Vom Analytiker zum Mitspieler
Interview in Neue Zürcher Zeitung, 28. Januar 2019, erschienen unter dem Titel „Politologe Werner Patzelt: «Ich bin jemand, dem auch die Rechten zuhören»“ (https://www.nzz.ch/international/deutschland/ich-bin-jemand-dem-die-rechten-zuhoeren-ld.1454705). Die Fragen stellten Hannsjörg Müller und Benedict Neff..
Herr Patzelt, Sie beraten die CDU im sächsischen Wahlkampf. Wie kommen Sie dazu?
Ich habe die CDU jahrelang stark kritisiert. Und zwar mit gutem Grund: Die CDU ist schuldig am Aufkommen der AfD. Indem sie die Wählerschaft nicht mehr bis hin zum rechten Narrensaum an sich binden wollte, schuf die Union Raum für die AfD als Konkurrenzpartei.
Was machte die CDU alles falsch?
Sie glaubte ebenso wie alle Linken, man müsse einfach einen Trennstrich zur AfD ziehen – und dann verschwände die voller Scham und Reue. Falsch war vor allem, sich durch eine unplausible Migrationspolitik einen grossen Teil der Wähler zu entfremden. Darunter haben die ostdeutschen Landesverbände der CDU gelitten wie die Hunde. Inzwischen hat die Partei aber eingesehen, dass meine Kritik stimmte. Und so kam im Dezember der Generalsekretär der sächsischen CDU auf mich mit der Einladung zu, den Co-Vorsitz der Programmkommission zu übernehmen. Ohne die Wahlerfolge der AfD hätte man natürlich weiterhin gesagt: Der Patzelt spinnt.
Was muss die CDU an ihrer Politik ändern?
Es braucht sozusagen besseres politisches Schach. Die CDU darf den gegnerischen Figuren nicht mehr so viele spielentscheidende Felder überlassen. Lange Zeit hat meine Partei, im Verein mit SPD und Grünen, der AfD die so gefühlswuchtigen Felder von Heimat und Patriotismus nachgerade zur Selbstbedienung überlassen. Das müssen wir abstellen. Und den wichtigsten rechtspopulistischen Brandbeschleuniger gibt es ohnehin nicht mehr: die zwar gut gemeinte, aber schlecht getane Migrationspolitik der Jahre 2015 und 2016. Doch die neue Politik muss nun auch sichtbar gemacht werden: nicht länger Offenheit für alle, sondern Verkürzung der Asylverfahren samt verlässlicher Abschiebung von Leuten ohne Bleiberecht.
Gerade dies wird allerdings weiterhin mangelhaft umgesetzt.
Ja. Das liegt vor allem an den Grünen. Die einschlägigen Gesetze brauchen nämlich die Zustimmung des Bundesrates. Dort aber haben die Grünen eine Sperrminorität. Die gilt es durch Herbeiführung von weniger Landesregierungen mit grüner Beteiligung zu beseitigen. Also ist in den Wahlkämpfen klarzumachen, dass die CDU ihre Migrationspolitik aus guten Gründen verändert hat, die anderen Parteien aber hinterherhinken. Bloss stillschweigende Korrekturen, wie bis anhin, reichen nicht. Deshalb hoffe ich, dass die neue CDU-Vorsitzende die Fehler der Bundes-CDU klar eingesteht und für die Zukunft glaubhaft ausschliesst. Nur dann bekommen wir auf Landesebene Rückenwind.
Als Wissenschaftler haben Sie das Pegida- und AfD-Milieu gründlich studiert. Glauben Sie, dass diese Leute für eine Kurskorrektur der CDU überhaupt noch empfänglich sind? Viele dürften doch eher sagen: CDU, nie wieder!
Die Union hat bisher ja noch gar nicht versucht, sie zurückzugewinnen; die Partei hat sie lieber als Ansammlung von Rassisten oder Nazis geächtet. Auch die anderen Parteien können sich da auf die Schulter klopfen: Sie haben viele Leute systematisch unserem politischen System entfremdet, so dass sie Rechtsradikalen in die Hände gefallen sind.
Kann Ihre Strategie überhaupt einen durchschlagenden Erfolg haben, solange Angela Merkel an der Macht ist? Mit ihrer Migrationspolitik hat sie die Wut vieler AfD-Wähler auf sich gezogen.
Mit Merkel als Leitfigur gewinnt die CDU 2019 nicht hinzu. Aber man kann sie ja auch nicht zum Rücktritt zwingen. Den ersten Schritt hat sie unter dem Druck der AfD-Wahlerfolge ohnehin schon getan: Sie hat den Parteivorsitz abgegeben. Der Verzicht auf die Kanzlerschaft wird wohl in überschaubarer Zeit folgen.
Die CDU schliesst bisher jede Zusammenarbeit mit der AfD aus. Verstehen Sie sich als Brückenbauer, um im Herbst die erste Koalition zwischen der CDU und der AfD in Sachsen in die Wege zu leiten?
Wir wollen wieder so stark werden, dass es für klare CDU-Politik keine Zusammenarbeit mit der AfD braucht. Zu diesem Zweck wollen wir viele frühere CDU-Wähler zurückgewinnen – vor allem dadurch, dass wir Fehler eingestehen und ein fortan überzeugenderes Programm samt glaubwürdigen Personen zur Wahl stellen.
Von den Medien werden Sie seit Jahren als Pegida-Versteher bezeichnet. Ärgert Sie das?
Als die grossen Kundgebungen Ende 2014 in Dresden stattfanden, stand ich mitten unter den Leuten und versuchte zu verstehen, was sie bewegt. Wenn man das gemeint hätte, wenn man vom Pegida-Versteher sprach, hätte ich nichts dagegen gehabt. Aber gemeint war: Das ist einer, der gehört zu denen, der solidarisiert sich mit denen. Ich war aber Beobachter, nicht Mitdemonstrant.
Und wie würden Sie Ihre tatsächliche Haltung gegenüber Pegida und AfD beschreiben?
Erstens behandle ich das Aufkommen von Pegida und AfD als ein Warnsignal. Zweitens will ich dessen Ursachen beseitigt haben, darunter die Empfindung, dass unsere Demokratie nicht mehr ganz richtig funktioniert. Drittens arbeite ich für ein klares Ziel: AfD nach unten, CDU nach oben – und zwar als neuerlicher Champion in der ganzen Spielfeldhälfte zwischen politischer Mitte und dem rechten Rand.
Sie haben immer wieder von einer Repräsentationslücke gesprochen: Dass es keine etablierte Partei gebe, die beispielsweise eine migrationskritische Haltung abgedeckt habe. Ist dieses Problem mit dem Aufkommen der AfD gelöst?
Die Probleme, die ihrerseits zur Repräsentationslücke führten, sind noch gar nicht gelöst. Die Repräsentationslücke zwischen rechter Mitte und rechtem Rand wurde aber geschlossen, nämlich durch das Grosswerden der AfD – vor allem auf Kosten der CDU. Immer noch da ist leider die Lücke zwischen der politischen Klasse insgesamt und einem Grossteil der Bevölkerung, auch die Kluft zwischen öffentlichem und privatem Diskurs. Es rumort weiterhin sehr viel in unserer Gesellschaft.
Und wo führt das hin?
Zur politischen Instabilität. Das entstandene Sechs-Parteien-System erschwert die Koalitions- und Regierungsbildung – zumal solange, wie Bündnisse mit der AfD politisch unmöglich sind. Vor Minderheitsregierungen samt Tolerierungspraxen schrecken wir, da ohne sonderliche Erfahrung damit, lieber zurück. Und All-Parteien-Bündnisse gegen die AfD haben diese Partei bisher eher gestärkt als geschwächt. Jedenfalls kommt der Wille der Wählermehrheit in Deutschlands Parlamenten und Regierungen derzeit nicht gut zum Ausdruck. Das entfremdet viele Leute ihrem Staat. Obendrein erleben wir eine tiefgehende Polarisierung, mit einesteils den Grünen, andernteils der AfD als – sozusagen – den zwei Brennpunkten unserer politischen Ellipse.
Sie sind seit 1994 Mitglied der CDU. Warum kam es überhaupt zu Ihrer Beratertätigkeit für die AfD?
Ich wurde darum gebeten – und wollte die Qualität unseres Parlamentarismus nicht absacken lassen. So betätigte ich mich als Politiklehrer, allerdings mit ziemlich durchwachsenem Erfolg. Insgesamt habe ich der AfD in Texten und Reden geraten: Trennt euch von Rassisten und Antisemiten, haltet euch und eure Anhänger vom Extremismus fern, macht euch keine falschen Vorstellungen von direkter Demokratie – und übt eure Oppositionsrolle gemäss den Spielregeln parlamentarischer Demokratie aus!
Und? Haben Sie etwas erreicht?
Die AfD hat sich, anders als die NPD, aufs normale parlamentarische Geschäft eingelassen, freilich mit den geringen intellektuellen Mitteln, die ihr zur Verfügung standen. Sie haben also Anträge eingebracht und Fragen an die Regierung gestellt. Technisch war das okay, inhaltlich oft nicht gut durchdacht.
Auch als es darum ging, zwei besonders radikale Mitglieder auszuschliessen, bat die AfD Sie um Hilfe.
Ja, Angehörige des gemässigten Flügels um die damalige Parteichefin Frauke Petry hatten mich gebeten, ein Gutachten über rassistische Aussagen des Thüringer Landeschefs Björn Höcke zu schreiben, weil sie nach soliden Argumenten für das angestrebte Parteiausschlussverfahren suchten. Ähnlich hielt man es in der baden-württembergischen AfD, als sich der dortige Landtagsabgeordnete Wolfgang Gedeon antisemitisch geäussert hatte. Stets wandte man sich an mich, weil man wusste, dass ich auch die AfD immer fair behandle – und dass kritische Aussagen genau deshalb Gewicht haben.
Wie beurteilen Sie den jetzigen Parteichef Alexander Gauland: Wirkt er auf die Partei mässigend ein?
Indem er es schafft, seinen Laden zusammenzuhalten und dennoch unangefochten an der Spitze zu bleiben, vollbringt er eine beachtliche politische Leistung. Vergleicht man ihn mit Höcke, Poggenburg oder dem Dresdner Jens Maier, so wirkt er weiterhin wie jener CDU-Politiker, der er einst war. Doch aus Enttäuschung über seine frühere Partei und verbittert durch bösartige Reaktionen auf ihn, hat er sich anscheinend in vieler Hinsicht verändert.
Wie reagieren Sympathisanten der AfD und von Pegida darauf, dass Sie nun für die CDU in den Wahlkampf ziehen?
Ich erlebe zweierlei, zumal auf meiner Facebook-Seite mit gut 9500 Followern, von denen gar nicht wenige mit Pegida oder der AfD sympathisieren. Die Minderheit sagt: Der Patzelt ist ein Verräter, der nun jene systemhörig im Stich lässt, die auf seine Überparteilichkeit vertraut haben. Die Mehrheit meint: Der Patzelt ist ehrlich, macht sich aber – leider – an den vermutlich erfolglosen Versuch, die CDU wieder für Leute rechts von der Mitte glaubwürdig zu machen.
Sie stehen gewissermassen unter Bewährung.
Ja, aber ich geniesse dabei Vertrauen – seitens der CDU und vieler AfD-Anhänger. Bei den letzteren löst mein Gesicht nicht gleich Häme, Ablehnung und Protest aus. Ich bin nämlich jemand, dem auch die Rechten zuhören. Also hofft meine Partei, dass ich viele Protestwähler und Unentschlossene wieder für die CDU gewinnen kann.
Profitieren aber nicht auch Sie von der CDU? Ihre Reputation wird gestärkt, indem Sie aus der Sphäre von AfD und Pegida ein Stück wegrücken.
Das ist tatsächlich ein mir angenehmer Vorteil. Letzthin stand in der «Welt» über mich ein Artikel mit der Überschrift «CDU-Professor unter AfD-Verdacht», also nach dem Motto «Bischof unter Missbrauchsverdacht». So kann man mir jetzt nur noch voller Dummdreistigkeit kommen. Ich bin nun nicht mehr Beobachter, dem man irgendwelche Sympathien andichten kann, sondern stehe selbst auf dem Spielfeld – und zwar bei der Mannschaft der CDU. Das entlastet seelisch auch meine Frau.
Mehr als Sie?
Ja. Auch als mein Auto angezündet wurde, hat mich das nicht wirklich getroffen. All die Anwürfe gegen mich berührten mich nie im Innersten. Ich habe die entsprechenden Ausgrenzungsmechanismen ja schon in jungen Jahren in meiner Dissertation untersucht[1] und wurde von ihrem Wirken deshalb nicht überrascht. Das ging so: Meine Universität hatte sich auf die Seite der Pegida-Gegner gestellt; ich mahnte zu Umsicht und Fairness, weil nicht alle Pegida-Leute Rassisten und Faschisten seien. Und somit war ich ein Verharmloser, ein Pegida-Freund, ein auszugrenzender Böser.
Ihre Hochschule scheint das noch immer so zu sehen. Ihr Antrag auf eine Seniorprofessur wurde abgelehnt: Sie vermischten Politik und Wissenschaft.
Ich warte bis heute noch auf Beispiele dafür! Was die Kollegen im Auge hatten, ist etwas ganz Anderes: Wenn sich ein Politikwissenschaftler über politische Vorgänge äussert und kein Mensch kennt den Mann, dann ist das, was er sagt, politisch absolut folgenlos. Wenn jemand aber eine Medienpräsenz hat wie ich, ist das eben nicht folgenlos. Und alles wäre gar kein Problem gewesen, hätte ich einfach das erzählt, was im Mainstream liegt. Dann hätten sich alle gefreut: Ein angesehener Politikwissenschaftler vertritt mit uns das Gute und Wahre.
Hat es Sie trotzdem überrascht, dass Ihnen die Seniorprofessur verwehrt wird?
Ich wusste schon, welche Leute der TU Dresden sich an den im Januar 2015 einsetzenden Verleumdungen gegen mich beteiligt haben. Sie verweigerten auch jede Reaktion auf meine öffentlichen Richtigstellungen zu ihrer Kritik.[2] Und als mir die Antifa zwei Jahre später mein Auto abfackelte, war von sonderlicher Bestürzung nichts zu merken. Wie anders wäre es wohl gewesen, wenn das Auto eines Kollegen von Rechtsradikalen angezündet worden wäre! Also war da schon eine Vorgeschichte.
Akzeptieren Sie die Entscheidung der Fakultät?
Natürlich akzeptiere ich sie! Die Fakultät hatte jedes Recht dazu, wenn auch alberne Gründe. Jedenfalls ist meine Zeit an der TU Dresden nun eine abgeschlossene Episode, und ich starte gutgelaunt in einen neuen Lebensabschnitt.
[1] Siehe dazu meine folgenden Publikationen: Grundlagen der Ethnomethodologie. Theorie, Empirie und politikwissenschaftlicher Nutzen einer Soziologie des Alltags, München 1987, 385 S. (= Dissertation Passau 1984); Grundriß einer allgemeinen ethnomethodologischen Theorie, in: Archives Européennes de Sociologie 27, 1986, S. 161‑194; Politisches Alltagswissen und die Konstruktion politischer Wirklichkeit. Ethnomethodologische Forschungsperspektiven, in: Helmuth Berking / Ronald Hitzler / Sighard Neckel, Hrsg., Politisches Wissen, = Dokumentation Nr. 2 des Arbeitskreises ‚Soziologie politischen Handelns‘, Berlin (Universitätsdruck) 1992, S. 16‑47; Reality Construction under Totalitarianism: An Ethnomethodological Elaboration of Martin Drath’s Concept of Totalitarianism, in: Achim Siegel, Hrsg.: The Totalitarian Paradigm After the End of Communism. Towards a Theoretical Reassessment, Amsterdam/Atlanta: Editions Rodopi 1998, (=Poznan Studies in the Philosophy of the Sciences and the Humanities, Bd. 65), S. 239‑271; erweiterte deutsche Fassung des vorgenannten Beitrags: Wirklichkeitskonstruktion im Totalitarismus. Eine ethnomethodologische Weiterführung der Totalitarismuskonzeption von Martin Drath, in: Achim Siegel, Hrsg.: Totalitarismustheorien nach dem Ende des Kommunismus, Köln / Weimar (Böhlau) 1998, S. 235‑271; Mikroanalyse in der Politikwissenschaft. Eine ethnomethodologische Perspektive, in: Stefan Immerfall, Hrsg., Parteien, Kulture und Konflikte. Beiträge zur multikulturellen Gegenwartsgesellschaft, Opladen (Westdeutscher Verlag) 2000, S. 223‑253; Stimmung, Atmosphäre, Milieu. Eine ethnomethodologische Analyse ihrer Konstruktion und Reproduktion, in: Stephan Debus / Roland Posner, Hrsg.: Atmosphären im Alltag. Über ihre Erzeugung und Wirkung, Bonn 2007 (Psychiatrie-Verlag), S. 196-232; Regeln und die soziale Konstruktion von Organisationswirklichkeit in ethnomethodologischer Perspektive, in: Stephan Duschek u.a., Hrsg., Organisationen regeln. Die Wirkmacht korporativer Akteuere, Wiesbaden 2012 (Springer VS), S. 31-58; Macht in ethnomethodologischer Sicht, in: André Brodocz / Stefanie Hammer (Hrsg.): Variationen der Macht. Baden-Baden 2013 (Nomos), S. 181-198; Ordnungskonstruktion und ihre ethnomethodologische Analyse, in: Werner J. Patzelt, Hrsg., Die Machbarkeit politischer Ordnung. Transzendenz und Konstruktion, Bielefeld 2013 (transcript), S. 43-98.
[2] Siehe dazu https://wjpatzelt.de/2015/02/11/wo-bleibt-die-antwort-der-patzelt-kritiker/, https://wjpatzelt.de/2015/03/07/patzelt-kritiker-sprachlos/, https://wjpatzelt.de/2016/10/04/das-schweigen-der-unschuldslaemmer/, https://wjpatzelt.de/2016/09/28/atticus-und-seine-professoren/, https://wjpatzelt.de/2016/10/28/kronzeugen-von-atticus-im-gespraech-mit-dem-angeklagten/. Das Muster ist stets das gleiche: Auf einen dreisten Angriff folgt – im Anschluss auf meine Reaktion – feiges Schweigen, das sich nur im Fall zweier Kollegen durch hartnäckiges Auskunftsverlangen meinerseits brechen ließ.