Landtagswahl Thüringen. Kurzanalyse
Am Sonntagabend wollten etliche Politiker sowie Journalisten sich selbst und andere glauben machen, das Thüringer Landtagswahlergebnis wäre schwer zu verstehen. Das ist es durchaus nicht.
Größter Wahlsieger ist die Linke. Sie ist es, weil ihr Spitzenkandidat und Ministerpräsident, ebenso wie sein Kollege in Baden-Württemberg, nicht für einen radikalen Kurs steht, sondern – bei festen Grundsätzen – eine durchaus pragmatische Politik verfolgt. Im Grunde ließ Bodo Ramelow die Thüringer Linke wie jene sozialdemokratische Partei aussehen, die es kaum mehr gibt und die in Deutschland allenthalben vermisst wird. Auch hat er es geschafft, fünf Jahre lang eine für Deutschland ganz neuartige Koalition zusammenzuhalten. Das wurde zwar dadurch erleichtert, dass alle Regierungsparteien der gleichen Politikfamilie angehörten und die extrem knappe Koalitionsmehrheit bei Kontroversen disziplinierend wirkte. Doch ohne politisch-menschliche Führungskunst und auf Interessenausgleich ausgehendes Verhalten des Ministerpräsidenten wäre das nicht gelungen. Außerdem schaffte es Ramelow, bei einem Großteil der Bevölkerung populär zu werden. Auch das bringt nicht jeder Spitzenpolitiker zustande. Ramelows Wahlsieg wurde bei der Frage nach dem für die nächste Wahlperiode bevorzugten Ministerpräsidenten von Thüringens Bevölkerung auch klar gewünscht, ist also redlich verdient. Die am Wahlabend – zumal seitens der CDU – vorgetragene Behauptung, der Ministerpräsident sei abgewählt worden, verzeichnet hingegen grob, was tatsächlich geschehen ist: SPD und Grüne als Koalitionspartner der Linken wurde so weit geschwächt, dass ihretwegen die parlamentarische Mehrheit für Rot-Rot-Grün verlorenging. Doch dahinter stand durchaus keine allgemeine politische Wechselstimmung.
Zweitgrößter Wahlsieger ist die AfD. Sie setzte ihre 2014 in Sachsen begonnene Erfolgsgeschichte mit nochmals größerer Wucht fort. Bisherige Anti-AfD-Strategien sind klar gescheitert, auch wenn sie in einem Konsens für „alternativlos“ erklärt wurden, der – weiterhin – von der Linken bis zur CDU reicht, Ihr Versagen liegt daran, dass diese Therapieversuche in falschen Diagnosen gründeten. Profitiert die AfD von einem politischen Klima, das von einer allzu rechten CDU geschaffen wird? So erklärte man sich vor fünf Jahren bequem den Wahlausgang in Sachsen und konnte damit der Sachsenunion am Zeug flicken. Woher kommen dann aber die AfD-Erfolge im seit jeher sozialdemokratisch regierten Brandenburg oder im links-links-grün regierten Thüringen, wo man es am Einsatz im „Kampf gegen rechts“ doch gewiss nicht hat fehlen lassen? Und wenn die AfD nichts weiter ist als eine rassistische und neonazistische Partei, deren Thüringer Fraktionsvorsitzenden man laut Gerichtsbeschluss auch als Faschisten bezeichnen darf: Wie wahrscheinlich ist es dann, dass – trotz lautstarker Warnungen vor einer solchen Partei von allen Seiten – die AfD so starke Stimmenzuwächse hat? Nämlich bei bisherigen Nichtwählern, bei bisherigen CDU-Wählern, ja auch – freilich klar weniger – bei bisherigen Wählern der Linken (und bei früheren Wahlen im Westen: der SPD)? Besteht Thüringens Bevölkerung wohl wirklich zu einem Viertel aus Sympathisanten von Rassismus und Nazismus, die nun – sozusagen „dank Höcke“ – endlich jene Partei vorfinden, auf die sie immer schon gewartet haben?
Oder wäre es nicht endlich Zeit für die Einsicht, dass die AfD – wie, einmal mehr, die Umfragen vor der Thüringen-Wahl doch zeigten – von einer Mehrheit ihrer Sympathisanten nicht vor allem wegen ihres Programms bevorzugt wird, sondern insbesondere aus Protest gegen die etablierten Parteien? Und gibt es wirklich keinen Anlass zum Weiterdenken, wenn Umfragen als Kernthemen von ostdeutschen AfD-Wählern die folgenden ausweisen: unzulängliche Kriminalitätsbekämpfung, die Handhabung der Migration nach Deutschland, fortbestehende Benachteiligungen von Ostdeutschen? Ist es wohl reiner Zufall, dass der Machtaufstieg der AfD Hand in Hand ging mit Stimmenverlusten der CDU und mit wachsender Unzufriedenheit rechts der politischen Mitte mit der Politik der CDU-Kanzlerin?
Leider wird es eher zu durchschnittlichen AfD-Stimmenanteilen zwischen 20 und 30 Prozent auch im Westen kommen, als dass in größeren Journalisten- und Politikerkreisen begriffen wird, dass die AfD wirklich nichts weiter tut, als jene Repräsentationslücke am rechten Rand zu schließen, welche die CDU – durchaus unter Beifall ihrer Konkurrenz von links – dort hat unbesonnen aufreißen lassen, und in der die AfD nun auch jene Rechtsradikalen beerben oder gar beheimaten kann, die ehedem der NPD oder DVU in so manches Parlament verhalfen.
Wahlsieger ist auch die FDP. Knapp hat sie es in den Thüringer Landtag geschafft. Dieser erste ostdeutsche Wahlerfolg der FDP seit einem Jahrzehnt ist ein gutes Zeichen für diese Partei – und ebenfalls für Deutschland. Klar zu dessen Nachteil fehlt es nämlich in Parlamenten und Regierungen seit langem an ordnungs- und wirtschaftspolitischem Liberalismus.
Größter Wahlverlierer ist die CDU. Auf Landesebene hat das seine Ursache im politischen Können von Bodo Ramelow. Doch viel wichtiger ist, dass die AfD-mästende Politik der Bundes-CDU wieder einmal einen ostdeutschen Landesverband geschädigt hat: mit Mike Mohring fiel ein weiterer tüchtiger CDU-Landespolitiker den innen- und parteipolitischen Folgen von Politikfehlern Angela Merkels zum Opfer. Die Wählerwanderungsanalysen zeigen nämlich klar: Ganz anders als die AfD hat die CDU nur sehr unterdurchschnittlich von der gestiegenen Wahlbeteiligung profitiert; statt dessen hat die CDU wieder einmal sehr viele Stimmen an die AfD verloren – und in nennenswertem Umfang sogar an die Ramelow-Linke. Von einem attraktiven Eigenprofil dieser einst so unangefochten wirkenden Partei ist also nicht sonderlich viel geblieben – im Bund nicht, und auch in Thüringen nicht. Zwar hatte die Thüringer CDU halbwegs den Willen , solche CDU-Wähler weiterhin an sich zu binden oder zurückzugewinnen, die der äußerst rechten und ganz CDU-inkompatiblen Höcke-AfD zuneigten. Doch die sich abzeichnenden Koalitionen in Brandenburg und Sachsen haben alle solchen Chancen nun wohl für einige Jahre zerschlagen. Zerrieben zwischen Linker und AfD konnte die deshalb nicht einmal die zweitstärkste Partei werden. Unter den gegebenen Umständen, auch angesichts des Fehlens einer politisch stimmigen Machtperspektive, galt für Mike Mohring jedenfalls: mission impossible. Gekämpft hat er dennoch in vorbildlicher Weise.
Zweitgrößter Wahlverlierer ist die SPD. Auch ihr schadete landespolitisch das Können des von ihr unterstützten Ministerpräsidenten sowie bundespolitisch die desaströse Lage der Gesamtpartei. Tatsächlich wird der Sinkflug der SPD in Land und Bund solange weitergehen, wie diese Partei sich von der sozialdemokratisierten CDU politisch kannibalisieren lässt – also gerade nicht darauf hinwirkt, dass die CDU endlich wieder nach rechts rückt, um in der politischen Mitte Platz für die SPD zu machen und zugleich der AfD die dieser Partei leichtfertig überlassenen Räume zu verstellen. Doch eher werden wir die SPD an die Fünf-Prozent-Hürde geraten sehen, als dass ausreichend viele Sozialdemokraten begreifen, dass ihre Partei von einer zu weit nach links gerückten CDU zerdrückt wird.
Weiterer Wahlverlierer sind die Grünen. Ihre bundesdeutschen Hochburgen sind nun einmal großstädtische Regionen mit einer wohlhabenden oder um Wohlstand unbesorgten Akademikerschaft. Die aber fehlen in Thüringen weitgehend. Also nützte in Thüringen auch der – inzwischen ohnehin abklingende – Hype um grüne Spitzenpolitiker und um grüne Themen nicht viel.
Hat die „politische Mitte“ keine Mehrheit mehr? So kann nur argumentieren, wer die Linke insgesamt für linksradikal und die AfD rundum für rechtsextrem hält. Ersteres leuchtet nach fünfjähriger Regierungszeit Ramelows überhaupt nicht ein. Letzteres stellt sich auch die Höcke-AfD als homogener vor, als sie tatsächlich ist. Thüringens Linke ist jedenfalls eine zur politischen Mitte nachweislich kompatible Partei, und die AfD besteht wohl auch in Thüringen zu etwa einem Drittel aus CDU-Renegaten, mit denen durchaus ein Mitte-Rechts-Kurs zu halten wäre. Gelänge es eines Tages, die AfD entlang ihrer Sollbruchstelle zwischen Rechtsradikalen und CDU-Renegaten zu spalten, so wäre die Rede von der „Mitte als Minderheit“ erst recht gegenstandslos. Und nur dann ließe sich in einem deutschen Bundesland im Bündnis zwischen CDU und AfD eine Mitte-Rechts-Regierung schaffen, wenn die AfD endlich geklärt hätte, dass sie eine ganz fraglos unser politisches System mittragende Partei sein will, und obendrein ihre Rechtsradikalen ausgegrenzt und ihre rechtsdemagogischen Lautsprecher abgestellt hat. Ob es aber seitens der AfD überhaupt dazu kommen wird, ist derzeit noch nicht abzusehen.
Und wie jetzt weiter? Weder gibt das Wahlergebnis einen demokratiepolitisch plausiblen Grund dafür, Bodo Ramelow als Ministerpräsidenten abzulösen, noch findet sich dafür eine Landtagsmehrheit. Umgekehrt lässt sich eine Koalitionsmehrheit allenfalls leicht zusammenrechnen, politisch aber schwer formen. Eine Fast-Allparteien-Regierung gegen die AfD mag wohl möglich sein, wird aber die AfD einmal mehr als „einzige Alternative zum Establishment“ auszeichnen und dieser Partei – wie in den vergangenen Jahren – mehr nutzen als schaden. Und eine am Wahlabend mehrfach nahegelegte Koalition zwischen Linker und CDU wird die Union bei den kommenden Wahlen auf heutiges SPD-Niveau herunterziehen. Die CDU hätte dann nämlich – wie einst Andrea Ypsilanti – nicht nur ein Wahlversprechen gebrochen. Sondern nichts mehr könnte sie dem jetzt schon wirksamen AfD-Argument entgegensetzen, jede Stimme für die CDU wäre – wie einst in Sachsen-Anhalt, inzwischen in Brandenburg und demnächst auch in Sachsen – eine Stimme für die Grünen oder gar, wie gegebenenfalls in Thüringen, für die Linke. Damit hätte die CDU ihre AfD-förderliche Politik zum selbstzerstörerischen Abschluss gebracht. Und ob die Linke wirklich davon profitieren könnte, mit der einen sehr anderen Politikansatz verfolgenden CDU eine gemeinsame Regierung zu bilden?
Erfreulicherweise hat der Spitzenkandidat der FDP am Wahlabend den doch naheliegenden Ausweg aus diesem Dilemma des Koalierens in zersplitternden Parlamenten benannt: eine Minderheitsregierung der Linken. Die käme laut Thüringer Verfassung (Art. 70 Abs. 2 Satz 3) durch eine einfache Abstimmungsmehrheit im dritten Wahlgang der Ministerpräsidentenwahl ins Amt. Frei stünde es Bodo Ramelow, die Arbeit dieser Regierung vorab durch Tolerierungsabkommen etwa mit SPD und Grünen oder anschließend durch die Berufung von Ministern auch aus anderen Fraktionen zu erleichtern. Doch selbst ohne solche flankierenden Maßnahmen bewirkte eine Thüringer Minderheitsregierung unter den – leider! – gegebenen Umständen etliches Gute: Vielerlei Macht wanderte von der Staatskanzlei und von Koalitionsrunden zurück in den Landtag und belebte dort die parlamentarische Demokratie; und zum mehrheitsbeschaffenden Verhandeln gezwungen, erleichterte ein so funktionierendes Parlament die Überwindung der so schädlichen Polarisierung unseres politischen Lebens.