Ein migrationspolitisches Menetekel
Deutschlands innenpolitisches Spiel wird wohl sehr verändert durch den Entschluss der türkischen Regierung, in der Türkei befindliche Migranten in die EU weiterzuschicken – und ihnen auch noch Hinweise auf konkrete Reiserouten zu geben.
Vermutlich wird sich die Kanzlerin nicht mehr durch gesinnungsethische Gefallsucht dazu verleiten lassen, eine Kontrolle der Zuwanderung von Migranten für „außerhalb unserer Macht stehend“ zu erklären und die Außengrenzen der EU pauschal als „nicht zu sichern“ auszugeben. Angela Merkel wird auch nicht mehr im Kanzler Österreichs einen Bündnispartner beim Durchschleusen möglichst vieler Migranten nach Deutschland finden. Ferner ist zu bezweifeln, dass sich von Medien oder Zivilgesellschaft eine neue Welle unbedingter Willkommenskultur auslösen lässt. Also dürfte ein Rendezvous mit der Wirklichkeit stattfinden, keine erneute Vermählung von Politik und Illusionen. Deshalb drückt jetzt Deutschlands Regierung den Griechen bei ihren – auch hässliche Bilder zeitigenden – Grenzsicherungsversuchen die Daumen und kommt, anders als einst im Fall Ungarns, der dortigen Regierung nicht mit verachtungsvollen Vorwürfen von Menschenfeindlichkeit und Rassismus.
Unübersehbar sinkt die bisherige Migrationspolitik von Union, SPD und Grünen in Trümmer. Das als Merkels migrationspolitisches Meisterstück ausgegebene Türkei-Abkommen dient nun zur Erpressung der EU – und zwar ausgerechnet durch jenes, keineswegs rundum europäische Land, das SPD, Grüne und Teile der CDU unbedingt zum Mitglied der EU machen wollten. Anders als von vielen naiv erhofft, befriedet auch der Abzug von US-Truppen den Nahen Osten nicht; vielmehr betreiben nun Russland, Iran und die Türkei, ungehindert von anderen raumfremden Mächten, auf syrischem Boden klassische Machtpolitik. Auf letzteres will – und kann – sich die EU nicht einlassen; also hat sie auch keinerlei Hebel, um den dortigen inner- und zwischenstaatlichen Kriegszustand zu beenden, der seinerseits eine zentrale Fluchtursache ist. Deshalb verhalten sich EU-Politiker nun wie der Chor in einer griechischen Tragödie: Das Geschehen wird kommentiert, die Betroffenen werden beklagt, die Opfer beweint – doch zum Eingreifen reicht es nicht. Es reicht nicht einmal zum Eingeständnis, dass gerade auch EU-Politiker, des verantwortungsethischen strategischen Denkens oft ganz entwöhnt, selbst diese Fluchtbewegungen ausgelöst haben: nämlich durch die – keineswegs zwingend erforderliche – Zerstörung funktionierender diktatorischer Regierungsmacht in Syrien, Libyen und Afghanistan.
Es ist derzeit unklar, wie lange Griechenland dem Einwanderungsdruck auf seine Landgrenzen und auf seine Inseln wird standhalten können. Es ist auch unklar, wie viele Hungernde und Frierende auf der türkischen Seite der EU-Außengrenze die EU-Öffentlichkeit in welchem Land aushält – und gar erst wie viele Ertrunkene, sobald es in der Ägäis zur nötigenden Praxis von Migranten wird, die zur Überfahrt benutzten Schlauchbote zum Sinken zu bringen. Nur das nämlich wandelt den eigenen Status von dem eines abweisbaren Migranten hin zum Schiffbrüchigen, der an Land gebracht werden muss. Unklar ist obendrein, wie lange in den westlichen EU-Staaten sich der 2015/16 wirkungsvoll befestigte Leitsatz halten kann, in Sachen Flucht und Massenwanderung müsse gerade das migrationsermöglichende Recht eingehalten werden – und würden auch Regierungen, die solches versuchen, alsbald durch noch mächtiger werdende rechtspopulistische Bewegungen gestürzt. Nicht zuletzt ist offen, wie viele Wochen das Klimathema, umsichtig von Medien, Parteien und Zivilgesellschaft als Vorhang vor die ja nie gestoppte Massenzuwanderung gezogen, noch die innenpolitisch höchst unwillkommene Diskussion um eine sinnvolle Migrations- und Integrationspolitik unter der Schmerzgrenze der wirklich politisch zu bearbeitenden Themen halten kann.
Jetzt schon zeichnet sich ab: Das Ringen um das Amt des CDU-Bundesvorsitzenden wird nicht ohne klare Positionierungen zum neuerlichen Migrationsdruck abgehen; in die kuschelige – gerade auch klimapolitisch bewirkte – Nähe zwischen CDU und Grünen fährt der eiskalte Wind jenes „Rassismus“, als welchen die Grünen jeglichen Wunsch nach einer Zuwanderungsbegrenzung darzustellen pflegen; zu den Dauersorgen der SPD gesellt sich auch noch die, wie sie zwischen ihrer migrationspolitisch grünen Parteiführung und ihren oft AfD-geneigten traditionellen Wählerschichten einen halbwegs durchhaltbaren Kurs finden könnte; dem demoskopischen Höhenflug der Grünen dürfte ihre weiterhin migrationspermissive Positionierung ein Ende setzen, andernfalls aber ein neu aufbrandender Streit zwischen „Idealisten“ und „Realos“; und der Hauptprofiteur der jetzigen Aktualisierung alter Politikfehler wird die AfD sein – mit umso mehr Rendite, je bereitwilliger sie den Aufforderungen von Chrupalla & Co. zur rhetorischen und stilistischen Mäßigung folgt. Und weil sich im Katzenjammer von Anschlussproblemen der Zuwanderungswelle seit 2015 das migrationspolitische Meinungsklima nicht nur an Akademiker- und Künstlerstammtischen, sondern auch in so manchen Redaktionsstuben geändert hat, wird einer Attraktivitätssteigerung einst machtvoll verpönter Positionen, die realpolitisch, nicht ideologisch bewirkt wurde, nur wenig entgegenzusetzen sein. Denn was lernen wir daraus, wenn jetzt allenthalben gefordert wird: „2015 darf sich nicht wiederholen“? Womöglich, dass Deutschlands Politik von 2015 nicht ganz richtig war – und dass damals schon die Kritiker dieser Politik, nicht aber ihre Verteidiger recht hatten.
Hinsichtlich der – in eine hoffnungs- und erwartungslähmende Endphase gelangenden – Kanzlerschaft Angela Merkels aber lässt das alles aus dem Weihrauchnebel bisherigen Bewundererlobs eine weitere Ruine ihrer Politik auftauchen: die jener Migrationspolitik, für welche der Kanzlerin einst der Friedensnobelpreis gewünscht wurde. Diese Ruine steht nun in einer Reihe mit den ungesicherten Baustellen von Merkels Energiepolitik, Eurozonenpolitik, Verteidigungspolitik und Rentenpolitik. Es ist schade um der Kanzlerin so vertanes politisches Talent, schade um deren mit alledem heruntergewirtschaftete Partei, schade um unser ziemlich lädiertes Land – und schade auch um den in den letzten Jahren nicht zuletzt von Deutschland beeinträchtigten europäischen Zusammenhalt!