Was ist Konservatismus – gerade heute?
Am 21. März 2018 hielt ich in der Berliner „Bibliothek des Konservatismus“ einen Vortrag zum Theme „Was ist Konservatismus – gerade heute?“ Nachstehend findet sich das Vortragsmanuskript.
I. Konservatismus: ein Wirrwarr von Vorstellungen
Unübersehbar ist der Begriff des Konservatismus zu einer politischen Angriffswaffe geworden. Sie schädigt recht verlässlich, wen sie trifft. Als Konservativer zu gelten, kommt in vielen Sozialräumen dem Ausschluss aus den Reihen der Klugen und Guten gleich. Ein „Rechtskonservativer“, gar ein „strammer Konservativer“ zu heißen, rückt einen in die Nähe eines „strammen Rechten“. Ein solcher aber gilt als Latenznazi oder verhohlener Rassist. So besehen, ist ein Konservativer bestenfalls ein politisch Verirrter, der allenfalls dann passabel wird, wenn er sich als zumindest „Liberalkonservativer“, besser noch als „Sozialkonservativer“ zu erkennen gibt. Trotzdem muss er sich für im Grunde mittig erklären und allem Rechten abschwören, wenn er nicht als fragwürdig gelten will.
Man täusche sich auch nicht über die geläufige Bekundung von Liberalen, Grünen und Sozialdemokraten, Konservative gehörten nun einmal zum legitimen Meinungsspektrum. Um des Pluralismus willen müsse es sie also wohl geben. Der Unterton klingt nämlich so: Zum Straßenverkehr gehören doch auch Unfälle, zum Zechen Räusche, und zu einer freien Gesellschaft dann eben auch Rückwärtsgewandte und Vernagelte. Kein Wunder also, dass es sich recht unangenehm anfühlt, als Konservativer nicht nur bezeichnet, sondern gleichsam bloßgestellt zu werden. Deshalb versuchen viele, der „Schandkappe des Konservatismus“ zu entgehen. Zu ihnen gehören auch CDU-Vorsitzende. Angela Merkel ist, wie sie einmal sagte, nur ab und zu ein wenig konservativ, weil sie sonst eben ein wenig liberal oder auch sozial sein mag. Helmut Kohl vollzog ebenfalls keine „geistig-moralische Wende“ unter der Flagge des Konservatismus – und schon Adenauer hatte zumindest symbolischen Abstand von den Konservativen seiner Epoche gewahrt.
Doch natürlich gibt es auch solche Zeitgenossen, die ihre – oft trotzig wirkende – Identifizierung mit dem so wenig populären Konservatismus bis zur sowohl uneingeforderten als auch volltönenden Bekenntnislust treibt. Sie legen sich den Konservatismus nicht selten wie einen Prunkmantel um, schauen aber oft nicht genau genug hin, ob das angelegte Gewand auch fürs reale politische Leben taugt. Und wenn in der AfD, zumal in deren rechteren Kreisen, ein Hoch auf den Konservatismus ausgebracht wird, dann fühlt man oft Zweifel, ob da wirklich gewusst wird, wofür genau eingestanden werden soll. Denn so unbestimmt der Inhalt von „Konservatismus“ bei denen ist, die diesen Begriff als Herabsetzungsinstrument nutzen, so vage ist er oft auch bei jenen, die ihn als Chiffre für politischen Realitätssinn nehmen. Deshalb wird es ratsam sein, dass auch jene, die sich „als irgendwie konservativ“ empfinden, gerade nicht eine solche „Anstrengung des Begriffs“ scheuen, wie sie vor allem Linke mögen – die dabei aber auch nicht viel glücklicher werden als Sisyphus einst beim Wälzen des Steins.
Denn in der Regel verbinden sich mit „Konservatismus“ recht nebelhafte Gefühle. Die einen empfinden Konservatismus als behagliches Verbleiben im Überkommenen; andere wittern ranzige Rückwärtsgewandtheit. Manche denken beim Konservatismus ans Stilllegen von Entwicklung oder an die Vorliebe für Abgestandenes und Eingewecktes, also für Konserven. Dazu verleitet ja auch die lateinische Wortwurzel des Begriffs: „Konservatismus“ kommt nun einmal von „conservare“, und das bedeutet eben aufrechterhalten, bewahren, unversehrt erhalten, ja sogar: einen Übeltäter begnadigen. Und alte Leute – sagt man – werden ohnehin konservativ, weil sie Neues nicht mehr begreifen und für frische Luft zu gemütlichkeitsversessen sind.
Gebildete wiederum kommen rasch mit der Geschichte. Sie sagen uns: Konservatismus entstand aus Abscheu über üble Nebenwirkungen der Französischen Revolution; dabei richtete er sich gegen Republik und Liberalismus, später auch noch – völlig verbohrt – gegen Parlamentarismus und Sozialdemokratie. Und eines Tages laufen Konservative dann eben doch den ihnen einst vorauseilenden Zeiten hinterher, werden also Liberalkonservative, ja sogar aufrichtige Demokraten. Zeigt das aber nicht, wie dumm Konservative sind, weil sie doch immer nur im Nachhinein mögen, was politisch Klügere schon viel früher schätzten? Erkennt also nicht jeder klar und geschichtlich Denkende: Fortschritt ist gut und ist seit der Französischen Revolution eben links und gut – Konservatismus hingegen ist seither rechts und immer schon schlecht. Somit ist für Intellektuelle sowie für alle guten Menschen ganz klar, was man möglichst nicht zu sein hat – und schon gar nicht als Vorsitzende der CDU!
Dann gibt es allerding auch noch den Konservatismus als Arroganz oder Bräsigkeit der Macht. „Das haben wir noch nie gemacht, da könnte ja ein jeder kommen!“ – so klingt, wer sich in Machtstellungen eingehaust hat. Die Beweglichkeit eines Tankers für das Maß sinnvollen Wandels haltend, übersehen solche Leute leicht das Großwerden von Widersprüchen zwischen sozio-ökonomischer Basis und politischem Überbau – und nicht minder so manchen Konflikt zwischen den im Land schon länger Lebenden und ihren Regenten. Gerne heucheln solche Bräsigkeits-Konservativen einander zu, es wäre doch alles gut; also brauche es weder ein Umdenken noch irgendwelchen Protest gegen das System. Doch derlei Filterblasen wechselseitigen Schönredens platzen immer wieder, und das ist auch gut so.
Im Übrigen konkurrieren in Diskursen um den Konservatismus Kampfbegriffe mit Selbstbeschreibungen, die auf politische Erwünschtheit und soziale Achtbarkeit ausgehen. Als Kampfbegriff verwendet man Konservatismus etwa anhand der Definition „Konservatismus ist Rückwärtsgewandtheit!“. Hingegen nutzt man den Begriff des Konservatismus als auf politische Korrektheit ausgehende Selbstbeschreibung, wenn man betont: „Wir sind wertkonservativ, aber doch nicht strukturkonservativ!“. Weitere Definitionen von Konservatismus erfassen bisweilen nur – und zwar teils kritisch, teils affirmativ – historische Konservatismen: den Konservatismus zu den Zeiten von Burke oder de Maistre, den des späten 19. Jahrhunderts, oder die von Armin Mohler umrissene „konservative Revolution“ der Weimarer Zeit. Wieder andere Diskursteilnehmer verwenden „Konservatismus“, klinisch rein aufs Etymologische reduziert, als reinen Funktionsbegriff: Konservativ ist, wer etwas bewahren will oder am Bestehenden hängt. Waren aber Breschnew oder Honecker wirklich Konservative?
Am besten trifft jenen Sachverhalt, um den es beim zu allen Zeiten auftretenden Konservatismus geht, wohl die folgende Doppelformel. Einesteils ist Konservatismus jenes besondere Verhältnis zur Wirklichkeit, bei dem sich stets das behauptete „bessere Neue“ zu rechtfertigen hat, nicht aber das schon „bewährte Bestehende“. Und andernteils unterscheidet den Konservativen vom Reaktionär die Einsicht, dass es immer wieder Reformen am Hergebrachten braucht, mitunter auch ganz Neues, falls nämlich in einer sich wandelnden Wirklichkeit das bislang Bewährte weiterhin verlässlich bestehen soll. Zugespitzt: Der Reaktionär blockt allen Wandel ab, der Konservative hingegen ist ein vorsichtiger Reformer; und erfolgreiche Reformer – auch wenn sie einst Revolutionäre waren – neigen meist bald schon zur Verteidigung dessen, was dank ihres Einsatzes fortan besteht. Ans Bestehende aber passen sich irgendwann auch dessen einstige Gegner an. Gerade so entstand einst der Liberalkonservatismus aus dem antiliberalen Urkonservatismus, und so wurde die ehedem antikonservative Sozialdemokratie eben sozialkonservativ. Quasi-hegelianisch lässt sich wohl sagen: Konservatismus ist eine dialektische Haltung, in der man angesichts einer Antithese gleich schon zur nächsten Synthese vorausdenkt.
II. Seitenblicke: Konservatismus, die Rechte, der Extremismus und das Christentum
Das war nun freilich ein Parforceritt durch unser Themengebiet. Ihm müssen nun etwas ausführlichere Erkundungen des Diskursgeländes folgen. Beginnen wir mit Seitenblicken auf drei Dinge, die mit Konservatismus oft gleichgesetzt oder ihm zumindest zugeschrieben werden.
Erstens: Was hat konservativ sein mit „rechts sein“ zu tun? – Das hängt ganz vom verwendeten Konservatismusbegriff ab. In der politischen Alltagssprache wirkt jedenfalls bis heute der reine Zufall nach, dass 1789 in Frankreichs Nationalversammlung die Anhänger der alten Ordnung zu Rechten des Präsidenten saßen, die Revolutionäre aber links. Und so blieb es in den theaterartig aufgebauten europäischen Parlamenten bis heute. Sitzen aber Konservative da wirklich nur auf der rechten Seite? Kann man denn nicht auch linke, einst in Revolutionen errungene Zustände bewahren wollen, etwa die Demokratie und den Sozialstaat? Und wie konservativ ist es wohl, ein etabliertes Parteiensystem beseitigen oder ein ganzes politisches System durch eine Alternative ersetzen zu wollen? – Im Grunde zeugt die Verbindung von „konservativ“ mit „rechts“ nur von einer unziemlichen Gedankenlosigkeit dessen, der sie vornimmt.
Zweitens: Was ist rechtsextrem, und was hat eigentlich Rechtsextremismus mit Konservatismus zu tun? – Extremismus ist der aktive Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung. Die umfasst mindestens die folgende Elemente: Achtung der Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung, Verantwortlichkeit der Regierung samt Demokratie, Mehrparteienprinzip samt Chancengleichheit aller Partei, sowie – ganz wichtig – das Recht auf Opposition. Je nachdem, wie man nun halbwegs sachgerecht jene Motive bezeichnen kann, aus denen so mancher sich zum Kampf gegen diese guten Verfassungsprinzipien versteigt, liegen im Einzelfall Rechtsextremismus, Linksextremismus, religiöser Extremismus oder ein gleich wie anders zu benennender Extremismus vor. Da heute aber Deutschlands als konservativ geltende Politiker und Parteien die freiheitliche demokratische Grundordnung nicht nur schätzen, sondern weil eben diese Parteien den die freiheitliche demokratische Grundordnung verwirklichenden Staat ganz wesentlich mit aufgebaut haben und bis heute tragen, hat der derzeitige, gerade auf die Bewahrung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ausgehende, Konservatismus nicht das mindeste mit Extremismus zu tun. Nur wer gedankenlos „rechts“ mit „konservativ“ gleichsetzt, konservativ aber geschichtsblind mit „dem Wesen nach vordemokratisch“ oder „von Natur aus antidemokratisch“, kann eine stets beschreitbare Brücke zwischen dem heutigen Konservatismus und heutigem Extremismus imaginieren.
Besonders leichtfertig tun das Antifaschisten, die sich ihrerseits als politisch links verstehen. Sie nennen den deutschen Faschismus nämlich sehr ungern bei jenem Namen, den er sich selbst einst zulegte, nämlich: Nationalsozialismus. Weil nun aber Kommunisten und Sozialdemokraten tatsächlich aufrichtige Gegner der Nationalsozialisten waren, nicht wenige – doch keineswegs alle – damals Konservative hingegen zu dessen Mitläufern wurden, klingt die folgende Deutungskette dann eben wie unbezweifelbar: Nationalsozialisten waren Feinde einer freiheitlichen demokratischen Grundordnung, also Extremisten; sie waren klar Gegner von KPD und SPD, also waren sie rechts; nicht wenige Konservative – ihrerseits traditionell rechts – schlossen sich ihnen als Mitläufer an, trugen also die nationalsozialistische Diktatur mit; viele außerdeutsche Faschisten verstanden sich ebenfalls als rechts und paktierten mit Konservativen; und somit ist klar, dass Verbindungen zwischen Konservatismus und Faschismus in der Vergangenheit bestanden, ja bei sich konservativ nennenden „Latenznazis“ auch in der Gegenwart bestehen, und dass ein solchermaßen „nachweislich faschismusnaher“ Konservatismus erneut leicht zum Extremismus kippen kann. Allerdings wird diese Argumentationskette von Antifaschisten in der Regel deshalb nicht vollständig ausgearbeitet, weil sie fast allesamt den Begriff des „Extremismus“ ablehnen – teils weil sie ihn missverstehen als „inhaltliche Gleichsetzung von links und rechts“, und teils deshalb, weil es sie allzu sehr schmerzt, aufgrund gemeinsamer Gegnerschaft zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung mit dem gleichen analytischen Begriff wie ihre Feinde bezeichnet zu werden.
Und drittens: Wie hängen Konservatismus und Christentum zusammen? – CDU und CSU, zwei besonders oft mit dem Konservatismus zusammengedachte Parteien, bekunden bereits in ihren Parteinamen, mancherlei Ideen des Christentums in die Politik einbringen zu wollen. Doch wer das als ein Konservativer unternimmt, der muss das Christentum erst einmal um seine revolutionäre Dimension verkürzen und den christlichen Glauben zur volkskirchlichen Gewohnheit abschleifen. Ganz recht hatte nämlich der frühchristliche Theologe Tertullian, als er betonte: Christus hat sich nicht „die Gewohnheit“ genannt, sondern „die Wahrheit“ – und damit seine Anhänger auf eine kritische Distanz zu aller bloßen Tradition verpflichtet. Eine solche im Kern status quo-kritische, in der Konsequenz viele bestehende Verhältnisse für schlecht erklärende, Attraktivität des Christentums spürt man in unseren Jahren immer dann, wenn die Kirchen von der Christenpflicht zur „Option für die Armen“ sprechen – und wenn sie das auch noch in die Forderung ummünzen, Deutschland habe grenzenlos alle Zuwanderungswilligen aus sämtlichen Kriegs- und Armutsgebieten der Erde aufzunehmen, denn genau das gebiete die christliche Nächstenliebe alternativlos.
Gerade Konservative tun dann gut daran, im Neuen Testament auf Matthäus Kap. 22, Vers 21, zu verweisen. Jesus sagt dort, man müsse zwar Gott geben, was Gottes sei – doch eben auch dem Kaiser, was des Kaisers wäre. Das aber meint: Die Politik ist – anders als im traditionellen Islam – gerade nicht zu reduzieren auf die Anwendung religiöser Vorschriften in weltlichen Zusammenhängen; vielmehr hat Politik auch ganz gottgewollt einen eigenen Zuständigkeitsbereich des Gestaltens samt eigener Funktionslogik. Das ebenso schlichte wie schwierige Kernanliegen von Politik ist nämlich – wie etwa Machiavelli und Thomas Hobbes so eindringlich vor Augen führen – nichts anderes als die Errichtung, Festigung und Sicherung gesellschaftlicher Ordnung durch ein stabiles politisches Institutionengefüge. Auf Italienisch heißt dieses Institutionengefüge „lo stato“, auf Deutsch „der Staat“.
Konservativen liegt genau deshalb so viel am Staat und am Handeln gemäß seiner Räson. Also beherzigen gerade christliche Konservative eben doch besser die Einsicht aus dem Johannesevangelium Kap. 18, Vers 36, wonach das Reich Gottes eben nicht von dieser Welt ist. Also müssen sich gerade Parteien, die das Christentum im Namen tragen, auf einen herausfordernden Spagat einlassen. Denn in der „Bergpredigt“ – Matthäus, Kap. 5 bis 7 – zeigt sich die tatsächlich alle Gewohnheiten umstürzende Kraft der Lehre Jesu, auf die sich Deutschlands C-Parteien immerhin mit der blassen Formel vom „christlichen Menschenbild“ einlassen. Doch Politik gemäß der Bergpredigt kann eben nur ein Revolutionär machen, keineswegs aber jemand, der die Stabilität der jeweiligen „civitas terrena“ zumindest solange aufrechterhalten will, wie sie sich bei der Sicherung halbwegs guter Ordnung unter oft ziemlich üblen Menschen bewährt. Und so muss es auch nicht wundern, dass es Konservatismus längst gab, bevor das Christentum in der Geschichte erschien. Beides gehört allenfalls dank geschichtlicher Kontingenz und Pfadabhängigkeit zusammen, ist aber keineswegs wesensverwandt. Die niedere und hohe Geistlichkeit von Deutschlands christlichen Kirchen lässt das ja gerade die C-Parteien fast allsonntäglich wissen.
III. Die Grundhaltung des Konservativen
Tatsächlich entstand Konservatismus zu allen uns bekannten Zeiten immer wieder als abwehrende Reaktion auf solche Neuerungen, von denen man eine Abkehr vom Bewährten oder den Aufbruch in allzu unsichere Gefilde befürchtete. Schon die römisch-republikanische Abneigung gegen eine bloße „rerum novarum cupido“, d.h. gegen die „geschichtsvergessene Neuerungssucht“, ist ein authentischer Ausdruck der Grundhaltung eines Konservativen. Spiegelbildlich drückt sich die gleiche Haltung aus in der – bis weit in die römische Kaiserzeit reichenden – Hochschätzung des „mos maiorum“, also im Sich-Aneignen und im redlichen Befolgen der so erfolgreich handlungsleitenden „Sitten der Vorfahren“. Und am Fall des alten Ägypten wird dasselbe Grundgefühl fassbar im Prinzip der Ma’at, der gleichgewichtigen Achtung von Gerechtigkeit und Wahrheit bei einer Lebens- und Staatsführung, welche die Weltordnung weiterhin sichert und ihr Funktionieren bewahrt. Vergeht man sich dagegen bei Politik, Rechtsprechung, Kulthandlungen und im Alltagsleben, so droht „isfet“, nämlich der Zerfall von Ordnung und soziokultureller Harmonie – also gerade das, was Konservative am allerwenigsten mögen.
In dieser langen Perspektive erkennt man als Kern von Konservatismus eine teils pragmatische, teils grundsätzliche Skepsis gegenüber sozusagen „nur ausgedachten“ Gestaltungsmöglichkeiten kultureller, gesellschaftlicher und politischer Wirklichkeit, desgleichen die Ablehnung „rein erfundener“ Veränderungsnotwendigkeiten. Nicht selten war – und ist – eine solche konservative Haltung sogar das Ergebnis einer Desillusionierung angesichts unerwarteter Folgen zunächst durchaus begrüßter Neuerungen. Fortschritt empfindet man dann als den – bedauerlicherweise – unternommenen Schritt fort vom eigentlich gar nicht so Schlechten, das man besser hätte bewahren sollen. Auf diese Weise hängt bis heute in verwickelten Wirkungsketten auch die Lebenserfahrung von Erwachsenen recht stark mit Konservatismus zusammen – und die ideenbegeisterte Jugendzeit mit dem Habitus von Fortschrittlichkeit.
Besonders folgenreich ist außerdem, dass Konservatismus und Fortschrittlichkeit, sofern sie nicht reflexiv-dialektisch auf einander bezogen sind, wegen der ihnen innewohnenden Denk- und Antriebsstrukturen sehr leicht und sehr weit auseinanderstreben. Eine fortschrittliche Haltung rankt sich nämlich meist um zündende Ideen, mitunter um eine ganze Weltanschauung, und sie beruht auf dem stolzen Glauben, mit Vernunftgründen könne man die Richtigkeit oder zumindest Überlegenheit der eigenen Position überzeugend darlegen. Das macht „Theoriearbeit“ zur Quelle intellektueller Freuden und untersetzt politisches Handeln mit Siegeszuversicht. Konservatismus ist hingegen oft kaum anderes als die präreflexive Bekundung von Zufriedenheit mit bestehenden Zuständen sowie die Ablehnung ihrer Veränderung. Das freilich schafft angesichts von Wandel Verlustängste, wappnet nicht für Argumentationsgefechte, macht Intellektuelle suspekt und jede Avantgarde verdächtig. Zur Grundhaltung des Konservativen wird dann die Defensive, zu jener des Fortschrittlichen die Offensive. Mit deren Schwung aber siegt es sich leichter – gleich ob in Talkshows, bei Wahlen oder im Ringen zwischen Revolution und Konterrevolution.
Schnell erweist sich obendrein, dass beim Konservatismus eben doch mehr mitschwingt als der Wunsch nach Bewahrung dessen, was man eben schätzt. Fühlt nicht ein Grüner, dass er durchaus „kein Konservativer“ ist, schon gar kein Konservativer sein will, selbst wenn sein Trachten klar danach geht, ja keine genveränderten Pflanzen zuzulassen, das Erdklima stabil zu halten, keine Art mehr aussterben zu sehen und nur rückholbare Technik zu erlauben – was alles ganz gewiss den Tatbestand des Konservatismus erfüllt? Und wie könnte umgekehrt jemand hierzulande „ein Konservativer“ sein, wenn er an die Stelle jener schon länger im Land bestehenden Kultur, die so oft als entwertet oder als gar nicht wirklich fassbar hingestellt wird, eine multikulturelle Gesellschaft setzen will? Oder wenn er die – ganz im Wortsinn: von Natur aus – zu uns Wirbeltieren gehörende Geschlechterdifferenz samt wechselseitiger Anziehung von männlichen und weiblichen Lebewesen für eine ganz beliebige sexuelle Option halten will? Und wer möchte sich wohl „konservativ“ nennen lassen, wenn er die Errungenschaften der Arbeiterbewegung mit dem Stimmzettel oder gar gewaltsam verteidigt, also sich in den Kampf begibt gegen „Reaktion“ oder „Neoliberalismus“? Was also macht es aus, ein Konservativer nicht nur – von außen besehen – zu sein, sondern sich als solcher auch zu fühlen?
IV. Interkulturelle Inhalte von Konservatismus und deren europäische Engführung
Diesbezüglich bestehen „subjektiv Konservative“ meist darauf, dass Konservatismus letztlich eben doch das Festhalten an ganz bestimmten – und eben nicht jedweden – Inhalten wäre. Also könne ein richtiger Konservativer sogar zum echten Revolutionär werden, falls nämlich jene Inhalte, für die er steht, lange Zeit der öffentlichen Anerkennung entzogen, ihrer Prägekraft beraubt waren – sich jetzt aber Chancen auf deren neuerliche Inkraftsetzung zeigen, die sich genau dann nutzen ließen, wenn man sich aktiv in deren Dienst stellt. Konservatismus wird dann sogar zur proaktiven Alternative bestehender Zustände.
Und an entsprechenden handlungsprägenden Inhalten führen Konservative dann meist drei an: das Akzeptieren eines größeren Ordnungszusammenhangs, in den der einzelne Akteur einfügt ist und den er mitzutragen hat; das Festhalten am Gestaltungsprinzip der Hierarchie, welches Ordnungsstrukturen sowohl hier und jetzt verbürgt als auch der Zukunft aufzuprägen erlaubt; und bereitwilliges Lernen aus Erfahrungen, die einem – selbst wider Willen – die jeweils unverfügbaren Ordnungszusammenhänge und Hierarchien vor Augen führen. Dies im Blick, erweisen sich die Französische Revolution sowie die – zuvor schon von der Aufklärung angestoßene – Säkularisierung als gewaltige Provokationen, die systematisch als „Konservatismus“ auszuformulieren veranlassten, was zuvor nur ein sich auf amorphe Weise ausdrückendes Grundgefühl eingepassten Lebens und angepasster Daseinsbewältigung war.
Tatsächlich entstand die ins Heute reichende Entwicklungslinie des Konservatismus genau in den Positionsnahmen zur Französischen Revolution. Wer sich gegen deren Ideen, Praxen und Folgen stellte (wie Burke in England oder de Maistre in Frankreich), der verstand sich nicht selten als Befürworter zumindest von tragenden Prinzipien und bewährten Strukturen jener Gesellschafts- und Staatsordnung, welche dieser Revolution vorausging. Zum Gegner hatte man deshalb die „Progressisten“, die Verächter der Tradition, die Parteigänger „bloßer Ideen“, die von „rein ausgedachten Prinzipien“ zu risikoreichen Gesellschaftsexperimenten verleiteten Utopisten und Revoluzzer. Und also befehdeten Konservative damals die Anhänger von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, später die Befürworter von Republik, Demokratie sowie Frauenwahlrecht. Und zur Pointe wurde, dass die damaligen Konservativen gegen viele Ideen kämpften, deren Verwirklichung den heutigen Konservativen ganz selbstverständlich und auch lieb ist.
Bei europäischen Konservativen geht außerdem oft der selbstvergewissernde Blick bis ins Mittelalter zurück. Aufrechtzuerhalten gilt es dann jenes „christliche Abendland“, das aus den barbarischen Jahrhunderten seit der Völkerwanderung hervorging, sich in der Renaissance seine säkularen antiken Wurzeln neu erschloss und über das Aufkommen von empirischer Wissenschaft, Aufklärung und industrieller Revolution zur zeitweiligen globalen Vormacht aufstieg. In genau diesem „lateinischen Europa“ prägte dann das auf den Dualismus von Weltlichem und Geistlichem gegründete Christentum unsere Staatlichkeit so tiefgreifend, dass bis zum Aufkommen von Säkularismus und Laizismus die im Okzident stets prekäre Spannungsbalance zwischen Religion und Politik wie eine „selbstverständliche Synthese“ empfunden wurde, nicht aber als ein grundsätzlicher, allenfalls zeitweise in ein prekäres Gleichgewicht gebrachter Widerstreit der Eigenlogiken von Politik und Religion.
Doch ziemlich anders fühlte sich das Christentum seit je für konservative Chinesen an. Deren auch unter kommunistischer Gewandung weiterwirkende konfuzianische Zivilreligion ist ganz einer säkularen harmonischen Stabilität verpflichtet, die jeder Glaubensgemeinschaft von vornherein enge Gestaltungsgrenzen setzt. Und zum Staatsverständnis traditioneller Muslime steht der europäisch-christliche Dualismus von Religion und Politik aus ganz dem gegenteiligen Grund quer: Gottes Gebote reichen aus, um Frieden und gutes Leben zu gewährleisten. Nur von genau der europäischen Tradition geprägte Konservative fanden sich im Sozial- und Denkraum dieses Dualismus bestens zurecht und fühlten sich gerade seiner Bewahrung verpflichtet. Also gilt solchen Konservativen das Schrumpfen christlicher Religiosität als wirkliche Gefahr für das soziokulturell sowie institutionell Erreichte; und das wiederum legt die intensive Empfindung nahe, wenigstens das kulturelle Erbe des Christentums müsse man verteidigen, wenn schon der es einst schaffende Glaube am Erlöschen wäre.
Im Grunde verstehen sich viele europäische Konservative schlicht als modernitätsskeptische Kulturchristen. Von dieser Warte aus liegt der Gedanke nicht wirklich nahe, es könne auch muslimische, konfuzianische oder schlicht atheistische Konservative geben, mit denen sich – nach Einklammerung von Religionsfragen – wohl durchaus ein gemeinsamer Nenner finden ließe. Wo aber nach einem gemeinsamen Nenner aller Konservatismen gerade nicht gesucht wird, dort entpuppt sich Konservatismus als eine rein abendländische Geisteshaltung und als bloß europäische Politiktradition. Doch mit dem heutigen Wegfall jener Frontstellungen, die einst seine Entfaltung in Europa prägten – nämlich freiheitliche Republik gegen Obrigkeitsstaat; Aufklärung und Wissenschaft gegen Religion – wird ein solcher Konservatismus zur Antwort ohne Frage, zum Habitus ohne haltungsverlangendes Problem.
Also ist es unzureichend, Konservatismus allein aus dem europäischen Gewahrwerden der oben genannten drei Elemente konservativen Denkens zu verstehen: dem Akzeptieren eines größeren Ordnungszusammenhangs, dem Festhalten am Wert von Hierarchien, dem Lernen eher aus Erfahrungen denn aus Ideen. Als jener größere Ordnungszusammenhang, in den ein Konservativer alles Handeln einbetten will, braucht ja nicht allein der vom Christentum geglaubte „göttliche Heilsplan“ für die Welt zu dienen; sondern dieser Ordnungsrahmen kann sehr wohl auch – wie im Daoismus – die Ordnung der Natur selbst sein. Als ordnungssichernde Hierarchie wiederum muss man sich nicht allein die institutionelle Hierarchie des europäischen Staates oder der christlichen Kirchen wünschen. Vielmehr kann sie auch aus den konfuzianischen Unterordnungslehren des Jüngeren unter den Älteren abgeleitet werden, auch des Schülers unter den Lehrer; und hierarchisches Denken kann sich erst recht aus der islamischen Vorstellung ergeben, Gott habe über das Wort und die Praxis seines Propheten der Welt doch ein für allemal gezeigt, in welchen Über- und Unterordnungsstrukturen das „Haus des Friedens“ zu sichern sei. Obendrein kann das, was mit „Lernen aus der Erfahrung“ gemeint ist, den Horizont der historischen Denker des europäischen Konservatismus weit übersteigen und sich am universellen Algorithmus der Evolution orientieren. Die nämlich zeigt: Wandel ist im Generationenwechsel ganz natürlich; nur Wandel bringt die immer neu entstehenden Spannungen zwischen Systemen und ihren Umwelten in dynamische Fließgleichgewichte; doch Wandel vollzieht sich eben nicht unter willkürlich zu schaffenden Umständen und auch nie nicht in beliebiger Gestaltungstiefe und Richtung, sondern Evolution bewahrt sogar über Hunderte von Millionen von Jahren gerade das, was sich weiterhin bewährt – wie bei unserer Spezies, den Wirbeltieren, die Wirbelsäule. Aus diesem evolutionären Blickwinkel unterscheiden sich „Konservative“ und „Fortschrittliche“ dann nicht so sehr in ihren jeweiligen Inhalten als vielmehr darin, wie umsichtig sie beim neuernden politischen Handeln mit den von ihnen jeweils wertgeschätzten Inhalten umgehen.
Damit ist klar, welche Konstanten des Konservatismus sich überzeitlich und interkulturell erkennen lassen. Was aber kann Konservatismus hier und heute meinen, und zwar in auch politisch konkreter Weise?
V. Was genau kann Konservatismus gegenwärtig meinen?
Einerseits kann man den Konservatismus als eine Methode ansehen, mit der auf neue Herausforderungen reagiert wird, und zwar mit Blick auf bewährte Ordnungsstrukturen, auf funktionierende Hierarchien und auf bereitwilliges Erfahrungslernen im Sinn. Diesbezüglich brächte es gerade heutige Konservative beim Debattieren mit ihren Gegnern weiter, wenn sie sich – wie einst Helmut Schmidt – die von Karl Popper seit den 1940er Jahren entfaltete Sozialtheorie des Kritischen Rationalismus aneigneten. Bei diesem epochemachenden Intellektuellen ging die Vorliebe für kühne Vermutungen stets Hand in Hand mit dem Lernen aus Widerlegungsversuchen des Vermuteten. Gestützt auf Poppers wuchtige Argumente können heutige Konservative selbstbewusst vortragen, dass die zentrale Methode einer nachhaltig das Errungene bewahrenden Politik – und somit das wichtigste Werkzeug konservativen Gestaltens – die bereitwillige Praxis eines Lernens aus vorsichtigen Reformversuchen und gründlich ausgewerteten Reformirrtümern ist, beides geleitet von der Bereitschaft, sich durch konkrete Reformerfahrungen viel gründlicher belehren zu lassen als durch noch so treffliche theoretische Argumente über Reformmodalitäten und Revolutionsnotwendigkeiten. In diesem Denkhorizont ließe sich auch besonders leicht die Leitidee des Konservatismus attraktiv machen: nämlich die – so Goethe einst im ersten der „Urworte orphisch“ – Hege und Pflege einer „geprägten Form, die lebend sich entwickelt“. Liebe zu bewährten Traditionen, Respekt vor den sie tragenden Werten, der Blick stets auch zurück in die belehrende Geschichte des Gegenwärtigen und nicht nur ins erhofft Zukünftige nach vorn: Das alles passt bei einer solchen Haltung bestens zum Versuch, Überkommenes und Übernommenes durch Weiterentwicklung auch für neue Generationen und Zeiten nutzbar, hilfreich und liebenswert zu machen. „Konservativ-fortschrittlich“ nannten sich deshalb nicht wenige Konservative schon im 19. Jahrhundert.
Andererseits braucht Politik schon auch viel mehr als nur eine Methode, wenn sie – was Aristoteles einst als ihr Ziel vorgab – den Leuten ein „gutes Leben“ ermöglichen will. Sie braucht genau dafür taugliche Inhalte, die es dann allerdings auch methodisch ins Werk zu setzen gilt. Eben diese Inhalte lassen sich entlang des folgenden Begriffsdreiecks angeben. An ihm tritt klar vor Augen, wofür heutiger Konservatismus sinnvollerweise stehen sollte.
An der linken Spitze dieses Dreiecks steht „gerechte Ordnung“. Einesteils geht es hier um Recht und Ordnung, also um die zentralen Elemente jenes stabilen Zustands gesellschaftlicher Verhältnisse, die man in der italienischen Renaissance „lo stato“ nannte, und die von jenem Institutionengefüge gesichert werden, das man auf Deutsch den „Staat“ nennt. Doch es geht bei „gerechter Ordnung“ nicht einfach um irgendeine machtgestützte Ordnung, so wertvoll jegliche Ordnung angesichts der stets drohenden Gefahr von Bürgerkrieg und Staatszerfall auch sein mag. Denn Recht und Ordnung werden nur dann auf Dauer bestehen, wenn sie als gerecht empfunden werden. Dazu aber trägt am verlässlichsten bei, dass Recht und Ordnung so, wie in einem konkreten Staat verwirklicht, auch tatsächlich gerecht sind.
Zwar kann man sich darüber, was Gerechtigkeit wohl ist oder verlangt, endlos streiten. Doch dem Seemann reicht es ja auch, sich an mehreren Gestirnen einfach zu orientieren – statt den Versuch zu unternehmen, zu einem bestimmten Himmelskörper aufzufahren. Im Grunde erzwingt also der Streit darüber, was auch hier und jetzt gerecht wäre, genau jenes Lernen, das den Sinn für bislang verkannte Ungerechtigkeiten schärft und auf deren je zeitspezifische Linderung oder Beseitigung hintreibt. Jedenfalls ist Konservatismus nur beim Aufrechterhalten einer zumindest halbwegs gerechten Ordnung eine wirklich stimmige Haltung. Und somit ist das Verlangen nach Gerechtigkeit beileibe keine linke oder utopistische „fixe Idee“, über die sich ein Konservativer besserwisserisch mokieren dürfte.
An der Spitze jenes Dreiecks, oder auch – je nach dessen Ausrichtung – an seiner Basis, steht „Nachhaltigkeit“ oder, in leicht anderer Betrachtungsweise, „aufrechterhaltbare Entwicklung“. Das ist gleichsam der konservativste aller Wünsche eines Konservativen. Es sollen nämlich dem, was besteht und bewährt ist und sich gleichwohl weiterentwickelt, keinesfalls die tragenden Grundlagen zerstört werden, und schon gar nicht als unerwartete, üble Nebenwirkungen gutgemeinter Reformen. Konkret geht es hier um demographische Nachhaltigkeit, um fiskalische Nachhaltigkeit, um energetische Nachhaltigkeit, um ökologische Nachhaltigkeit und um kulturelle Nachhaltigkeit. Das alles wird konkret auf sämtlichen Politikfeldern, die ein moderner Staat zu bestellen hat. Politischer Konservatismus darf deshalb nie einer bloß aufgesetzten Maske gleichen, sondern muss alles Entwerfen und Aushandeln und Umsetzen von politischen Konzepten prägen. In diesem Sinn ist Konservatismus keine bloße Idee oder eine abstrakte Haltung, die „als solche“ attraktiv sein könnte. Vielmehr erwirbt sich Konservatismus Respekt und Bindekraft vor allem durch konkretes Regieren, das möglichst nur solche Entwicklungen zulässt, die sich auch aufrechterhalten lassen – gleich ob bei der Globalisierung, der Liberalisierung oder der Einwanderung in ein Land.
Und an der rechten Spitze jenes Begriffsdreiecks steht „Patriotismus“. Dieser Begriff kommt vom lateinischen Wort „patria“. Es bezeichnet das Vaterland, die Heimat. Dort wächst man auf, schlägt Wurzeln, fühlt sich zugehörig. Oder dort zog man einst hin, schlug dann Wurzeln und fühlt sich seither zugehörig. Wer nun eine solche „patria“ besitzt, der möchte dort meist auch ein gutes Gemeinwesen bestehen sehen. Nicht selten will er auch selbst zu dessen Gedeihen beitragen. Genau eine solche Bereitschaft sowie die aus ihr folgende gemeinsinnige Tätigkeit meint der Begriff des Patriotismus. Anders formuliert: Das, was uns wirklich, und gerade bei großen Zerrkräften zusammenhalten kann, ist nichts anderes als Patriotismus. Auch jeder Einwanderer kann im Übrigen zum Patrioten seines neuen Landes werden, denn beim Patriotismus kommt es offensichtlich gar nicht auf die Herkunft von Leuten an, sondern allein auf deren Zusammenwirken im Dienst einer gemeinsamen Zukunft.
Heutige Konservative denken oft gerade so – und haben allenfalls Schwierigkeiten mit der Hinnahme der Tatsache, dass Deutschland wegen zu weniger eigener Kinder zu einem Einwanderungsland werden musste, sowie damit, ihre patriotische Haltung in einer Weise zu formulieren, die sie nicht zur Zielscheibe lustvoller Attacken seitens von Grünen und Linken macht. Jedenfalls haben Konservative viel weniger Vorbehalte als Progressive von grüner oder linker Konfession, Patrioten nicht nur zu sein, sondern sich auch so zu nennen. In der Regel werden sie auch die folgenden Inhalte eines zeitgemäßen, aufgeklärten deutschen Patriotismus teilen: Erstens geht es um einen auf unsere freiheitliche demokratische Grundordnung bezogenen Verfassungspatriotismus; zweitens wird deutscher Patriotismus konkret im politischen Handeln und Sprechen aus einem Gesamtverständnis der deutschen Geschichte und Kultur heraus, das wesentlich mehr als die zwölf Jahre des deutschen Faschismus und die daraus zu ziehenden Lehren umfasst; drittens gehört zum Patriotismus der Deutschen die Verbundenheit mit ihrer jeweiligen Heimatregion, die innere Bindung an deren Mundart, Landschaft und Bräuche, was unter den Einwanderern auf lange Zeit deren innere Bindung an ihre Herkunftsländer einschließen wird; und viertens äußert sich Patriotismus in einer nicht nur tatkräftig ins Werk gesetzten, sondern immer wieder auch in ganz selbstverständlicher Weise bekundeten Zuneigung zum eigenen Land und zu dessen Leuten, zu Deutschlands Kultur und zu den Geltungsansprüchen dieses Landes als einer großen, freiheitlichen, demokratischen und friedliebenden Nation.
Gerechte Ordnung, Nachhaltigkeit und Patriotismus: Das alles zusammen macht einen gegenwartsangemessenen und zukunftsträchtigen Konservatismus heute aus, nämlich im Zeitalter von neuen Verteilungskonflikten, angesichts des Wachstums unserer Spezies an die Grenzen der ökologischen Tragfähigkeit unseres Planeten, sowie unter den gewaltigen Herausforderungen von Migration und Integration. Genau einen solchen Konservatismus sollten also wir, die wir konzeptuell begleitend oder praktisch handelnd mit Deutschlands Politik befasst sind, nun entlang unserer jeweiligen Fähigkeiten oder Zuständigkeiten auf ganz konkretes Gestalten hin präzise ausarbeiten.
Und wer das dann mit kluger Einsicht und mit praktischer Umsicht tut, der muss sich zu keiner Zeit peinlich getroffen fühlen, wenn ihn ein anderer einen Konservativen nennt. Er steht nämlich – ohne Bewährtes zu vernachlässigen – schlicht an der Spitze derer, die auf wirklich bessere oder wenigstens weiterhin gute Zustände hinarbeiten. Obendrein wird er oft mit Genugtuung erleben, wie beim Angriff auf das argumentative Dreiecksbollwerk von gerechter Ordnung, Nachhaltigkeit und Patriotismus seine politischen Gegner scheitern. Schade ist nur, dass sich auch die Sieger in solchen geistespolitischen Kämpfen so oft dafür schämen, als genau das benannt zu werden, was sie eben sind, nämlich: ganz zeitgemäße Konservative.
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