Was ist ein Volk?

Was ist ein Volk?

Den nachstehenden Vortrag hielt ich am 3. November 2015 im Rahmen einer Vortragsreihe der Konrad-Adenauer-Stiftung im Dresdner Stadtmuseum. Inzwischen ist er erschienen in Joachim Klose / Rüdiger Voigt, Hrsg.: Grenzen in Zeiten der Entgrenzung, Dresden 2017 (Thelem), S. 29-40. Weil der Text für aktuelle Debatten um unsere Einwanderungs- und Integrationspolitik nützlich sein kann, mache ich ihn hier auch einem breiten Leserkreis zugänglich.

 

I. Ein triviales Thema?

Weiß denn nicht jeder, was ein Volk ist? Mit großer Selbstverständlichkeit verwenden wir diesen Begriff in den verschiedensten Zusammenhängen. Wir sprechen von Volksfesten, Volkskunst oder Volksmusik und wissen, dass von Dingen die Rede ist, die mit ziemlich normalen Leuten zu tun haben. Oft fügen wir solchem Sprechen sanften Spott bei, wenn wir etwa von „volkstümlicher Musik“ handeln. Und in den Bereich des Kabaretts gelangen wir mit der Frage, ob denn „das Volk“ wirklich so „tümlich“ wäre. Auch entlegenere, ja altertümliche Wortverwendungen wie die Rede vom „gemeinen Volk“ oder vom verheerenden „Kriegsvolk“ versteht so gut wie jeder im gemeinten Sinn. Außerdem nutzen wir den Begriff des Volks ganz ernsthaft und analytisch – etwa, wenn wir bei der Bestimmung dessen, was ein „Staat“ sei, dessen Kernelemente mit Georg Jellinek (1851-1911) als „Staatsvolk“, „Staatsgebiet“ sowie „Staatsgewalt“ bezeichnen. Im Übrigen war, dank etwas überschüssiger und auf freundliche Rahmung von Parteiherrschaft bedachter Begriffsprägung, die DDR eine „Volksdemokratie“ mit und „Nationaler Volksarmee“.

Schon die DDR-Begriffe legen allerdings nahe, dass es sich beim Volksbegriff wohl doch um keine Trivialität handelt, die sich in politischer Naivität verwenden lässt. Weitere Erkundungen des Begriffsgebrauchs zeigen klar, dass die Rede vom Volk durchaus verfänglich sein kann. Klingt „Volk“ nicht übel nach „völkisch“? Und führt „völkisch“ nicht sofort zur Gegenüberstellung von „unserem Volk“ und den „Fremdvölkischen“? So dass der Volksbegriff unvermeidlich auch für Rassismus steht? Und haben nicht die Nationalsozialisten den Volksbegriff ohnehin für alle Zeiten dadurch vergiftet, dass sie einen „Völkischen Beobachter“ publizierten und den „Volksgerichtshof“ errichteten? So dass heute jedem klar sein muss, in wie schlimme Richtung denkt, wer sich auf das – gar noch „gesunde“, also nicht „artfremd-ungesunde“ – „Volksempfinden“ beruft?

Zum Problem wird freilich, dass wir Demokraten sein wollen. Als solche dürfen wir weder den „demos“ grundsätzlich abwerten noch dessen deutsches Begriffswort „Volk“ ganz aus unserem Sprachschatz verdrängen. Gottlob haben wir über den lateinischen Begriff für das Volk – nämlich „populus“ – ein Ventil gefunden, um allfällige Probleme mit diesem „großen Lümmel“ anzusprechen. Als solcher kommt nämlich den politischen, journalistischen und kulturellen Eliten immer wieder das – im doppelten Wortsinn – „gemeine Volk“ vor. Denn „Populismus“ empfinden wir als etwas Schlimmes, während uns „Demokratie“ nach dem ewig Guten klingt. Mit Populismus und Demokratie, also einem hässlich-bösem Bruder und seiner holden Schwester, haben wir jedenfalls ein bequemes Begriffspaar gefunden, mit dem wir zwar die Demokratie bewerben, doch übles Volk von ihr abtrennen können. Und im Notfall haben wir ja – vom lateinischen Wort „plebs“ kommend – auch noch den Begriff der „Plebejer“, obendrein – verballhornt von „populus“ – außerdem den Begriff des „Pöbels“, um nun wirklich alles abzuspalten, was uns am Volk missfällt.

Zudem verfügen wir über den Begriff der „Bevölkerung“. Ursprünglich erfasste er den Prozess der „Aufvolkung“. Im 17. und 18. Jh. wurde er mit dem französischen Fremdwort „Peuplierung“ bezeichnet, und heute noch wirkt er im Begriff der „Bevölkerungspolitik“ nach. Inzwischen dient „Bevölkerung“ als harmloser Ersatzbegriff für „Volk“, ja mag eines Tages auch noch in Prägungen wie Bevölkerungsabstimmungen, Bevölkerungsfest und Bevölkerungsmusik geraten. Und wem es heute als Peinlichkeit oder Provokation Zugewanderter gilt, auf dem Berliner Reichstagsgebäude die Aufschrift „Dem Deutschen Volke“ lesen zu müssen, der findet in dessen nördlichem Lichthof in völlig gleichen Lettern den Schriftzug „Der Bevölkerung“. Dann muss er sich gewiss nicht länger sorgen, Nicht-Deutsche könnten allein schon durch Verwendung des Volksbegriffs aus unserer Gesellschaft ausgeschlossen sein.

In Nordrhein-Westfalen wurde durch Verfassungsänderung inzwischen auch noch eine andere Art der Diskriminierung Nicht-Deutscher beseitigt. Die fand sich bislang im Amtseid von Regierungsmitgliedern. Nicht länger aber sollen sie „dem Wohle des deutschen Volkes“ ihre „ganze Kraft“ widmen, sondern allein dem Wohl „des Landes Nordrhein-Westfalen“. Auf diese Weise verbleiben vom Staat noch das Staatsgebiet sowie die – von den Regierungsmitgliedern ausgeübte – Staatsgewalt; vom Staatsvolk ist hingegen nicht mehr die Rede. Wie zu absolutistischen Zeiten ist somit die ganze Bevölkerung eines Territoriums der Adressatenkreis wohlmeinender Staatsgewalt, während kein besonderer Ausdruckswert mehr auf jene gelegt wird, von denen in der Demokratie doch alle Staatsmacht auszugehen hat: von den Angehörigen des Staatsvolks.

Es ist aber nicht allein, ja wohl auch nicht mehr vorrangig die Abwehr nachwirkenden Nazi-Gifts, was solche Begriffskosmetik hervorruft. Es sind vielmehr jene Herausforderungen, die eine Einwanderungsgesellschaft an unser Staats- und Demokratiedenken stellt. Mit Entstehung des neuzeitlichen Staates konnten aus Untertanen durchaus Bürger werden, mit dem Aufkommen von Demokratie dann auch noch unmittelbare Träger der Staatsgewalt. Das war deshalb kollektiv möglich, weil vor der Entstehung heutiger Mobilität nur vergleichsweise wenige Nicht-Staatsangehörige auf dem jeweiligen Staatsgebiet lebten. Doch ganz anders ist das in jetzigen Zeiten freier Binnenmigration in der EU sowie großer Zuwanderung in unsere Staaten. Hat unter solchen Umständen die Regierung eines Landes wirklich nur das Wohl des Staatsvolks zu fördern? Oder hat sie sich, gerade im auf sich stolzen Sozialstaat, nicht auch um das Wohl derer zu kümmern, die zwar zweifellos zur Bevölkerung des Landes gehören, doch zum Teil des Staatsvolkes nicht werden wollen oder nicht werden können?

Dass eine Regierung sich nicht allein des Staatsvolks, sondern der gesamten Landesbevölkerung annehmen soll, kann man sicher bejahen. Doch auch dann entgeht man bohrenden Anschlussfragen nicht. Denn warum soll ein Staatsvolk eigentlich offen für Zuwanderer sein, die ihrerseits nicht Teil des Staatsvolkes werden wollen? Und wenn es den politischen Wunsch gäbe, dass – beispielsweise – „Syrer in Deutschland“ über „deutsche Syrer“ zu „syrischen Deutschen“ würden: Welches Selbstbild bräuchten dann die Deutschen, um es für Zuwanderer überhaupt anziehend zu machen, einer der ihren werden zu wollen? Kann es wohl ein Tag der Freude sein, an dem man zu einem Deutschen wird? Ist es nicht eher belastend, zum Volk der Richter und Henker zu gehören? Wäre also der Integration unserer Einwanderungsgesellschaft nicht eher gedient, wenn man statt vom „deutschen Volk“ von der „bereits im Land lebenden Bevölkerung“ spräche, um so die seelischen Eintrittsschwellen möglichst niedrig zu halten? Und würde es die Beheimatung von Arabern oder Afghanen womöglich erleichtern, wenn man die Verantwortung für die Lehren aus dem Holocaust zur Sache allein der „Biodeutschen“ erklärte, nicht aber auch zu der von bloßen „Passdeutschen“? Doch erfüllte nicht allein schon die Unterscheidung von Bio- und Passdeutschen ebenso den Tatbestand des Rassismus, wie ihn einst die Nürnberger Gesetze mit ihrer Unterscheidung von Juden und Reichsbürgern praktizierten?

Man erkennt unschwer: Die Frage, was ein Volk sei, ist durchaus nicht trivial. Sie führt uns vielmehr mitten hinein in aktuelle politische Debatten um das angemessene Sprechen über unsere Einwanderungsgesellschaft, über deren kulturellen Kitt, sowie über jene politischen Entscheidungen, von deren Stimmigkeit die Sicherung gesellschaftlichen Zusammenhalts in Deutschland abhängt.

 

II. Nachbarbegriffe von „Volk“

Oft lässt sich ein in Frage stehender Begriff klarer entfalten, wenn man von seinen Nachbarbegriffen ausgeht. Einer von ihnen ist jener der „Nation“. Vom lateinischen Wort „nasci“ für den Geburtsvorgang kommend, verweist „Nation“ auf Zusammengehörigkeit dank gemeinsamer Abstammung. Die muss allerdings nicht allein biologisch aufgefasst werden, sondern lässt sich auch kulturell verstehen. An mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Universitäten meinte man jedenfalls mit „nationes“ jene Gruppen von Studierenden mit gemeinsamer Herkunft, die untereinander Bruderschaften bildeten. An der Prager Universität des 14. Jh. waren das die böhmische, bayerische, sächsische und polnische Nation, in Paris die englische, normannische, pikardische und gallische Nation.

Ein anderer Nachbarbegriff zu „Volk“ ist jener der „Ethnie“ oder „Völkerschaft“. Ihn verwendet man meist für Stämme oder Stammesverbünde ohne eigenen Staat. Dann hat der Begriff des „Staatsvolks“ ohnehin keinen Sinn. Doch oft hat ihn auch nicht jener der Nation, weil dieser eine Verbindung eines besonderen kulturellen Profils mit territorialer Abgrenzung nahelegt, wie sie ohne verlässliche Staatsgewalt kaum entsteht.

Ein weiterer, heute ungern verwendeter Nachbarbegriff ist jener der „Rasse“. Biologisch halbwegs korrekt nutzt man ihn für Tiere mit untereinander sehr ähnlichem Bauplan, sofern sich diese – warum und unter welchen Umständen auch immer – in für wichtig gehaltenen Merkmalen unterscheiden. In diesem Sinn hat niemand ein Problem, von Hunde- oder Pferderassen zu sprechen. Bei Menschen hielt man das bis zu den im 20. Jh. begangenen Verbrechen des Staatsrassismus ebenso. Dann legte heftige Kritik an der inakzeptablen Haltung des Rassismus nahe, bereits durch Verzicht auf einen Begriff für ehedem „Rassisches“ jeden auf Menschen bezogenen Rassismus als gegenstandslos zu erweisen. Zwar kann auch heute noch jeder einen Menschen asiatischer Abstammung aufgrund seines Aussehens von einem Menschen mit afro-afrikanischer oder mitteleuropäischer Abkunft unterscheiden. Doch man hat eingesehen, dass die entsprechenden phänotypischen Unterschiede mitsamt ihren genetischen Ursachen für alle kulturellen und sozialen Diskurszusammenhänge viel zu nebensächlich sind, als dass es sinnvoll wäre, weiterhin von unterschiedlichen menschlichen Rassen zu sprechen.

 

III. Was ist ein Volk?

Ein Volk ist anscheinend „irgendwie mehr“ als eine Völkerschaft oder Ethnie und gewiss „irgendwie weniger“ als das, was früher der Begriff der Rasse bezeichnete. Die Rede vom „französischen Volk“ hat etwa viel mehr in sie eingewobene Kontexte und Narrative als die Rede vom Volk der Yoruba, das eher einer Sprachgruppe ähnelt. Auch gibt es unter den – wenigstens im Vergleich mit dem Aussehen von Asiaten oder Afrikanern – untereinander ziemlich gleich aussehenden Europäern zweifellos unterschiedliche Völker, während man den gemeinsamen Staatsvölkern Brasiliens oder der USA unschwer ihre recht unterschiedlichen Abkünfte ansehen kann.

Am nächsten steht dem Volksbegriff noch jener der Nation. Das hat durchaus tiefere Gründe als den, dass im späten 19. Jh. die zugehörigen Adjektive „völkisch“ und „national“ wie gleichbedeutend gebraucht wurden. Einesteils meint nämlich „Volk“ – wie „Nation“ – eine Gruppe von Menschen mit gemeinsamer Abstammung. Andernteils aber meint „Volk“ auch – ebenso wie der französische Nationsbegriff – eine Gruppe von Menschen, die zusammengehören will, und zwar ganz unabhängig von der jeweils individuellen Abstammung. Entlang beider, recht verschiedener Begriffe vom „Volk“ lässt sich im Grunde alles entfalten, was es darüber zu bedenken gilt, wie sich Einzelmenschen zu Völkern einen.

 

1. „Volk“ als Abstammungsgemeinschaft

In aller Selbstverständlichkeit verwenden wir den Begriff „Volk“ sogar beim Blick auf manche Tiergruppen, zumal auf staatenbildende Insekten wie Bienen. Und weil Menschen – was immer sie sonst noch sein mögen – zweifellos hochentwickelte Tiere sind, gibt es auch keinen zwingenden Grund, das in solch anthropomorpher Deutung Erkennbare nur vom Menschen in Richtung auf Tiervölker zu lesen. Im Gegenteil verstehen wir unsere eigene Spezies besser, wenn wir bereits bei (anderen) Tieren vorkommende Inklusions- und Exklusionsformen auch als unseren eigenen volksbildenden Praxen zugrundeliegende, da evolutionär entstandene und jedem Individuum schon angeborene Fähigkeiten begreifen.

Wesentlich weniger reflexionsaufwendig verwenden wir den Volksbegriff etwa bei der Rede vom „Volk Israel“. Analytisch höchst aufschlussreich, weil sich seit fast drei Jahrtausenden auch in geographischer Zerstreuung als Einheit empfindend, umfasst dieses Volk gemäß den Vorstellungen seiner Angehörigen alle jene, die von den „Stammvätern“ Abraham, Isaak und Jakob abstammen. Weil man gemäß halachischer Orthodoxie nur dank Geburt durch eine jüdische Mutter selbst zum Juden wird, kann man sich diesem bewusst über Abstammung definierten Volk auch nicht einfach anschließen. Vielmehr muss man als Konvertit, ja mitunter selbst als Sohn eines jüdischen Vaters ohne jüdische Frau, ein besonderes Aufnahmeritual durchlaufen. Auch multiethnische Nachbarschaftsverhältnisse werden in einer solchen Denkweise ganz über die – und sei es fiktive – Abstammung geschaffen. Nach jüdischen Narrativen zeugte nämlich der Stammvater Abraham seinen ersten Sohn Ismael mit Hagar, der ägyptischen Sklavin seiner Frau Sara. Als die ihm später den gemeinsamen Sohn Isaak gebar, verstieß Abraham Ismael. Der lebte dann in der Wüste, heiratete eine Ägypterin und wurde dann ebenso zum Stammvater aller Araber, wie Isaak zum Stammvater aller Juden wurde.

Die nicht-religiöse, technische, gerade im Rahmen von Staaten triftige Bezeichnung für den Erwerb der Zugehörigkeit zu einem (Staats-)Volk kraft Abstammung lautet „jus sanguinis“ (von lateinisch sanguis, d.h. Blut), zu Deutsch: „Abstammungsprinzip“. Gemeint ist damit nicht nur, dass die Zugehörigkeit zu einem (Staats-) Volk – wie eigentlich überall – auch von den Eltern auf die Kinder vererbt wird, sondern dass solches Erben der Zugehörigkeit auch der einzige „normale“ Weg ist, um die entsprechende Staatsbürgerschaft zu erlangen. Dieses Abstammungsprinzip führte das multiethnische Preußen 1842 ein, um ein klares Kriterium für die Staatsangehörigkeit seiner Bürger zu haben. Bis heute gilt es das Abstammungsprinzip in der aus vier sprachverschiedenen Völkerschaften bestehenden Schweiz, und von 1914 bis 2000 bestand es auch im seit je mehrstaatlichen Deutschland. Vor 1914 wurde die deutsche Bundesangehörigkeit aus der – ererbten – Staatsangehörigkeit der Gliedstaates des Reiches abgeleitet, und zwar gerade so, wie sich heute die EU-Bürgerschaft aus der Angehörigkeit zum Staatsvolk eines Mitgliedstaates ergibt.

Die – in der Praxis nur ergänzende – „Alternative“ zum Abstammungsprinzip ist das „Geburtsortsprinzip“, das „jus soli“ (von lateinisch solum, d.h. Boden). Nach ihm gehört zum Staatsvolk, wer – unter Wahrung bestimmter Bedingungen – auf dem Territorium eines Staates geboren ist. In Deutschland gehört zu diesen Bedingungen, dass ein Elternteil seit einer gesetzlich festgelegten Anzahl von Jahren das Aufenthaltsrecht in Deutschland besitzt. Deutscher wird man auf diese Weise, auch ohne von einem Deutschen abzustammen. Dennoch vererbt sich die Staatsbürgerschaft der Eltern oder des für die Staatszugehörigkeit relevanten Elternteils, und zwar gerade so, wie auch im Ausland geborene Deutsche die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten, falls einer ihrer Elternteile deutsch ist. Also entstehen durch das Geburtsortsprinzip häufig doppelte, ihrerseits in der Regel vererbbare Staatsbürgerschaften, und zwarteils mit echten, teils mit imaginierten Anschlussproblemen. Im Grunde entstammt das Geburtsortsprinzip der unfreiheitlichen Tradition der Schollengebundenheit von Bauern, bei denen sich die Schollenbindung – zum Vorteil der Feudalherren – auf deren Kinder vererbte. Erst mit der heute selbstverständlichen Freizügigkeit verbunden, wirkt das Geburtsortsprinzip liberal.

Stellt man die Folgen von Abstammungs- und Geburtsortsprinzip einander gegenüber, so zeigen sich rasch Schwierigkeiten. Es ist gar nicht so leicht, Völker einfach nach jenen Territorien zu bestimmen, auf denen man geboren wird, also: im Wesentlichen nur Staatsvölker als Völker anzusehen. In Deutschland scheiterte dies jahrhundertelang daran, dass bis zur kriegsbedingten millionenfachen Flucht und Vertreibung von Deutschen deren Siedlungsgebiet viel größer war als das von den jeweiligen deutschen Staatsgrenzen umschlossene Territorium. Zu solchem staatsübergreifenden Zusammengehören aber passte bestens ein kulturalistischer Nationsbegriff, der am Abstammungsprinzip verankert war. Ähnliches gilt für sämtliche nationale Minderheiten in Staaten mit anderem Titularvolk. Für jene Polen, die während der Teilungszeit ihres Landes in Preußen, dem Habsburgerreich oder in Russland lebten, erschöpfte sich ihre nationale Identität ja auch nicht in ihrer jeweiligen Staatsangehörigkeit oder Untertanenrolle. Gleiches gilt für die Ungarn im heutigen Rumänen – und natürlich auch für viele Türken mit deutschem Pass in unserem Land. Das Geburtsortsprinzip liefert also nicht rundum überzeugende Antworten auf die Frage, wie wohl jenes nachhaltige Zugehörigkeitsgefühl entstehen mag, das ein „Volk“ von einem „Staatsvolk“ unterscheidet.

Nicht ohne Problem ist freilich auch das Abstammungsprinzip. Einesteils lässt es bei nationalen Minderheiten wichtige Fragen der Loyalität zum Aufenthaltsstaat offen, dessen Staatsbürgerschaft man besitzt, ohne sich mit der Titularnation zu identifizieren. Die Tschechoslowakei löste dieses Problem nach dem Zweiten Weltkrieg durch die zwangsweise Aussiedlung der Deutschen als „Verräter am eigenen Staat“, nämlich beim Anschluss des Sudentenlandes ans Reich sowie im „Reichsprotektorat Böhmen und Mähren“. Polen verfuhr auf die gleiche Weise mit der auf seinen fortan annektierten Westgebieten nicht länger erwünschten „Ex-Bevölkerung“. Andernteils sind die Übergänge zwischen Abstammungsprinzip und Rassismus fließend. In gewisser Weise kann man sogar das Abstammungsprinzip selbst rassistisch nennen. Das zeigt sich etwa beim Blick auf die Nürnberger Gesetze von 1935, welche die jüdischen Deutschen genau ihrer Abstammung wegen um die deutsche Staatsangehörigkeit sowie um die mit ihr verbundenen Rechte brachten. Als „völkisches Relikt“ wurde das Abstammungsprinzip denn auch in Deutschland solange kritisiert, bis im Jahr 2000 das Geburtsortsprinzip eingeführt wurde.

In noch weitergehende Paradoxien führt die Frage, ob wohl als Maxime deutscher Integrationspolitik akzeptabel wäre, nach Deutschland geflüchtete Syrer und deren Nachkommen zunächst zu „deutschen Syrern“ und dann zu „syrischen Deutschen“ werden zu lassen. Einesteils könnte man eine solche Maxime liberal nennen, weil sie als Mitdeutsche auch Menschen ganz anderer Abkunft willkommen heißt. Andernteils kann sie auch als rassistisch gelten, weil sie irgendwie unterstellt, auf Dauer in Deutschland zu leben und „bloß Syrer“ zu sein, wäre nicht in Ordnung. Gerade beim Nachsinnen über jene Frage wird klar, dass zu einem Volk schon viel mehr gehören kann als bloß die Abstammung. Nämlich der Wille, ein Teil dieses Volkes zu sein.

 

2. „Volk“ als Willensgemeinschaft

Fachbegriff dafür ist jener der „Gesinnungsnation“, ihrerseits zusammengehalten – in den Worten von Ernest Renan (1823-1892) – durch ein „plébiscite de tous les jours“. Frankreich definiert sich seit der Revolution als eine solche Gesinnungsnation und akzeptiert jeden als Franzosen, der durch Sprache und kulturelle Teilhabe bekundet, zum französischen Volk gehören zu wollen. Die Anschlussfrage lautet dann freilich: Was kann dazu anhalten, zu einem Volk gehören zu wollen und das auch – durch konkludentes Verhalten – Tag für Tag unter Beweis zu stellen? Im Wesentlichen gibt es drei plausible Antworten auf diese Frage.

Erstens können gemeinsame Werte und Verfassungsregeln zum zusammengehörenden Volk einen. „Verfassungspatriotismus“ heißt das in Deutschland seit Dolf Sternberger (1907-1989) und Jürgen Habermas (1929- ). Solcher nicht auf gemeinsame Abstammung, sondern auf eine einvernehmliche Ordnung des Zusammenlebens ausgerichteter Patriotismus wird heute als moderne, freiheitliche Alternative zum „völkischen Integrationsprinzip“ angesehen. Tatsächlich verließen sich schon Frankreichs Revolutionäre erfolgreich auf die Anziehungskraft der Verfassungsprinzipien von „liberté – égalité – fraternité“ sowie auf deren Symbolisierung durch die Trikolore. Vordenker all dessen war Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) in seiner Abhandlung über den Gesellschaftsvertrag. Im zweiten Kapitel dieses politisch so einflussreichen Buches ließ er das Staatswesen aus der wechselseitigen Selbstübergabe von Einzelmenschen gleich welcher Herkunft entstehen, die durch eben den Verzicht auf Selbstsucht sowie durch Unterstellung unter eine Art „Gemeinwillen“ eine bestandsfähige Solidargemeinschaft schüfen. Am Ende des vierten Kapitels Kapitel erläutert Rousseau die transzendenten Grundlagen bzw. Gewährleistungen eines durch derlei „soziale Transsubstantiation“ geschaffenen Staatsvolkes. Seiner Ansicht nach braucht es eine Art „Zivilreligion“, ihrerseits ganz wesentlich bestehend aus dem Glauben an einen guten Gott, an das Fortleben nach dem Tode sowie an die dann unweigerliche Bestrafung aller Übeltäter. Nur das gewährleiste nämlich ein selbstloses, innerlich ehrliches Verhalten im Staatswesen.

Tatsächlich muss gerade eine Willens- und Gesinnungsnation dafür sorgen, dass die zum Staatsvolk einenden Geltungsansprüche von Werten und Ordnungsprinzipien nicht nur leere Worte bleiben, sondern die Staatsbürger auch von innen her prägen. Dazu verhilft es, den verbindenden Werten und Ordnungsprinzipien symbolischen Ausdruck zu verleihen und sie – durch Literatur und Bildkunst, durch Architektur und politische Liturgien – in emotionale Tiefenschichten der Bevölkerung einzutragen. Vermieden werden muss die bloße Simulation einer Zugehörigkeit zum Volk sowie Schwarzfahrerverhalten, das die anderen Mitglieder der Solidargemeinschaft ausnutzt. Schon Konfuzius (551-479 v. Chr.) empfahl denn auch staatliche Symbole und Riten zur Stiftung von Zusammengehörigkeit quer über die Gesellschaft sowie zwischen Regierenden und Regierten. Gerade in einer Willens- und Gesinnungsnation, obschon auf den ersten Blick auf „moderneren“ Grundlagen als eine Abstammungsnation beruhend, darf man deshalb die „Entsakralisierung“ des Staates nicht zu weit treiben. Vielmehr muss der auf tägliche Willensentscheidungen beruhende Gemeinsinn stets neu gestiftet und bekräftigt werden.

Zweitens kann man das Gefühl, in einer Art Schicksalsgemeinschaft zusammenzugehören, durch gemeinsame kulturelle Kanons und imaginierte Historien zu schaffen versuchen. Im 19. Jh. „erfanden“ beispielsweise viele Historiker durch passende Interpretation der Quellen zur Völkerwanderung und zum europäischen Frühmittelalter ihre zeitgenössischen Völker gerade so, als hätten diese eine Kollektivbiographie, die ungebrochen bis zum Ende der Antike, ja noch weiter  zurückreiche. Vielfältige Historienmalerei mit Schlüsselszenen aus der „Volkwerdung“ und „Volksgeschichte“, mit weiterem Sinngehalt aufgeladen durch beherbergende historisierende Bauten, beglaubigten derlei Geschichtsfiktionen dann kunstvoll von der Gegenwart her.

Funktional durchaus äquivalent ist die Verlegung der einenden Perspektive aus der Geschichte ins Transzendente. Die USA sind dann „ihrem Wesen nach“ ein „land of the free and home of the brave“. Also war im Grunde „immer schon“ zumindest ein Gesinnungsamerikaner, wer sich den „free and brave“ zurechnete. Kaum anders war der Versuch der Franzosen angelegt, ihr Kolonialreich kulturalistisch zu einen. Ihre „mission civilisatrice“, ihrerseits säkularisiert in der Tradition des christlichen Missionsgedankens stehend, hatte ja als ihren Fluchtpunkt die Zuschreibung, jeder wirklich gebildete Mensch sei, und zwar eben deshalb, „ein Franzose“ – und habe sich allenfalls noch nicht bewusst dieser grande nation zugehörig erklärt.

Drittens kann Einung aus gemeinsamer Abgrenzung entstehen und dadurch jene Freund/Feind-Beziehungen schaffen, die meist in den eigenen Reihen ein besonders starkes Zusammengehörigkeitsgefühl bewirken. Solche Abgrenzung kann sich gewiss biologisch-rassistisch motivieren, also die subjektdefinierenden Grenzen entlang von Abstammungslinien ziehen. Ebenso kann sie kulturell begründet sein und sich – im Endeffekt – durch „kulturalistischen Rassismus“ stabilisieren. Dann stehen etwa Griechen gegen Barbaren, christliche Spanier gegen menschenopfernde Azteken. Ferner können solche Abgrenzungen Teil der kulturellen Selbstverständlichkeiten einer Bevölkerung sein, wie in den US-Südstaaten bis weit in die 1960er Jahre hinein der Rassismus von Weißen gegenüber ihren afro-amerikanischen Mitbürgern. Abgrenzungen können aber auch von den Eliten vorgegeben werden, in der Bevölkerung allerdings wirkungslos bleiben. So verhielt es sich in der DDR mit der Erfindung einer deutschen „sozialistischen Nation“, die mit der in Westdeutschland fortbestehenden „bürgerlichen Nation“ nichts mehr gemein habe. Gegen diese richteten sich sogar ausdrückliche Bemühungen einer „Erziehung zum Hass“, freilich ohne sonderlichen Erfolg. Außerdem können derlei Abgrenzungen alles Mögliche zwischen plausibel und ganz unplausibel sein. Davon abhängig entwickeln sie dann recht unterschiedliche Inklusions- und Exklusionskraft: „Österreicher gegen Deutsche“ hat inzwischen Sinn, vor allem in manchen Sportarten; hingegen wirkt „Hessen gegen Niedersachsen“ wie an den Haaren herbeigezogen.

Am wirkungsvollsten sind solche Abgrenzungen, wenn sie als wirklich wichtig wahrgenommene Freund/Feind-Beziehungen ausdrücken. „Muslime“ können dann mit großem Zusammengehörigkeitsgefühl gegen „dekadente Ungläubige“ stehen, ja ihre Umma wird als „Haus des Friedens“ (Dār al-Islām) dem Dār al-Ḥarb vorzuziehen sein, also jenem „Haus des Krieges“, worin sämtliche noch nicht der Umma zugehörigen, in diese erst noch hineinzuführenden Völker leben. Funktional äquivalent war einst die erbfeindschaftliche Entgegensetzung von „Trägern deutscher Kultur“ und „Verfechtern welscher Zivilisation“, desgleichen die von „kulturtragenden Germanen“ und „rückständigen Slawen“. Klassisch rassistisch wurden solche Gegenüberstellungen aufgeladen, wo es – wie leider allzu oft und lange – um „schaffende Arier“ und „raffende Juden“ ging, oder um die „Last des weißen Mannes“ bei der Domestizierung „schwarzer Wilder“. Indem hier auch zunächst ganz funktionelle, einfach politisch motivierte Freund/Feind-Abgrenzungen nahtlos in zunächst kulturellen und dann biologischen Rassismus übergehen, erweist sich einmal mehr: Auch „Willensvölker“ können vom Abstammungsprinzip nicht lassen.

Das hat im Übrigen eine sehr tiefreichende, von Politikwissenschaftlern nur ungern betrachtete Wurzel. Gut gesicherte Ergebnisse soziobiologischer Forschungen legen nämlich nahe, dass Menschen schon von ihrer – im Lauf der Evolution entstandenen – Natur her so angelegt sind, dass Sozialphänomene wie (reziproker) Altruismus, Gemeinschaftsgefühl und Gemeinsinn eine Grenze zwischen „uns“ und „den anderen“ voraussetzen. Das aber heißt: Gerade Abgrenzungen mitsamt der Unterscheidung von Freund und Feind sind „immer schon“ die Voraussetzungen für Zusammenhalt, Arbeitsteilung und Solidarität. Gewiss kann man solche soziobiologisch-tiefenstrukturellen Prägungen menschlichen Inklusions- und Exklusionsverhaltens kulturell überlagern. Viele Religionen unternehmen das ausdrücklich, ebenso der aufklärerische Humanismus. Doch obschon die Natur jegliche Kultur gleichsam an langer Leine führt, spricht wenig dafür, dass man durch kulturelle Übersteuerung sämtliche angeborenen phobischen oder moralischen Intuitionen in jede gewünschte Richtung umlenken oder gar wirkungslos machen könnte. Insbesondere Territorialität mit den ihr zugehörigen Grenzmarkierungen scheint – wie auch die Geschichte von Staats- und Bandenkriegen erweist – zur „Naturkultur“ von Menschen zu gehören. Gleiches gilt, wie die verbreitete Neigung für Uniformierungen aller Art zeigt, auch für das besondere Zusammengehörigkeitsgefühl von Gruppenmitgliedern, die untereinander ähnlich aussehen, im Vergleich mit anderen Gruppen aber sehr verschieden wirken. Und vor dem Hintergrund solcher Befunde sollten wir nie wieder den Gedanken abweisen, dass Solidarität gründlich unterminiert, wer Gruppen grenzenlos erweitert.

 

IV. Muss man sich überhaupt mit „Völkern“ befassen?

Offensichtlich führt unser Thema in ethische, geistesgeschichtliche und politische Untiefen. Sollten wir es deshalb auf sich beruhen lassen? – Besser wohl nicht. Der triviale Grund liegt darin, dass die Existenz von Völkern – und folglich das Erfordernis, sie zu studieren und die dafür nötigen Begriffe zu klären – allenfalls in Deutschland als fragwürdig gilt. Kaum einem Franzosen oder Polen, Italiener oder Schweden käme in den Sinn, Völker wären unwichtig – und das eigene erst recht. Also ist manches Unwohlsein bei der Befassung mit dem „Volk“, mit dessen Entstehung und auch Eigenschaften, wohl ein ziemlich deutscher Zug. Gut fassbar wird er beim Streit allein schon um die Angemessenheit einer Rede vom „deutschen Volk“, zusammengehalten gar durch „deutsche Kultur“. Im Grunde spiegelt sich hier das in zwei Weltkriegen und im Völkermord zerbrochene Verhältnis der Deutschen zur eigenen Nation. Kaum verborgen liegt ja hierzulande hinter der Frage, ob denn „Völker“ nichts weiter als willkürliche, ja überflüssige Sozialkonstruktionen wäre, eine viel brisantere Frage. Das ist die, ob es wohl weiterhin ein deutsches Volk brauche. Mit dieser Frage verbindet sich immer wieder eine Art Hoffnung darauf, Antworten wären gar nicht mehr erforderlich, weil es ohnehin bald kein deutsches Volk mehr gäbe; längst wäre nämlich eine multikulturelle und multiethnische Bevölkerung auf bundesdeutschem Staatsgebiet entstanden, und das sei auch gut so. Im Kern kreisen also viele deutsche Debatten zu „Volk“ und „völkisch“, ja überhaupt zur Einwanderungs- und Integrationspolitik, um deutsche Traumata, Neurosen und Hysterien.

Zweifach zeigt sich das. Einmal ist da der Diskurs um Deutschlands demographische Entwicklung. Unterschwellig wird in ihm gefragt: Ist es wirklich schlimm, wenn die Deutschen weniger werden – nach allem, was sie weltweit an schlimmen Dingen verursacht haben? Ist es nicht sogar gut, wenn Deutschland in Europa weniger Gewicht bekommt, und wenn in einer postnationalen Gesellschaft das Deutsche an Deutschland – da ewig gefährlich – endlich ausgedünnt wird? Zum anderen ist da die unter dem Motto „no borders, no nations“ darüber geführte Debatte, ob nicht gerade die Beseitigung von Grenzen sowie die damit einhergehende Niederlassungsfreiheit aller, die nach Europa gelangen, unsere zentrale Zukunftschance wäre. Braucht denn Deutschland überhaupt Grenzen – gleich ob geographische oder solche der Zuwanderung? Und wären nicht die humanitären Begleitschäden aller Versuche, solche Grenzen zu setzen, ungleich größer als jeder denkbare Gewinn?

Nun mögen Deutsche solche Diskussionen gerne so führen, wie es zur Stimmungslage ihrer weiterhin verletzten und verstörten Nation passt. Doch es gibt abseits deutscher Befindlichkeiten auch noch eine systematisch wichtige Diskussion darüber, was Völker sind oder eint. Die betrifft nicht zuletzt den Zusammenhang von Volk und Volksherrschaft, von demos und Demokratie. Unübersehbar ist nämlich, dass stabile Demokratie sich bislang nur im Gehäuse von Nationalstaaten entwickelt hat, und zwar meist von solchen, die das – auch kulturtradierende – Abstammungsprinzip gerade nicht als überholt abtaten, oder die das Geburtsortsprinzip mit dem zivilreligiösen Kultivieren einer Gesinnungsnation verbanden. Gerade um der Demokratie willen scheint es also die drei stabilen Ecksteine jeden Staats zu brauchen: Staatsgewalt, Staatsgebiet, Staatsvolk. Das wiederum führt zur Einsicht: Politisches Denken und eine politische Praxis, die am Staatsvolk oder an dessen Zusammensetzung, Reproduktion und Einung nicht interessiert sind, unterminiert die Demokratie. Wie aber Demokratie „jenseits des Nationalstaats“ funktionieren könnte, etwa in Staatenverbünden, das finden wir gerade durch Prozesse von Versuch und Irrtum heraus – und gewiss mit einer noch längeren Strecke von Irrtümern vor uns.

Gegen diesen demokratieanalytischen Hintergrund ist nun leicht zu erkennen, wie fahrlässig es ist, Grenzen für unwichtig, ihre Sicherung für überholt zu erklären – oder das Zuwandern wie eine Naturtatsache zu nehmen, gegen die man so wenig tun sollte wie gegen die Abfolge der Jahreszeiten. Leichtfertig ist es auch, mit politischen Zielen wie dem „Übergang zu Multikulturalität und Multiethnizität“ bloß zu spielen – gleich ob solches Spiel intellektuell, selbstdarstellerisch oder nur aus taktischen Gründen erfolgt. Die politische und ideologische Brisanz des hier in Aussicht Gestellten wird nämlich sofort sichtbar, wenn man die Rede vom „Übergang zur Multiethnizität“ durch den unverblümten Begriff der „Umvolkung“ ersetzt.

Leichtfertig ist es ebenfalls, dem Volk eine wenig kontrollierte und wenig kanalisierte Einwanderungspolitik wider dessen Mehrheitswünsche durch „Schaffung von Tatsachen“ gleichsam aufzuzwingen. Zu Recht verlangen Bürger dann etwa eine Parlamentsdebatte, die Thematisierung des Umstrittenen in Wahlkämpfen, ja vielleicht eine – wie auch immer auszugestaltende – Volksabstimmung. Zuvor mag es dazu kommen, dass derlei Unbehagen mit einer Einwanderungspolitik zugunsten zumal von Geflüchteten die Form einer Diskussion darüber annimmt, ob die für solche Politik verantwortlichen Regierungsmitglieder nicht ihren Amtseid strapazierten. Nach ihm haben sie nämlich den Nutzen gerade des deutschen Volkes zu mehren sowie Schaden von ihm zu wenden.

Noch ein weiterer Grund verlangt Antworten auf die Frage, wer genau in einer Demokratie „das Volk“ wäre. Immer wieder treten nämlich Demonstranten mit der Behauptung auf, gerade sie wären „das“ Volk. Natürlich gehört zur Meinungsfreiheit auch das Recht, sachlich Falsches zu behaupten – zumal dann, wenn man derlei selbst für richtig hält. Doch unter welchen Umständen behauptet in einer repräsentativen Demokratie wer zu Recht, „das Volk“ zu sein? Systematisch geht es hier um die Frage, wie aus dem Partikularwillen von Bevölkerungsteilen wohl der Gemeinwille einer repräsentativen Demokratie entstehen kann. Und politisch-aktuell geht es um die Frage, welchen Einfluss zuwanderungsablehnende Bevölkerungsteile in einer solchen Lage nehmen dürfen, in der es gerade keine parlamentarische oder an Wahlen gekoppelte Debatte über die Ziele und Grenzen der Einwanderung in einen bislang solidarischen Sozialstaat gibt. Insgesamt zeigt sich, dass Einwanderungs- und Demokratiepolitik eng zusammengehören. Demokratisches Denken aber kommt nicht ohne klare Vorstellungen darüber aus, was man als ein Volk verstehen und – auf mannigfache Weise – zum Volk einen sollte.

 

V. Perspektiven über Aktuelles hinaus

Nicht zuletzt sollte zum Nachdenken über Völker und über den Wert ihrer Stabilisierung ein Blick auf die Bevölkerungsdynamik unseres Planeten veranlassen. Die verbindet sich nämlich in größter Unwucht mit sozialen Schichtungslagen. Die Bevölkerungszahlen in den reichen Staaten des Nordens stagnieren oder schrumpfen; doch im armen globalen Süden wachsen sie an. Eines Tages werden sie dort über die ökologische und wirtschaftliche Tragfähigkeit ihrer Länder hinausgehen. Jetzt schon lassen sie immer wieder politische Strukturen zerbrechen und erzeugen große Migrationswellen. Und aufgrund der unzulänglichen Abschottbarkeit Europas gegenüber dem Migrationsdruck aus Afrika oder dem Mittleren Osten wird man – auf längere Frist – mit einer Transformation von Europas Kulturen zu rechnen haben. Die aber dürfte ein Ausmaß haben, wie es unser Kontinent letztmals bei der Eroberung und Besiedlung des Weströmischen Reiches durch die Germanen erlebte.

In solcher Lage stellt sich schon die Frage, wie man mit einem absehbaren Ende der eigenen Völker und mit einer tiefgreifenden Veränderung ihrer Kulturen umgehen möchte. Gewiss werden eines Tages die Enkel fragen, warum ihre Großeltern sich in Schlüsselzeiten wie den jetzigen gerade so verhalten haben, sie sie es eben taten. Sollen wohl Europas Völker jenen Wandel so hilflos über sich ergehen lassen wie einst die nordamerikanischen Indianer, als die Europäer kamen? Sollen sich Europas Eliten in regionalen Kulturinseln ihrem Schicksal fügen, wie weiland die römische Oberschicht im sich germanisierenden und barbarisierenden Gallien? Oder soll Europa den Versuch einer Selbstbehauptung wagen wie einst das Oströmische Reich? Das nämlich hielt in einer Mischung aus Abwehr und „Entwicklungshilfe“ jahrhundertelang die Germanen und Perser, die Bulgaren und Araber „draußen“ – und musste sich dann erst in einem weiteren, vierhundertjährigen Abwehrkampf den Seldschuken bzw. Osmanen geschlagen geben.

Noch ist unsere Zukunft für vielerlei offen. Wir sollten aber begreifen, dass in jetzigen Zeiten Weichenstellungen getroffen werden, die für kommende Jahrhunderte wichtig sind. Eben das müsste uns auch Anlass sein, gründlich – sowie über die jeweilige Aktualität hinaus – darüber nachzudenken, was wohl ein Volk wäre, und zumal das eigene; wie man Einheimische und Zuwandernde zu solidarischen Staatsvölkern einen kann; und Grenzen welcher Art denn für ein nachhaltiges Gemeinwohl in Europa wichtig wären. Weil unser Kontinent auch noch einen ungeheuren Schatz an humanitärem, kulturellem und staatsorganisatorischem Kapital zu hüten hat, wäre es schlicht ein großes Unrecht, in dieser Rolle zu versagen.

 

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