Proteste richteten sich gegen ein von den Demonstrierenden wahrgenommenes „staatliches Nichtstun“. Die Corona-Proteste hingegen wenden sich gegen einen – wie es den Demonstrierenden scheint – „übergriffigen Staat“. Deshalb kommt unsere Gesellschaft, die sich so lange in einer Polarisierung zwischen einem „autoritär-rechten“ und einem „libertär-linken“ Politikverständnis gefiel, mit den Corona-Protesten viel schwerer zurecht als einst mit den Pegida. Denn nun protestieren Rechte gegen staatliche Autoritätsansprüche, hadern aber Linke mit Forderungen nach einem Vorrang von Selbstverantwortung. Jedenfalls befeuerte Pegida nur den Rechtspopulismus, wogegen Politik, Medien und Zivilgesellschaft sich leicht solidarisieren konnten. Die Anti-Corona-Politik hingegen facht auch den Linkspopulismus an, für den es allenthalben Sympathien gibt.
Um trotz dieser unüblichen Frontstellung emotionale und intellektuelle Distanz zum Protest zu sichern, nutzt man jetzt den Abgrenzungsbegriff „Verschwörungstheoretiker“ gerade so, wie einst gegen Pegida das Wort „Rassist“ – wenn auch mit klar größerem Wahrheitsgehalt. Mit beiderlei Gelichter will sich niemand gemein machen, und das ist auch gut so. Dennoch könnte bald schon eine Querfront aller Populisten gegen einen Staat entstehen, der zwar „gegen Corona“ lobenswert entschlossen handelte, doch genau dadurch die Phantasmen beider Seiten anregte: Was den einen als übles Spiel von Bill Gates erscheint, wirkt auf andere wie die neue Variante einer „Kanzlerdiktatur“.
Allzu tief ist wohl giftiges Misstrauen in unsere Gesellschaft eingesickert. Es richtet sich besonders gegen eine Politikerschaft, die nun jahrelang von oben herab festlegte, welche raschen Entscheidungen bei der Energie-, Euro- und Migrationspolitik unbedingt zu treffen wären, und die es vermied, im Parlament redlich-kontroverse Debatten darüber zu führen, welche Ziele und welche Mittel denn auch vernünftig wären. Wie schon bei der Euro- und der Migrationspolitik verhielt sich der Bundestag auch bei der Corona-Krise als ein recht stilles Parlament und gab der Vielfalt von Bevölkerungsansichten kaum Ausdruck. Insgesamt mehr an selbstgerechtes Durchregieren als an offenes Debattieren gewöhnt, haben sich nun ziemlich viele in eine private Meckerkultur zurückgezogen, aus der heraus man aber lustvoll gute Gelegenheiten rüden Aufbegehrens nutzt.
Doch anders als auf dem Höhepunkt von Pegida schmollt und schimpft nun die Politikerschaft nicht einfach zurück. Inzwischen wird auch in deren Führungsriegen eingesehen, dass man besorgten Bürgern besser zuhört, als dass man sie zur inneren Kündigung gegenüber unserem Gemeinwesen treibt. Tatsächlich hat in einem freien Land nicht die Bürgerschaft um das Vertrauen der Regierenden zu werben, sondern die Sache liegt genau anders herum: Die Regierenden müssen sich jenes Vertrauens als würdig erweisen, das wir alle ihnen bei ihren ganz außergewöhnlichen Anordnungen seit dem März schenkten.
Etliche Politiker stellen sich deshalb nun auch dem zornigen Volk, antworten sachlich sogar auf dreisten Unsinn – und zeigen, wie falsch jene lagen, die 2014/15 solches Verhalten als Anbiederung ausgaben und jedes Verstehen als ein Einverständnis auslegten. Doch gerade so, wie von Sachsens Ministerpräsidenten praktiziert, geht nun einmal Bürgernähe. Auch wehrt man nur so einer Entwicklung, die aus Besorgnis erst Empörung und dann Radikalismus macht. Wie viel Polarisierung und bittere Entfremdung hätten sich wohl vermeiden, wenigstens mindern lassen, wenn führende Politiker auch mit Dresdens Pegida-Demonstranten so weitblickend umgegangen wären!
Denn es ist höchst vernünftig, wenn Politiker Demonstrantenforderungen nicht gleich abbügeln, sondern erst einmal abwägen. Etwa wurden schon seit längerer Zeit Lockerungen des nun wochenlang verhängten Stopps unseres wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Lebens verlangt. Manche Wünsche waren sinnvoll, wenngleich unzivilisiert vorgebracht. Richtig war, dass als sinnvoll Erscheinendes von gewählten Politikern dennoch aufgegriffen wurde. Sollten deshalb die Ansteckungszahlen gefährlich steigen, werden zwar neue Einschränkungen unseres Lebens erforderlich werden. Sie werden dann aber frische Plausibilität und viel mehr Legitimation besitzen als eine bloße Fortsetzung bisheriger Politik. Deshalb sind Fehler bei den unternommenen Lockerungsmaßnahmen auch nicht grundsätzlich vorwerfbar. Einen anderen Weg als den des Lernens aus Versuch und Irrtum gibt es in unübersichtlichen Lagen nun einmal nicht.
Vernünftig ist es auch, einen solchen Weg gerade nicht mit zentralstaatlich einheitlichen Vorgaben zu beschreiten, sondern alle Vorteile von Föderalismus und kommunaler Selbstverwaltung zu nutzen. Dank ihrer kann nämlich sowohl bei Lockerungen als auch bei neuen Einschränkungen regional differenziert verfahren werden. Wo obendrein eine übergreifende Abstimmung von Maßnahmen erforderlich ist, hindert nichts daran, diese durch Landesrecht oder durch neuerliche, von der Kanzlerin moderierte Koordination zwischen den Ländern zu gewährleisten. Ferner ist es sehr vernünftig, die verhängten Einschränkungen unserer Freiheiten nicht wie eine Nebensächlichkeit zu behandeln. Es ändert sich durchaus Wichtiges, wenn in einer Demokratie politische Versammlungen keine Selbstverständlichkeit mehr sind.
Doch unvernünftig ist es, sich trotzig oder provokativ zu Kundgebungen mit Ansteckungsrisiko zusammenzufinden. Natürlich darf das Demonstrationsrecht nicht ausgehebelt werden; die zulässigen Gruppengrößen und Abstände machen medienträchtiges Demonstrieren aber sehr wohl möglich. Und ein politischer Notstand, der die Auflehnung der Bürgerschaft verlangte, besteht nun wirklich nicht. Niemand bereitet hierzulande eine Diktatur vor! Erst recht ist es unvernünftig, hinter „Corona“ Verschwörungen gleich welcher Art zu sehen. Alle Erfahrung spricht nämlich dafür, dass selbst fataler politischer Unsinn sich durch Beurteilungs- und Handlungsfehler verantwortlicher Akteure viel besser erklären lässt als durch das Agieren von Strippenziehern im Hintergrund. Dass manche Unternehmen von Krisen besonders profitieren, zwingt ebenfalls nicht zum Schluss, diese Unternehmen hätten jene Krisen selbst ausgelöst. Lieber sollte man bedenken, dass gerade die heutige Globalisierung mit ihrem gigantischen Verkehr an Personen und Gütern immer wieder Seuchen auslösen kann, gegen die lange Zeit kein Mittel zu finden ist. Und gerade so, wie es im 14. Jh. abwegig war, den Ursachen der Pest in Gestalt „der Juden“ ein – dann verbrecherisch zugerichtetes – Gesicht zu geben, so unvernünftig ist es auch heute, ungeliebte Personen und Gruppen zum Schuldigen oder kollektiven Feind zu erklären. Halten wir es lieber mit der Vernunft – gerade dann, wenn die Verhältnisse schwierig sind!