Wider die Spaltung der Bürgergesellschaft!

Wider die Spaltung der Bürgergesellschaft!

Vortrag in Bautzen am 18. Mai 2017

siehe dazu auch den folgenden Bericht:

https://www.sz-online.de/sachsen/eine-lehrstunde-demokratie-3687009.html

 

Für den Donnerstagabend, 18. Mai, hatte mich die Bautzener Initiative „Wir sind Deutschland“ zu einem Vortrag mit dem folgenden Thema eingeladen: „Wider die Spaltung der Bürgergesellschaft! Freie Meinungsäußerung im Spannungsfeld von Grundgesetz, Zensur und Verleumdung“.

Im Vorfeld erhielt ich einige Hinweise darauf, ein solcher Auftritt könne problematisch sein – teils wegen der Lage in Bautzen, teils wegen des Veranstalters, teils wegen der angekündigten Moderatorin. Ich ging diesen Hinweisen nach und entschloss mich dann, trotzdem zu kommen.

Erstens pflege ich – im Rahmen meiner Terminmöglichkeiten – allen Einladungen zu folgen, welche mir eine Chance geben, auf möglichst viele Leute Einfluss zu nehmen, die an unserer Demokratie und deren Verbesserungsmöglichkeiten interessiert sind. Zweitens ist für mich der politische Standort eines Einladenden nur von sehr nachrangigem Belang, weil ich mich ohnehin nur insoweit nach dessen Interessen richte, als ich – möglichst einprägsam – zum jeweils erbetenen Thema spreche. Ansonsten aber sage ich stets – und zwar ganz unabhängig von etwaigen Hoffnungen des Einladenden oder des Publikums – genau das, was ich zum jeweiligen Thema eben für richtig halte, also: in der Regel stets das Gleiche.

So verfuhr ich auch in Bautzen. Weil deshalb das dort Ausgeführte auch über den konkreten Anlass hinaus von Interesse sein könnte, veröffentliche ich mein Vortragsmanuskript ebenfalls nachstehend, herunterladbar auch unter dem folgenden Link: http://docdro.id/n7eKqxW.

Nach der Lektüre mag man sich dann einmal mehr einen Reim auf das machen, was – neben manch anderem – die Verfasser des „Bekennerschreibens“ zum Abfackeln meines Wagens am 31. März auf Indymedia wie folgt geschrieben haben:

„Werner Patzelt hat in seinen Büchern, Vorlesungen und Interviews den geistigen Nährboden dafür gelegt, dass in Dresden und Sachsen seit Jahren rassistische Pogrome, faschistische Angriffe und eine ekelhafte konservative Politik passieren“ (nachzulesen unter https://www.facebook.com/WJPatzelt/posts/1909591079271029; an der Originalquelle wurde das „Bekennerschreiben“ inzwischen gelöscht).

Im Übrigen brachte die „Sächsische Zeitung“ einen – wie mir scheint: den Abend und seine Stimmung gut treffenden – Bericht über jene Veranstaltung. Das Original ist oben verlinkt; er findet sich am Ende dieses Beitrags. Ferner siehe http://www.bautzenerbote.de/ueber-demokratie-und-defizite/.

Hier nun mein Vortrag:

Wider die Spaltung der Bürgergesellschaft!

Freie Meinungsäußerung im Spannungsfeld von
Grundgesetz, Zensur und Verleumdung

In leben in einer Zeit politischer Polarisierung: zwischen den meisten Parteien und einer neuen Partei, zwischen nicht wenigen Bürgern und ihrem politischen System. Unter solchen Umständen ist unser Thema offensichtlich nicht unwichtig.

Umso wichtiger ist es dann, dass die Behandlung des Themas nicht seinerseits der Polarisierung dient, sondern vor Augen führt, was alles zu dieser Polarisierung beiträgt – und zwar nicht, um sich einfach über die Ursachen zu empören, sondern um diese Ursachen innerhalb des je eigenen Wirkungskreises zu verringern oder zu beseitigen.

Und das heißt, dass wir entlang der Begriffe des Themas ein ganzes Problemfeld abzuschreiten haben. Und wenn das stellenweise eine Form irgendwo zwischen Vorlesung und Predigt annimmt, dann ergibt sich das sowohl aus der Natur der Sache als auch aus den Eigentümlichkeiten jener Spannungslage, in der wir uns treffen.

I. Bürgergesellschaft – und jene Regeln, die sie zusammenhalten

  1. Bürgergesellschaft / Zivilgesellschaft

Einesteils – und im engen Sinn – ist das die Gesamtheit der Staatsbürger eines Landes. Dabei gilt: Die Bürgerschaft ist nicht homogen, nicht einer Meinung, sondern hat unterschiedliche Sichtweisen, Prioritäten und Interessen – und das ist auch gut so.

Deshalb gilt: Gerade in einer pluralistischen Demokratie ist es ganz normal, dass wir uns über Politik streiten.

  • Nicht normal aber ist es, wenn der Streit bis zur Feindschaft geht.
  • Ebenso wenig normal ist es, wenn man den Streit dadurch unterbindet, dass man einander wechselseitig ausgrenzt und schon das wechselseitige Zuhören verweigert – die einen den „Volksverrätern“, die anderen dem „Pack“.

In genau solche nicht normalen Zustände sind wir aber geraten. Was auch immer die Ursachen dafür sind: Wir sollten aus solchen Zuständen einen Ausweg finden. Dafür braucht es zunächst eine zutreffende Problemdiagnose, sodann wechselseitig guten Willen.

Und wenn der jeweils andere es an gutem Willen fehlen lässt? Dann wird der Sache nicht wirklich weitergeholfen, wenn man den eigenen guten Willen aufgibt! – Zwar steht die Bibel in diesem Landesteil nicht sonderlich hoch im Kurs; doch natürlich gilt weiterhin folgender Satz aus der Bergpredigt (Matt. 5, 9): „Selig sind, die Frieden stiften!“

Andernteils – und im weiteren Sinn – meint Bürgergesellschaft die Zivilgesellschaft, also jene Bevölkerung, die sich – in aller wechselseitigen Verschiedenheit – selbst organisiert und leitet, also nicht darauf wartet, dass der Staat sie organisiert und anleitet.

  • Zu dieser Zivilgesellschaft gehören nicht nur die Staatsbürger (die „cives“ im engeren Sinn), sondern alle, die schon ein länger in einem Lande leben. Denn ob jemand einen deutschen Pass hat oder nicht, oder zwei Pässe hat, macht für das normale alltägliche Zusammenleben mit ihm keinen Unterschied. Dieses Zusammenleben aber muss gelingen, wenn man „gut leben“ will – was, so Aristoteles, das oberste Ziel aller Politik ist.
  • Und weil man oft nicht weiß, wie lange neu Hinzugekommene im eigenen Land, ja in der eigenen Gemeinde leben werden, ist es ratsam, mit neu im eigenen Umfeld Lebenden von vornherein solche Beziehungen aufzubauen, die ein friedliches Miteinander ermöglichen – und idealerweise ein gedeihliches.

 

  1. Regeln

Ein solches Zusammenleben als Zivilgesellschaft braucht das Einhalten verbindender und verbindlicher Regeln. Wenn man über sinnvolle Regeln nachdenkt, dürften wiederum die folgenden Gesichtspunkte hilfreich sein. Sie nehmen ihren Ausgangspunkt an der folgenden, nicht wirklich richtigen, doch auch nicht grundfalschen Erläuterung von „Zivilgesellschaft“: Sie ist eine Gesellschaft, in der es „zivilisiert“ zugeht – und das heißt: zumindest gewaltfrei, idealerweise sogar höflich.

Was nun die Regeln eines gewaltfreien, hoffentlich auch höflichen Miteinanders betrifft, dürften die sinnvollen Faustregeln wie folgt lauten. Und während wir sie durchgehen, wird jeder leicht erkennen, dass sie  zwar abstrakt formuliert sind, aber sehr Konkretes bedeuten – auch in Sachsen und in seinen Städten:

  • Regeln, auf welche sich die schon länger Zusammenlebenden geeinigt haben und die gut bewährt sind, muss man nicht zur Disposition der neu Hinzukommenden stellen und mit ihnen neu aushandeln. Vielmehr haben sich neu Hinzugekommene den bewährten Regeln anzupassen.
  • Dennoch sollte man in Rechnung stellen, dass sich manches Gewohnte auch zum wechselseitigen Vorteil verändern ließe, dass Regeln also nicht Selbstzweck sind, sondern einen Zweck erfüllen – den nämlich, ein gutes Miteinander zu ermöglichen. Die Umstände und Herausforderungen des Miteinanders können sich aber ändern. Deshalb soll man Lernen nicht allein von den neu Hinzugekommenen verlangen, sondern auch als Chance für sich selbst begreifen.
  • Neu Hinzukommenden muss man nachsehen, dass sie viele Regeln vor Ort noch nicht kennen – weshalb es auch bei gutem Willen zu regelverletzendem Handeln kommen kann.
  • Neben der „Unhöflichkeit aus Unkenntnis“ gibt es aber auch Gewalt aus mannigfachen Gründen. In solchen Fällen gilt es zu unterscheiden, ob Unkenntnis oder Böswilligkeit zur Regelverletzung führten.
    • Bei Böswilligkeit ist es Sache von Polizei, Behörden und Gerichten, derlei zu ermitteln und zu bestrafen.
    • Bei Unkenntnis ist mit gutem Willen auf Lernen seitens der neu Hinzugekommenen hinzuwirken.

Und natürlich haben auch die neu Hinzugekommenen bei solchem Lernen guten Willen unter Beweis zu stellen. Wechselseitige Höflichkeit und Freundlichkeit helfen dabei, Missverständnisse auszuräumen, bevor sie zu wechselseitigen Verletzungen werden.

  • In keinem Fall macht es jedenfalls eine vielleicht sogar objektiv missliche Lage besser, wenn die länger schon in einer Gemeinde Lebenden ihrerseits mit Unhöflichkeit oder gar Gewalt auf Leute reagieren, die neu hinzugekommen sind.
  • Und schon gar nicht hilft es weiter, wenn man an neu Hinzugekommenen, etwa Geflüchteten, den Ärger darüber auslässt, dass Politiker des eigenen Landes – etwa durch eine törichte Politik unkontrollierter Zuwanderung – einen überhaupt wider eigene Wünsche in die Lage gebracht haben, die man als Herausforderung, vielleicht sogar als Zumutung empfindet.

Wenn man sich diese Gedanken versteht und sich an die von ihnen umrissenen Regeln hält, eröffnet man sich viel besser als andernfalls die  Chance, dass eine bestehende Gesellschaft eine zivilisierte bleibt – und dass aus neu Hinzugekommenen, wenn sie denn bleiben, eines Tages Mitbürger werden, mit denen man umgeht, als wären sie immer schon da gewesen.

Das wäre dann wieder eine Zivilgesellschaft im engeren Sinn: nämlich eine von Staatsbürgern.

 

II. Spaltung und Spannung

  1. Ursachen

Wo eine Gesellschaft gespalten ist, wird im Vorfeld schon ziemlich viel schiefgelaufen sein.

  • Dann hat man es vor allem versäumt, auf fühlbar werdende Spannungen rechtzeitig einzugehen – sei es, …
    • dass man diese Spannungen nicht ernstnehmen wollte (wie manche deutsche Politiker die Spannungen innerhalb einer unter großen Migrationsdruck gesetzten Gesellschaft)
    • dass man Spannungen als Mittel zu diese Spannungen übersteigenden Zwecken nutzte (etwa objektiv sich äußernde Fremdenfeindlichkeit als Mittel, um die Diskussion über mancherlei objektive Ursachen von Fremdenfeindlichkeit als ihrerseits „xenophobierechtfertigend“ zu unterbinden).
  • Versäumt hat man jedenfalls die folgende, meist wirksame Doppelstrategie: Man muss zugleich …
    • die Ursachen von Spannungen erkennen, erstnehmen, verringern bzw. gar beseitigen
    • den sich über Spannungsursachen empörenden Leuten erklären,
      • welche Spannungen aus welchen Gründen vielleicht eben doch eine Zeit lang auszuhalten sind,
      • was man als politisch Verantwortlicher in dieser Zeit zu tun gedenkt,
      • und wie man sich die Schaffung von Abhilfe vorstellt.

Es scheint, dass wir in Deutschland etliche Spannungen haben aufkommen lassen – und dass allzu viele allzu wenig zur Verhinderung dessen getan haben, dass sich diese Spannungen gerade nicht in Polarisierungen und Spaltungen umsetzen.

Als Einzelne können wir zwar nicht ungeschehen machen, was da gesamtgesellschaftlich schiefgelaufen ist. Sehr wohl aber können wir in unserer eigenen Lebenswelt und in unserem eigenen Zuständigkeitsbereich durch Tun und Lassen auf vielerlei bessernde Wirkungen ausgehen. Und wenn dieses eigene Beispiel dann ansteckend wirkte, ließe sich nach einiger Zeit auch gesamtgesellschaftlich manches zum Besseren wenden. Erich Kästner hatte da schon recht: Es gibt nichts Gutes, außer man tut es!

 

  1. Erscheinungsformen derzeitiger Spannungen und Spaltungen

In jeder heutigen Gesellschaft, so auch in unserer, gibt es die folgenden Spannungen:

  • wirtschaftliche Spannungen, z.B. wohlhabend vs. Hartz IV, Nutznießer der Globalisierung vs. Lastenträger der Globalisierung …
  • soziale Spannungen, z.B. Herkunft aus einem fördernden Elternhaus vs. Aufwachsen in sozial benachteiligender Umgebung, Glück im Leben vs. Pech im Leben (etwa durch Systemzusammenbrüche o.ä.) …
  • kulturelle Spannungen, z.B. arrogante und selbstgerechte Eliten vs. „wir, das einfache und ehrliche Volk“

Mit derlei Spannungen verbinden sich derzeit auch noch die folgenden Spannungen als derzeit wohl politisch wichtigste Spannungen in Deutschland. Wir sollten sie alle sehr ernst nehmen und verhindern, dass aus ihnen dauerhafte Spaltungen werden – und gar solche, an denen die Zivilität unserer Gesellschaft bleibenden Schaden nehmen könnte:

  • Lange schon hier Lebende vs. neu Hinzugekommene, d.h.: das Kernproblem unserer Einwanderungsgesellschaft ohne klare Integrationspolitik, da ohne positives Selbstbild.
  • Befürworter einer grenzenlosen Zuwanderungspolitik vs. Gegner von Zuwanderungspolitik überhaupt.
  • Befürworter des Fortbestands der bislang in unserem Land bestehenden Kultur vs. Befürworter eines Kulturwandels hin zu einer multikulturellen und multiethnischen Gesellschaft ohne klare Rahmenkultur oder gar Leitkultur
  • Verfechter der These, wir hätten eine – alles in allem – gut funktionierende Demokratie („Systemlinge“) vs. solche, die nach einer grundsätzlichen Alternative zum bestehenden politischen System suchen
  • Vertreter eines positiven Bildes von Deutschland („bin stolz darauf …“) vs. Vertreter eines negativen Bildes von Deutschland („du mieses Stück …“)
  • Befürworter vs. Gegner einer immer engeren EU oder des Fortbestands der NATO

Viele dieser Spannungslinien sind miteinander verschränkt und bestärken einander wechselseitig. Das macht das Ganze ziemlich brisant.

 

  1. Was tun?

Was wäre also angesichts dieser vielen, oft inhaltlich eng verschränkten Spannungen das richtige Verhalten? Beim Nachdenken über die angemessene Antwort fällt auf:

Alle diese Spannungen ….

  • fühlen sich für unterschiedliche Gruppen unterschiedlich bzw. unterschiedlich schlimm an: für Geflüchtete anders als für die Aufnahmegesellschaft – und wiederum unterschiedlich für unterschiedliche Gruppen von Geflüchteten bzw. der aufnehmenden Gesellschaft, etwa für Wohlhabende in Stadtvierteln ohne Geflüchtete sehr anders als für Hartz IV-Empfänger in Problemvierteln (wohin man aber vielfach Geflüchtete verbrachte).
  • haben komplexe Ursachen – beim Migrationsgeschehen etwa reichend von Staatszerfall in manchen Weltteilen über (auch vom Westen mitverursachte) Bürgerkriegen über jahrzehntelang schlechte Wirtschaftspolitik und inzwischen auch den Klimawandel bis hin zum Magnetismus der EU und, vor allem, des deutschen Sozialstaats.
  • haben (wenn überhaupt) oft höchst verwickelte Lösungsmöglichkeiten.

Beispiele:

  • Was wird mit der Milliarde Menschen mehr in Afrika bis 2050, wenn dort gutes Regieren und Wirtschaften keinen großen Sprung zum Besseren machen?
  • Was wird aus Europa, wenn es Millionen von Afrikanern geben sollte, die bis hin zum Einsatz von Gewalt auf ihrem Wunsch bestehen wollten, nach Europa einzuwandern?

Also: Vielleicht finden sich Lösungen, die im Nachhinein wie selbstverständlich anmuten (etwa: Was wird aus Europa, wenn es eines Tages keine Sowjetunion mehr geben sollte?); vielleicht gibt es aber auch – aufgrund der Natur der Sache – überhaupt keine Lösungen.

  • berühren vielfältige Interessen, die manchen objektiv möglichen Problemlösungen in die Quere kommen.

Beispiel:

  • Wenn das alternde Europa mit seinen wenigen Kindern an Bevölkerung verliert, könnte es „eigentlich“ seinen Bevölkerungsstand durch Ansiedelung von etlichen Dutzend Millionen Afrikanern halten.
  • Doch viele Europäer haben ein Interesse daran, ihre bisherigen kulturellen Umstände auch für die Zukunft aufrechtzuerhalten – was nicht so recht gelingen dürfte, kämen in innerhalb weniger Jahrzehnte etliche Dutzend Millionen Afrikaner nach Europa.
  • Warum aber sollten in Afrika ohne gute Lebensperspektive bleibende Afrikaner ein Interesse haben, dass ihr zum guten Leben einladender nördlicher Nachbarkontinent auf Dauer jenes putzige Freilichtmuseum bleibt, zu dem es sich womöglich entwickelt?

Gewiss sind alle diese Interessen legitim – schließen einander aber aus. Was also tun?

In solchen Lagen ist es sehr unwahrscheinlich, dass man allein durch höchstpersönliches Nachdenken oder durch wechselseitige Bestätigung mitgebrachter Ansichten im Kreis von Gleichgesinnten zu einer angemessenen Problemdiagnose und zu wirkungsvollen Therapievorschlägen gelangen kann.

An genau dieser Stelle ist der große Mehrwert pluralistischer Demokratie gefragt: Lernen auf der Grundlage von Streit auf der Grundlage angstfreier Meinungsäußerungen.

 

III. Freie Meinungsäußerung: Sinn und Sicherstellung

  1. Zum Wert von Streit

Es wird gerade in unübersichtlichen und schwierigen Lagen am besten sein, in streitigen Diskursen zu lernen – nämlich zwischen Leuten, welche …

  • die bestehenden Spannungen unter sehr verschiedenen Blickwinkeln und entlang sehr unterschiedlichen Interessen sehen
  • aufgrund ihres unterschiedlich akzentuierten Wissens um wirtschaftliche, soziale, psychische, geschichtliche usw. Zusammenhänge zu unterschiedlichen Erklärungen der zu bewältigenden Probleme kommen – auf deren Grundlage dann auch unterschiedliche Handlungsstrategien als sinnvoll vor Augen treten können
  • aufgrund ihrer Erfahrungshintergründe auf unterschiedliche konkrete, administrativ umsetzbare und politisch vermittelbare Handlungsmöglichkeiten kommen, die anderen nie in den Sinn kämen
  • wegen ihrer Einbettung in unterschiedliche Gesellschaftsteile und Verantwortungsstrukturen unterschiedliche Einschätzungen dessen haben, was wirklich – gegen welche Widerstände und mit welchen Nebenwirkungen – machbar ist, ja auch nachhaltig wirken kann.

Aus so unterschiedlichen Perspektiven in einen Streit über das sinnvollerweise Machbare einzutreten und in diesem Streit gangbare Wege in eine gute, gemeinsame Zukunft zu erkennen: Das ist der große Vorteil, ja Zweck pluralistischer Demokratie.

 

  1. Voraussetzungen pluralistischen Streits

Möglich ist so fruchtbarer und nutzbringender Streit das alles aber nur unter bestimmten Voraussetzungen. Sie gilt es zu schaffen bzw. zu verteidigen.

Leider sind aber gerade hier in unserer politischen Praxis etliche Störungen, ja Pathologien aufgetreten, die unser Land ins Risiko führen, dass aus Spannungen Spaltungen werden.

Zum besonderen Problem wird dabei, dass manche Pathologien gerade aus dem höchst löblichen Anliegen erwachsen sind, unsere pluralistische Demokratie aufrechtzuerhalten. Im Grunde wird dabei die klassische Konservativenhaltung eingenommen: Der Bestehende ist doch ohnehin gut – und alles, was es verändern könnte, muss deshalb unterbunden werden! Doch auch Gutes, das besteht, besteht eben nur solange, wie es neuen Herausforderungen angepasst wird. Zugespitzt: Wenn das meiste so bleiben soll, wie es ist, muss sich sehr vieles eben ändern – und in der Regel nicht nur an Prozeduren und Strukturen, sondern auch im Denken!

Im Einzelnen müssen wir die folgenden Voraussetzungen unserer pluralistischen Demokratie sichern:

  • Der Bereich des zulässigerweise Umstrittenen muss möglichst groß, der Bereich des streitfrei Gestellten („Minimalkonsens“) muss möglichst klein sein.
    • Hier haben wir heute das Problem, dass viele – in klassischer Konservativenmanier – möglichst viel streitfrei stellen und zum tabuisierten Konsens machen wollen. Das Mittel dazu besteht in der Unterscheidung von „politisch Korrektem“ und von „politisch Unkorrektem“ sowie in der öffentlichen Herabsetzung und sozialen Bestrafung selbst nur vermeintlich politisch Unkorrekter, was beides abschreckend wirken soll, ja so auch wirkt.
    • Auf diese Weise entsteht aber ein Klima öffentlicher Heuchelei: Man legt Lippenbekenntnisse zu mancherlei Selbstverständlichkeiten wie Humanität und Gewaltfreiheit ab, denkt und redet untereinander aber anders – und hält sich an solche Prinzipien nur solange, wie sie einem nutzen. Am Ende haben wir einen unehrlichen öffentlichen Diskurs, simulieren wir also nur politische Debatten – und bringen uns um den wichtigsten Vorteil pluralistischer Demokratie: den steten Druck zum politischen Lernen.
  • Der wirklich erforderliche Minimalkonsens („nichtstreitiger Sektor“) besteht aus drei Elementen:(1) Wertekonsens:
    Menschenwürde, Rechtsstaatlichkeit, Verantwortlichkeit der Regierung, Demokratie mit praktiziertem Pluralismus – kurz: fdGO (= freiheitliche demokratische Grundordnung).

Warum genau dieser Wertekonsens? Weil andernfalls der Streit in die falsche Richtung führen kann.

Doch auch hier haben wir derzeit das Problem, dass vieles aus diesem Wertekonsens aus mannigfachen Gründen eher heuchlerisch vertreten als wirklich zur verlässlichen Richtschnur eigenen Handelns genommen wird:

  • Menschenwürde: für uns schon – nicht aber für Andersdenkende oder anders Aussehende!
  • Rechtsstaatlichkeit – aber nur, solange das Recht meinem Gegnern Schranken setzt, nicht aber mir!
  • Demokratie mit Pluralismus: Unser nach diesen Spielregeln funktionierender Staat hat Politikergebnisse, die uns nicht gefallen – und also müssen wir pluralistische Demokratie nicht wirklich schätzen oder unbedingt aufrechterhalten!
  • Verantwortlichkeit der Regierung: Sie läuft leer, wenn …
    • die Regierung notstandsartig an Gesetzen und Verträgen vorbei agiert (etwa bei der Euro/EU-„Rettung“ oder der Zuwanderung)
    • sich dagegen in den Parlamenten kaum Opposition findet (etwa weil die Oppositionsparteien ohnehin die Regierungspolitik unterstützen – und die Regierung das „ihren“ Parteien ebenfalls aufzwingt),
    • der Bevölkerung die Thematisierung auch von wirklich empfundenen Problemen seitens der politischen Klasse und der tonangebenden Journalistenschaft verweigert wird – etwa mit dem Argument, bei all dem handele es sich nur um hysterische Einbildungen auf chauvinistischer oder rassistischer Basis. (Eben das hat sich in Deutschland auf wichtigen Politikfeldern zwischen 2014 und 2016 gerade so zugetragen).

      (2) Verfahrenskonsens
      :
  • Erstens: Es braucht Gewaltfreiheit – weil sonst ja nicht frei gestritten werden kann, was den Streit dann aber nutzlos macht.

Hier haben wir derzeit die dramatischsten Abweichungen des Ist vom Soll, wie sich immer wieder beim Aufeinandertreffen von Demonstranten und Gegendemonstranten, bei Verhinderungsversuchen von Veranstaltungen, bei Anschlägen auf Büros und Autos von Andersdenkenden usw. zeigt.

  • Zweitens: Das Mehrheitsprinzip bei der Streitbeilegung – weil es sonst keinen Anreiz zur Kompromissbildung gibt, und man vom Streiten nicht zum Handeln gelangt.

Das Mehrheitsprinzip wird zwar weitgehend akzeptiert, doch dadurch in Frage gestellt, dass man auch in unserem Land ein demokratisches Zustandekommen von Mehrheiten zu bezweifeln unternimmt: „Manipulation durch Lügenpresse“ verfälscht den Wahlkampf; die „Stimmenauszählung wird manipuliert“; und dann werden auch noch Regierungskoalitionen so gebildet, dass ein Bündnis von Minderheiten gegen die reale Mehrheit steht. (Da möchte man anfügen: Wenn eine neue Partei gar nicht zum realpolitisch eingestellten Koalitionspartner werden will, hat sie keinen guten Grund, sich über Koalitionen ohne und gegen sie zu beklagen!)

(3) Ordnungskonsens:

Es muss klar und akzeptiert sein, welcher Streit vor Gerichte, welcher in die Parlamente, welcher in die Straße usw. gehört.

Hier erleben wir leider, dass inzwischen …

  • politischen Gegnern bereits das Präsenzrecht auf Straßen und Plätzen bestritten wird
  • neuen Parteien überhaupt ihr Existenzrecht bestritten wird (mit Versuchen als praktischer Folge, ihnen für die gesetzlich nötigen Parteiveranstaltungen keine Räume zur Verfügung stellen zu lassen) – statt ihnen, wie das zu unserer politischen Ordnung gehört, im Wahlkampf durch tragfähige Argumente Stimmen abzujagen.

 

III. Zum Spannungsfeld von Grundgesetz, Zensur und Verleumdung

  1. Das Grundgesetz

Das Grundgesetz – im Übrigen eine vollständige und ganz vorzügliche Verfassung, kein windschiefes Provisorium! – legt eine wertgebundene Ordnung fest. Deshalb ist gerade unter dem Grundgesetz nicht alles erlaubt, was man will.

Es reicht also nicht, sich auf die vom GG eröffneten Freiheitsspielräume zu berufen. Man muss schon auch bereit sein, sich bei der Nutzung dieser Freiheit so in Gedanken, Worten und Taten zu benehmen, dass die Vorbedingungen der Freiheitlichkeit unserer Verfassungsordnung gewahrt bleiben.

Wenn von dieser Forderung abweichendes Verhalten kritisiert wird, ist das keine Verleumdung. Und wenn von dieser Forderung abweichendes Verhalten unterbunden wird, ist das keine Zensur.

Im Einzelnen gilt ansonsten:

  • Eckwert ist die in den Art. 2-19 des GG konkretisierte Menschenwürde. Es handelt sich wohlgemerkt um die Würde des Menschen – nicht die des Weißen oder gar nur des Deutschen. Rassismus widerspricht also unserem Grundgesetz voll und ganz.
  • Die übrigen unter Verletzungstabu gestellten Vorgaben listet das Bundesverfassungsgericht in seiner schon 1952 vorgelegten Definition der freiheitlichen demokratischen Grundordnung auf.

Unter diesen sind zwei Prinzipien derzeit unter der Attacke nicht von Randgruppen (wie die Würde des Menschen seitens von Rassisten), sondern leider eines sehr großen Teils der deutschen Gesellschaft – und zwar gerade auch von solchen, die in ihrem Selbstbild nichts anderes wollen, als unsere Verfassungsordnung zu verteidigen. Doch „gut gemeint“ ist gerade hier nicht auch schon „gut getan“.

  • das Mehrparteienprinzip mit Chancengleichheit aller Parteien. – Hier erlebt die AfD derzeit weit mehr als die normale politische Gegnerschaft, sondern regelrechte Feindschaft samt physischer Gewalt gegen Sachen, mitunter auch gegen Personen. Solches Verhalten ist falsch und schlecht.
  • das Recht auf Bildung und Ausübung von Opposition, gleich ob parlamentarisch oder außerparlamentarisch. – Hier erlebten etwa die Dresdner Straßendemonstranten von PEGIDA, dass nicht einfach nur ihre Inhalte und Aussagen bekämpft wurden (wofür es durchaus gute Gründe gab), sondern überhaupt die Tatsache, dass sie mit ihren Inhalten und Aussagen auftraten.

Vor diesem Hintergrund, der zwei wichtige Gründe der Vergiftung unseres innenpolitischen Klimas erkennen lässt, sind zwei Klarstellungen geboten:

  • Aus dem Recht aller Parteien auf Chancengleichheit folgt weder, dass alle Parteien gleich gute oder gleich sinnvolle Inhalte verträten, noch dass es unrecht wäre, gegnerische Parteien mit allen Mitteln des Argumentierens und der Rhetorik zu bekämpfen.

Es ist vielmehr so, wie das Voltaire einmal formulierte: Man bekämpft aufs Entschiedenste die Meinung des anderen – und kämpft zugleich auf das Entschiedenste dafür, dass der andere das Recht hat, seine Meinung zu vertreten. Das ist nämlich die Voraussetzung für alle Vorteile pluralistischer Demokratie

  • Es macht Übergriffigkeiten in die Chancengleichheit aller Parteien und ins Recht auf Ausübung von Opposition nicht besser, wenn derlei Übergriffe subjektiv guten Willens und der Absicht nach im Dienst unserer freiheitlichen Ordnung erfolgen. Doch leider ist niemand schwerer belehrbar als jemand, der sich auf der Seite der Guten glaubt

Solche Neigung zur Unbelehrbarkeit zeigt sich in den aktuellen Streitigkeiten allerdings auf beiden Seiten: bei den „Gutmenschen“ ebenso wie bei den Anhängern von PEGIDA oder AfD (was ja zwei Seiten derselben Medaille sind). Solche Unbelehrbarkeit entspringt nämlich in der Regel nicht den – mitunter ja auch im Lauf der Jahre wechselnden – Inhalten, die man vertritt, sondern der Haltung, in der man sie vertritt. Das ist in der Regel eine Haltung der Selbstgerechtigkeit, mitunter eine Haltung der rücksichtslosen Dummheit. Beides aber ist Gift für eine auf wechselseitiges Lernen angelegten freiheitlichen Demokratie.

 

  1. Verleumdung

Auch Verleumdung kommt im politischen Streit unseres Landes vor, wird als politisches Kampfmittel eingesetzt und ist nicht selten wirkungsvoll. Verleumdung ist aber glücklicherweise kein flächendeckendes Phänomen und kann deshalb auch hier recht kurz abgehandelt werden.

Heute sind die wirkungsvollsten Verleumdungspraktiken die folgenden:

  • Etikettierung von jemandem als „umstritten“ – es „wird ja gute Gründe dafür geben, dass da einer umstritten ist“!
  • Ausflaggen des Hinweises ….
    • auf Unterschiede zwischen Gesellschaften und ihren Kulturen als „rassistisch“
    • auf Bewahrenswertes am eigenen Land als „nationalistisch“
    • auf Anschlussprobleme der Ausbreitung muslimischer Gemeinschaften in westlichen Kulturen als „islamfeindlich“ und somit „gruppenbezogen menschenfeindlich“ – und somit als „kulturell rassistisch“

Manche Verleumdungen entstehen aus unzulänglicher Informiertheit, manche schlicht aus bösem Willen. Gegen beides ist kein Kraut gewachsen.

Einziges Schutzmittel, das freilich oft auch nicht wirkt, ist das folgende: Man darf einfach nicht das sein, als was man verleumdet wird – und muss das auch mit allen Mitteln, die einem zur Verfügung stehen, öffentlich nachweisen können!

Wem gegenüber Vertrauen besteht, der wird sich auf diese Weise viel leichter gegen Verleumdungen zur Wehr setzen können, als jemand, der Misstrauen auf sich gezogen hat. Deshalb ist es nicht nur an sich schon, sondern auch aus politsich-praktischen Gründen höchst ratsam, niemals selbst Gebote der Höflichkeit, des Anstands, der Humanität oder der praktischen Vernunft zu verletzen – und gerade dann nicht, wenn man mitten im politischen Kampf steht!

 

  1. Zensur

Was ist Zensur? Beginnt sie schon dort, wo die eigene Meinung nicht ungefiltert und in einer selbst für richtig gehaltenen Breite in die Öffentlichkeit gelangt? Sind Widerrede und Kritik mitsamt ihren Folgewirkungen auf Dritte schon Zensur?

Ich rate: Man soll den Begriff „Zensur“ nicht für alles und jedes verwenden, was man als kommunikative Benachteiligung erlebt, sondern nur dafür, ob der Staat als Staat sich das Recht nimmt, den Bürgern vorzuschreiben, was sie erfahren und sagen dürfen.

Das aber heißt: Bloß weil andere mit dem nicht einverstanden sind, was man selbst sagt, und weil andere nicht ihrerseits alles weitertragen, wovon man möchte, dass sie es veröffentlichten, liegt noch keine Zensur vor. Was vorliegt, ist allenfalls Saumseligkeit bei der journalistischen Sorgfaltspflicht oder politischer Meinungsstreit – der freilich nicht selten mit harten Bandagen ausgetragen wird, und ziemlich oft auch unfair.

Im Übrigen ist es auch keine Zensur, wenn man selbst eine Minderheitsposition vertritt und diese dann in der Öffentlichkeit dann auch als Minderheitsposition widergespiegelt finde – statt, wie von einem selbst meist erhofft, in der gleichen Breite wie Mehrheitspositionen.

Das alles vorausgeschickt, ist aber eben auch festzustellen:

  • Empirische Journalistenuntersuchungen zeigen, dass in vielen westlichen Ländern die Journalisten politisch klar weiter links eingestellt sind als der Rest der Bevölkerung. In Deutschland etwa neigen rund 70% der Journalisten den Grünen, der SPD und den Linken zu.
  • Nun ist aber jeder Blick auf Wirklichkeit perspektivisch und von daher selektiv. Das wiederum heißt: Selbst bei unbezweifelbarem Fairnesswillen von Journalisten merkt man eben doch, ob da eher ein Linker oder eher ein Rechter aus seiner – völlig legitimen! – Perspektive und gemäß seinen persönlichen Sensibilitäten und Prioritäten berichtet.
  • Und das heißt: Linke werden unsere Medienlandschaft in der Regel als objektiv empfinden, weil sie die Perspektive der meisten Journalisten ja teilen. Hingegen wird, je rechter einer steht, er die Medienberichterstattung umso verzerrter, ideologischer, ja auch böswilliger wahrnehmen.
  • Aus genau diesem Grund beklagen sich heute vor allem Rechte über Medienzensur – während das während der westlichen Studentenrevolution nach 1966 vor allem Linke waren, weil damals der dominante Medientenor gegen die „Gammler und Protestierer“ wirkte.

Inzwischen hat sich unter den Journalisten ein mehrstufiger Generationen- und Positionswechsel vollzogen. In dessen Folge wird …

  • linker Unsinn viel eher als rechter Unsinn als „irgendwie eben doch noch sinnvoll“ dargestellt
  • gelten Untaten von Rechten viel eher als Untaten von Linken als „besonders abscheulich“ – und zwar nicht nur dann, wenn die Hintergrundunterscheidung die von „Gewalt gegen Personen“ und „Gewalt gegen Sachen“ ist..

Perfekt wäre es, wenn Unsinn und Untaten anhand für links und rechts gleichermaßen geltender Kriterien kritisiert würden.

Aber da Linke meist etwas anderer intellektueller und ethischer Landkarten navigieren als Rechte, was ja auch ganz legitim ist und eben die politischen Standortunterschiede ausmacht, werden von Linken und Rechten eben auch unterschiedliche Kriterien in unterschiedlicher Priorisierung angelegt.

Und weil die meisten Journalisten heute nun einmal eher links sind, merken rechte Bürger das besonders intensiv – und fühlen sich dann unfair behandelt. „Lügenpresse“, „Lückenpresse“, „Pinocchio-Presse“ usw. sind dafür dann Kurzformeln und werden oft auch als Empörungsrufe genutzt.

Ist das alles Zensur? – Nein!

Wird das alles dann aber auch schon von einer an politischen Wirkungen desinteressierten, bewusst neutralen Journalistenhaltung getragen? – Auch nein.

In Deutschlands journalistischer Kultur ist das gerade auch aus den folgenden Gründen so:

  • Es gibt die große Tradition des „anwaltschaftlichen Journalismus“. Als der Journalistenberuf im 19. Jh. entsteht, waren vor allem Journalisten Anwälte von Freiheit, Gleichheit, Fortschritt, Demokratie usw., was alles damals eben linke Positionen waren, die von Rechten und Konservativen bekämpft wurden. Heute, da jene ehedem linken Inhalte auch zu Selbstverständlichkeiten für Konservative und nicht wenige Rechte geworden sind, setzt sich diese große Tradition des anwaltschaftlichen Journalismus fort im Wunsch, in aktuellen politischen Debatten gerade auch als Journalist Stellung zu beziehen: etwa als Gegner von PEGIDA und AfD, oder durch den Zeitungsaufdruck „Refugees welcome!“
  • Wider journalistische Spielregeln bricht sich die Lust Bahn, Meinungs- und Erklärstücke ineinander übergehen zu lassen. Dann wird freilich nicht nur dem Rezipienten Grundlagenwissen zur eigenen Meinungsbildung vermittelt, sondern gleich als Beipack die „richtiger Meinung“.

Unter dem aus allen diesen Gründen entstandenen und heute zweifellos gegen rechts wirkendem Meinungsdruck gibt es inzwischen weit verbreitete Selbstzensur:

  • Aus dem Wissen darum, was man angesichts aufmerksamer und kommunikativ einflussreicher Hüter politischer Korrektheit öffentlich besser nicht sagt, sondern nur „unter uns“, entsteht ein – gar noch wechselseitig bewusstes – Klima öffentlicher Heuchelei.
  • Dieses münzt sich, empirisch nachweislich, sogar um in den von demoskopischen Instituten in Rechnung gestellten „Lügenfaktor“ bei Fragen danach, welche Partei man zu wählen gedenke oder gewählt habe.

Das alles aber beeinträchtigt die Vorteile pluralistischer Demokratie. Ihretwegen sollten wir von solcher politischen Heuchelei Abstand nehmen und stets offen sagen, wofür wir stehen. Dann reicht es aber nicht, einfach nur Gefühle, Wissensbruchstücke und Argumentationsschablonen zu verwenden, sondern muss man sich schon die Mühe machen, zu einer im offenen Diskurs achtbar zu vertretenden, plausibel begründeten Position zu gelangen!.

Im Übrigen dient heute als Instrument zur Unterlaufung von (gegnerischer) Dominanz in den großen Medien das Internet.

  • Gerade rechte Bewegungen nutzen es aus den genannten Gründen intensiv und erfolgreich: einst PEGIDA, inzwischen die AfD
  • Das Internet dient vielen als Gegenwelt zu jener der etablierten Medien:
    • Dabei geraten viele in Echokammern und Filterblasen, fangen also an, in Sonderwirklichkeiten zu leben – oft verschwörungstheoretisch grundiert.
    • Solche Leute wissen bald immer mehr von immer weniger – und deuten schließlich die ganze Wirklichkeit von dem Bisschen her, das sie sich auf einem ganz engen Gebiet an (ansonsten nicht gut in größere Zusammenhänge eingeordneten) Spezialwissen angelesen haben.
    • Das lässt den gesellschaftlichen Diskurs auseinanderbrechen und setzt Spannungen leicht in Spaltungen um.
  • Das Gegenmittel wäre die Bereitschaft zur nie endenden Neugier – sowie die Befähigung zu einer kritischen Haltung, die sich durch folgende Merkmale gekennzeichnet:
    • stets Überprüfung von Aussagen darauf, ob sie mit jenen Sachverhalten übereinstimmen, über die sie Behauptungen treffen!
    • Quellenkritik: was taugt denn die Quelle, aus der ich mein Wissen nehme? Woher stammt deren Wissen?
    • Methodenkritik: Ist das, was an Daten erarbeitet wurde, wirklich aussagekräftig? Und anhand welcher Kriterien kann man die Verlässlichkeit einer Methode abschätzen?
    • Ideologiekritik: Wird eine Position eher von Fakten her erarbeitet – oder beschafft jemand sich „seine (Alternativ-)“ Fakten so, dass sie möglichst gut in sein Weltbild passen?

Eine solche Haltung ist aber selten und wird mitunter auch gar nicht verstanden. Mancher kritisiert sie sogar als „Fehlen einer klaren politischen Position“. Doch eben durch Bevorzugung klarer Positionen anstelle redlicher Selbstkritik vergibt man sich die besten Chancen auf politisches Lernen – und entzieht pluralistischer Demokratie ihre wichtige Möglichkeiten.

 

IV. Einige Schlussbemerkungen aus gegebenem Anlass

Ich hoffe, dass diese Ausführungen dabei helfen, …

  • manche Bedingungsgefüge derzeitiger gesellschaftlicher Polarisierungen besser zu verstehen als zuvor,
  • sich selbst und seine eigenen politischen Erfahrungen bzw. Enttäuschungen in diese Landkarte von Zusammenhängen einzuordnen,
  • eine eigene Position zu alledem zu erarbeiten, die vernünftig, gerade auch im Streit gemeinwohlverträglich durchhaltbar und insgesamt dem gesellschaftlichen Zusammenhalt förderlich ist.

Gar nicht dem gesellschaftlichen Zusammenhalt förderlich ist aber eine Position, die sich – von bescheidenen, auch von mir anfangs nicht so recht ernstgenommenen Anfängen her – in Deutschland und auch in Sachsen seit knapp zwei Jahren immer stärker ausbreitet.

Das ist der Glaube daran, die Bundesrepublik Deutschland existiere gar nicht, weshalb man sich an ihre Gesetze auch nicht halten müsse. „Reichsbürger“ ist der – den Sachverhalt nicht immer wirklich gut treffende – Begriff für solche Leute.

Typischerweise behaupten „Reichsbürger“:

  • Deutschland habe gar keinen Staat, weil es nur ein „Grundgesetz“, doch keine „Verfassung“ gäbe; und ein nicht-existierender Staat könne an die im Land Lebenden folglich auch keine Ansprüche stellen (etwa durch Strafbefehle oder Ausweispflichten)
  • Die BRD wäre vielmehr nur eine „Firma“ – und die Deutschen wären deren „Personal“. Beweis: Wir haben ja auch einen „Personalausweis“! (So, als ob einen PC zu benutzen, also einen „Personalcomputer“, den Inhaber einer Firma zum „Personal“ mache …). Personal aber kann kündigen – und das tue man eben, weshalb man sich fortan nicht mehr an die Gesetze des Landes halten müsse.
  • Deutschland sei nicht souverän (Besatzungsregime ab 1945, dann Einbettung in internationale Organisationen wie NATO und WTO, sowie in supranationale Organisationen wie die EU); und was nicht souverän sei, könne auch kein Staat sein.
  • Wir wären ein besetztes Land, in dem Deutsche nur als Vasallen der USA agieren könnten, oder Marionetten wären der – wahlweise – „Bilderberger“, Trilateralen Kommission oder des „Weltjudentums“.

Das alles ist völliger Unsinn bzw. Quelle grober Missverständnisse. Man könnte darüber lachen, wenn so denkende Leute nicht inzwischen flächendeckend die Verwaltungsbehörden unseres Landes belästigten, ja deren Mitarbeiter auf vielfache Weise einschüchterten, ja zu bedrohen versuchten – meist aus Unwillen, Abgaben oder Strafen zu bezahlen, und oft aus purer Lust am groben Unfug.

Wer immer solche Verhaltensweisen erwägt oder derlei sie scheinbar rechtfertigende Gedanken hegt, möge zur Besinnung kommen – und soweit ich durch Antworten auf Fragen dazu beitragen kann, will ich es nachher gerne tun!

 

 

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Und hier nun der o.a. Bericht aus der „Sächsischen Zeitung“, Bautzen, vom 20. Mai 2017:

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Eine Lehrstunde Demokratie

Eine Bautzener Bürgerbewegung lädt Politikwissenschaftler Werner Patzelt als Redner ein. Der Beifall fällt verhalten aus.
Von Sebastian Kositz

Bautzen. Für den großartigen Erich Kästner gibt es an diesem Abend keinen Beifall. Es gibt nichts Gutes, außer man tut es. Dieser Satz stammt von dem Dresdner Schriftsteller. Dahinter steckt ein leidenschaftliches Plädoyer für Zivilcourage. Als der Dresdner Politikwissenschaftler Werner J. Patzelt diesen Satz zitiert, bleibt es allerdings still im Saal. Geklatscht wird an diesem Abend ohnehin nicht so viel. Dabei hatte sich der Referent aufrichtig bemüht in den fast zwei Stunden. Was einen wie Werner Patzelt wiederum nicht weiter kümmern mag, denn wegen des Beifalls sucht er in Bautzen ganz sicher nicht die große Bühne.

Brechend voller Saal

Der Saal im Hotel Residence im Bautzener Süden ist brechend voll. Die Luft ist warm und stickig. Jeder der eng aufgereihten Stühle ist besetzt. Wer keinen Platz mehr abbekommt, steht gegen die Wand gelehnt. Die Bautzener Initiative „Wir sind Deutschland“ hat zu einem Vortrag mit dem renommierten Dresdner Politikwissenschaftler Werner J. Patzelt eingeladen.

Seit Monaten stellt die Bewegung um die Bautzener Geschäftsleute Jörg Drews und Veit Gähler verschiedene Veranstaltungen auf die Beine, ließ mit „Denkste?!“ sogar eine eigene Zeitschrift an die Bautzener Haushalte verteilen. Jörg Drews ist der Chef der Firma Hentschke Bau. Veit Gähler betreibt einen Spielzeugladen am Lauengraben. Sie und ihre Mitstreiter sehen sich als unabhängige Bürgerbewegung. Kritiker werfen ihnen Rechtspopulismus vor.

Das Bündnis spricht sich gegen die Abschaffung des Bargelds aus, setzt Fragezeichen hinter der Parteiendemokratie. Es kritisiert die seiner Meinung nach gegen Russland gerichtete Politik Europas und zweifelt oft an dem, was in etablierten Zeitungen steht oder im Fernsehen läuft. Man müsse eben auch darüber streiten dürfen.

Der „Pegida-Versteher“

Genau dieses Gut sieht die Initiative allerdings in Gefahr. Mit dem Satz „Freie Meinungsäußerung im Spannungsfeld von Grundgesetz, Zensur und Verleumdung“ ist deshalb auch der Vortrag überschrieben, zu dem am Donnerstagabend Werner Patzelt das Podium betritt. Mit seinen Analysen und Beiträgen über das montägliche Demonstrationsgeschehen in Dresden hat sich der Fachmann den Zusatz Pegida-Versteher erworben. Ein Vorwurf, den der Politikwissenschaftler vehement zurückweist und der denjenigen, die Patzelt verstehen wollen, besser nicht in den Sinn kommt.

Der Ruf des Politikfachmanns in Kombination mit dem Anliegen der Bürgerbewegung zieht in Bautzen ganz offenkundig. Am Arm versehen mit kleinen weißen Bändchen mit der Aufschrift Hentschke blickt die Gästeschar auf die Bühne, wo nach einleitenden Worten von Jörg Drews schließlich Werner Patzelt ans Mikrofon tritt. In einer Diskokugel, die offenbar aus praktischen Erwägungen stets an der Decke des Saals hängenbleibt, spiegeln sich in einem verwaschenen Grauton die Köpfe seiner Zuhörer. Die jungen Leute sind eindeutig in der Minderheit.

Der Professor verspricht eine Mischung aus Vorlesung und Predigt. Letztere Ankündigung zieht an einigen Stellen des Saals leise, süffisante Lacher nach sich. Auch später wird Werner Patzelt noch einmal an sein Vorhaben einer Predigt erinnern. Die Süffisanz – so viel sei bereits verraten – ist da bei etlichen Besuchern längst verflogen.

Kritische Sätze kommen gut an

Doch zuvor holt sich der Fachmann tatsächlich erst einmal Applaus und viel Zustimmung ab. Etwa, als er über das Miteinander spricht und verkündet, dass Neuhinzukommende sich an bewährte Regeln zu halten haben. Oder als Werner Patzelt Bezug auf den massenhaften Zustrom von Flüchtlingen im Jahr 2015 nimmt: „Es können die Flüchtlinge nichts dafür, dass unsere Regierung zeitweise eine törichte Einwanderungspolitik begangen hat.“ Sätze, die im Auditorium hörbar gut ankommen.

Der sogenannte Pegida-Versteher Patzelt wird offenbar den Erwartungen der Zuhörer gerecht. Doch die Sätze stehen eben auch in einem Zusammenhang. Dass die Gesellschaft von Neuhinzukommenden lernen kann und Zugewanderte Mitglieder der Gesellschaft werden können, findet unterdessen aber keinen Beifall. „Also doch der Pastor“, sprudelt es leise aus einem adrett zurechtgemachten Herrn im feinen Zwirn in der vorletzten Reihe heraus.

Auch andere Meinungen aushalten

Tatsächlich doziert Werner Patzelt ähnlich wie in seinen Vorlesungen an der Uni. Wer einmal einer Einführungsvorlesung an seinem Lehrstuhl an der Technischen Universität Dresden beiwohnen konnte, hört am Donnerstagabend in Bautzen nichts anderes. Und gleichsam wie ein Prediger mahnt Patzelt dazu, Streit zuzulassen, andere Meinungen auszuhalten und vor allem überhaupt zu akzeptieren, dass es andere Meinungen gibt – und das doch bitte, ohne den anderen herabzusetzen. Auch dieses Plädoyer bleibt ohne Beifall.

Applaus lässt sich stets nur mit Signalwörtern erzielen. Phrasen wie „öffentliche Heuchelei“ sowie Begriffe wie Fake News oder Zivilcourage ziehen. Patzelt warnt auch davor, Menschen als Rassisten, Nationalisten oder Islamfeinde zu verleumden, nur weil sie auf Unterschiede zwischen Gesellschaften, Gutes im eigenen Land oder Probleme mit dem Islam hinweisen. Auch das sitzt. Die Feststellung, dass Rassismus mit dem Grundgesetz nicht vereinbar ist, lockt keine sichtbare Zustimmung hervor.

Eher distanziertes Miteinander

Den gelegentlichen Beifallsszenen zum Trotz: Letztlich bleibt es eher ein distanziertes Miteinander zwischen Vortragendem und Zuhörenden. Die reihenweise präsentierten Bekenntnisse zu Demokratie und freiheitlicher Grundordnung werden äußerlich ohne große Regungen hingenommen. Am Ende des Vortrags gibt es einen höflichen, aber kurzen Applaus.

Die ersten Plätze haben sich da schon geleert. Nur wenige Minuten zuvor hatte der Fachmann noch mit einem verbalen Schlag gegen die Reichsbürger aufgewartet. „Da ist dieser Glaube, die Bundesrepublik Deutschland existiere gar nicht. Das alles ist völliger Unsinn.“ Dass das Thema Reichsbürger etliche im Saal beschäftigt, zeigt sich in der anschließenden Fragerunde. Werner Patzelt nimmt sich die Zeit, erklärt ausführlich, warum Deutschland kein Unternehmen ist und warum es bis heute keine Abstimmung übers Grundgesetz durch das Volk gegeben hat.

Moderiert wird die Fragerunde von Katrin Ziske. Als sich die Frau vorstellt, gibt es wohlwollenden Applaus. Katrin Ziske ist vom Magazin Compact, moderiert dort die monatliche Sendung, die der Verlag im Internet verbreitet. Compact gilt als wichtiges Sprachrohr von AfD und Pegida.

Podiumsdiskussion ist entfallen

Offenbar war der Bautzener Auftritt von Werner Patzelt zunächst anders geplant. Die Bürgerbewegung hatte ursprünglich eine Podiumsdiskussion mit ihm angekündigt. Als weitere Diskutanten waren nach SZ-Informationen unter anderem Vertreter aus dem Rathaus und vom Bautzener Willkommensverein angedacht. Alexander Ahrens ist am Donnerstag zwar als Gast vor Ort, hört aber nur den Vortrag von Werner Patzelt und verschwindet, als die Fragestunde beginnt.
Inmitten der Fragerunde schickt sich indes ein weiterer Besucher an zu gehen. „Ich gehe jetzt nach Hause, und ich rate Ihnen, Sie sollten auch bald Ihren Hut nehmen“, ruft der Mann in Richtung Podium. Professor Werner Patzelt bleibt sitzen, während der Reinrufer tatsächlich den Saal verlässt. Auch ein klares Zeugnis der eingangs erwähnten Zivilcourage.

 

 

Bildquelle: https://www.sz-online.de/nachrichten/bilder/der-dresdner-politikwissenschaftler-professor-werner-2001818h.jpg

 

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