Populismus. Sachverhalt und richtiger Umgang
(ergänzte Version vom 30. November 2016)
I. Das Problem
„Populismus“ ist heute zum Kampf- und Ausgrenzungsbegriff geworden. Angehörige der etablierten politisch-medialen Klasse bezeichnen als „Populisten“ gern solche Bürger, die ihnen nach den vertretenen Inhalten oder hinsichtlich des an den Tag gelegten politischen Stils missfallen. Außerdem wird heute meist so argumentiert, als könne es allein „Populismus von rechts“ geben, oder als wäre nur der Rechtspopulismus, nicht aber auch der Linkspopulismus für eine vernunftgeleitete Streitkultur ungut. Empörte Bürger wiederum geben den Populismusvorwurf ironischerweise an die politisch-mediale Klasse zurück: Vor allem die verhalte sich populistisch, nämlich demagogisch, während man selbst doch nur auf wichtige, doch unbearbeitete politische Probleme hinweise. In einer solchen Lage wäre es hilfreich, einen analytischen, nicht polemischen Begriff von Populismus zu verwenden. Der soll im Folgenden umrissen werden und anschließend den Weg zum demokratiekonformen Umgang mit Populismus weisen.
II. Konkurrierende Begriffe von „Populismus“
Zu den Problemen beim Umgang mit dem Populismus gehört, dass recht unterschiedliche Sachverhalte mit dem gleichen Wort bezeichnet werden. Deshalb wird oft aneinander vorbeigeredet. Im Wesentlichen steht Populismus als Schimpfbegriff für leicht auch anderweitig benennbare Phänomene einem analytischen Begriff gegenüber, der präzis die Entstehungsbedingungen des von ihm bezeichneten Sachverhalts erfasst.
Populismus als Schimpfbegriff meint: Es wird beim politischen Diskurs mit Schlagworten und Vereinfachungen gearbeitet, auch mit Polemik; und es werden allenfalls – und oft vergröbert – Probleme benannt, nicht aber Lösungen für sie angeboten. Das unterscheidet dann Populisten von „seriösen Politikern“. Und somit ist Populismus dann auch kein besonderes Merkmal des „populus“ mehr, also des Volks, sondern auch von dessen Parteien und Politikern. Wenn diese dem schlichten Volk allzu sehr nach dem Munde reden, heißt man sie im vorwurfsvollen Ton „populistisch“ und mahnt sie zu Sachlichkeit oder Ernsthaftigkeit. Wer aber mit so kritisierten Leuten sympathisiert, der hält rasch dagegen, dass Politiker und Parteien in einer Demokratie nun einmal auf die Zustimmungsbereitschaft von wenigstens Teilen der Bevölkerung angewiesen sind, sich also stets in einer Weise ausdrücken müssen, die nicht nur Eliten, sondern auch einer einfache Leute anspricht. Deshalb könne demokratische Politik gar nicht ohne Populismus auskommen, ja wären erfolgreiche Parteien oder Politiker allesamt populistisch. Wer unliebsame Politiker oder Parteien als „populistisch“ kritisiere, habe also einfach „die Demokratie nicht verstanden“ oder rufe gleichsam „Haltet den Dieb!“, während er sich selbst öffentliche Unterstützung durch eigenen Populismus sichere.
Im Wesentlichen so diskutiert man heute über Populismus sowie mit dem Populismusbegriff. Unversehens hat sich bei solchen Argumenten der zunächst meist kritisch gemeinte Begriff „populistisch“ in den allzeit lobenden Begriff „populär“ verwandelt, ja erscheint das Praktizieren von „subtilem Populismus“ als wirkungsmächtiges Geheimnis demokratischer Führungskunst. Höchst Unterschiedliches fällt also unter denselben Begriff: Einesteils soll „Populismus“ abzuwehrende Störungen demokratischer Prozesse erfassen und deshalb etwas Schlechtes bezeichnen; andernteils klingt Populismus nach „Popularität“ und meint somit – gerade in einer repräsentativen Demokratie – etwas Gutes. Wenn aber ein gemeinsam verwendeter Begriff derart Gegensätzliches bezeichnet, dann muss die Fruchtlosigkeit von Debatten nicht wundern, die anhand seiner geführt werden.
Dabei braucht es solche Begriffsverwirrung doch gar nicht. Für schlagwortartiges, simplifizierendes und schimpfendes politisches Reden gibt es längst Begriffe wie „demagogisch“ und „polemisch“, auch wie „unfundiert“ oder „ideologisch“. Alles das kann politische Positionen populär machen. Es muss aber nicht so kommen, weil nämlich Demagogie und Polemik, Substanzlosigkeit und Ideologielastigkeit zumindest in einer pluralistischen Gesellschaft recht verlässlich zur argumentativen Gegenwehr führen. Auch die kann ihrerseits populär werden. Also verdankt sich die Überschneidung von Popularität und Populismus zwar bisweilen je besonderen Diskursumständen, ist aber gerade nicht auf eine Identität beider Sachverhalte zurückzuführen.
Natürlich gibt es am Populären immer wieder Abstoßendes, zumal mancherlei Züge von Schlagwortartigkeit, Übervereinfachung und wohltönendem Schimpfen. Für das alles aber stehen die so klaren Begriffe Demagogie, Polemik, Substanzlosigkeit und Ideologielastigkeit zur Verfügung. Es gibt keine Notwendigkeit, deren Differenzierungsmöglichkeiten zugunsten des Klammerworts „populistisch“ preiszugeben. Verzichtet man aber auf eine teils überflüssige, teils störende Verwendung des Begriffs „Populismus“, so wird dieser dafür frei, genau – und ausschließlich – jene Störungen repräsentativer Demokratie zu benennen, denen das Aufkommen gerade der Bewegungen, Parteien und Anführer geschuldet ist, die in breitem Konsens „populistisch“ genannt werden. Also sollte man die politische und politikanalytische Verwendung des Populismusbegriffs dahingehend korrigieren.
III. Demokratie und Populismus
Gerade Demokratie tut sich mit dem Populismus schwer. Der ist ja gleichsam ihr hässlicher Bruder. Beide Geschwister – das eine den griechischen, das andere den lateinischen Namen für das Volk tragend – sind sich darin einig, dass nicht auf Dauer anregiert werden sollte gegen das, was ein Großteil der Leute im Land für richtig hält. Populismus entsteht denn auch immer dann, wenn sich die Ansicht verbreitet, „die da oben“ wüssten über die Probleme und Meinungen „von uns da unten“ nicht mehr Bescheid. Oder sie nähmen „unsere Ansichten und Interessen“ nicht ernst, ja setzten sich ignorant-arrogant darüber hinweg. Dadurch öffnet sich in Gesellschaften und ihren Parteiensystemen Raum für neue Bewegungen oder Parteien, welche von sich behaupten, die „da unten“ gegen jene „da oben“ zu vertreten. Oft verkünden ihre Anführer auch noch, sie stünden – anders als die etablierten Eliten – für so etwas wie den „wahren Volkswillen“. Den stellen sich Populisten außerdem oft so vor, als gäbe es wirklich so etwas wie einen „gemeinsamen Volkswillen“ – und nicht bestenfalls eine breite Mehrheit für eine bestimmte Entscheidung.
Ob sich solcher Populismus eher links oder eher rechts ausdrückt, hängt einesteils von der Leichtigkeit ab, in der sich die zeitabhängig anstehenden Probleme im linken oder rechten Tonfall thematisieren lassen. Und andernteils hängt das Aufkommen von Links- oder Rechtspopulismus stark davon ab, ob im etablierten Parteiensystem eher linke oder eher rechte Positionen vorherrschen – was immer auch „links“ und „rechts“ im jeweiligen politischen Zusammenhang bedeuten mögen. Populismus wächst nämlich in Repräsentationslücken. Die aber entstehen genau dann, wenn es in der Bevölkerung Ansichten und Interessen gibt, die von den etablierten Parteien nicht, nicht mehr oder noch nicht vertreten werden.
IV. Populismusprävention
Die beste Populismusprävention wäre es deshalb, Repräsentationslücken gar nicht erst aufkommen zu lassen. Genau das entspricht auch dem Leitgedanken repräsentativer Demokratie. Was im Staatsvolk an Sichtweisen und Wünschen da ist, soll nämlich in öffentlichen Diskursen erörtert und in den Parlamenten vertreten werden. Bevor dann jene Mehrheit ermittelt wird, der in einer Demokratie zu folgen ist, haben die Repräsentanten aber eine wichtige Pflicht zu erfüllen. Sie besteht – so Ernst Fraenkel, Stammvater der bundesdeutschen Politikwissenschaft – darin, den „empirisch vorfindbaren Volkswillen“ zu jenem „hypothetischen Volkswillen“ weiterzuentwickeln bzw. zu „veredeln“, den die Leute vermutlich hätten, wenn sie sich ebenso gründlich und umsichtig mit den zu lösenden Problemen befassen könnten, wie das Berufspolitikern möglich und von diesen auch zu verlangen ist. Es geht bei politischer Repräsentation also gerade nicht ums Nachsprechen von Parolen.
Besteht solche „Weiterentwicklung des empirisch vorfindbaren Volkswillens“ aber wohl darin, dass Politiker behaupten, sie wüssten alles besser als die einfachen Leute und deren Wortführer? Das hätte viel mit obrigkeitsstaatlichem Verhalten, doch wenig mit Demokratie zu tun. Zwar wollen wir hoffen, dass Politiker das meiste wirklich besser wissen als jene, die von ihnen repräsentiert werden. Zumindest dürfen wir das als die Auftraggeber unserer politischen Klasse verlangen. Und natürlich dürfen wir Politiker am Wahltag dafür abstrafen, wenn sie uns den Eindruck wirklichen Besserwissens gerade nicht vermitteln. Doch selbst wenn Politiker tatsächlich manches besser wissen als die Bürgerschaft, entbindet sie das in einer Demokratie keineswegs von der Pflicht, mit ihren Auftraggebern – den Bürgerinnen und Bürgern – im Gespräch zu bleiben. Und natürlich gibt es keine Garantie dafür, dass die Erfüllung dieser Pflicht stets angenehm ist.
V. Kommunikationspflichten der politischen Klasse
Mit der Bürgerschaft im Gespräch bleiben, meint in der Praxis: Kenntlich hinhören, auch wenn man die Argumente längst kennt; vorgebrachte Behauptungen richtigstellen, auch wenn man das gegenüber anderen Gesprächspartnern schon tausendmal getan hat; für richtig gehaltene Positionen erläutern, auch wenn deutlich ist, dass der Gesprächspartner nicht folgen will. Es nutzt für das zu sichernde Vertrauen in repräsentative Demokratie ja nur wenig, wenn man ihr Funktionieren nur behauptet; vielmehr muss man dieses Funktionieren auch immer wieder vorführen – und zwar gerade im persönlichen sowie im medienvermittelten Kontakt zwischen dem „Volk“ und den „Volksvertretern“. Überhaupt vollzieht sich Legitimation allein durch Kommunikation. Wer diese abbricht, stellt somit die Arbeit an der Aufrechterhaltung repräsentativer Demokratie ein. Das freilich sollten wir weder für richtig halten noch praktizieren.
VI. Warum und wie mit Populisten reden?
Kann man aber als Politiker, oder als für unsere Demokratie eintretender Bürger, wohl jeden zornigen oder aufbegehrenden Mitbürger erreichen? Gewiss nicht. Kann man jeden überzeugen? Alle Erfahrung spricht dagegen. Macht es Freude, mit bockigen, trotzigen, verhärteten, verbohrten, eifernden Zeitgenossen über Politik zu streiten? Meistens nicht. Soll man es trotzdem tun? Ja sicher.
Erstens: Warum sollte man eigentlich nicht mit empörten Bürgern im Gespräch bleiben? Nimmt wohl unser Gemeinwesen dadurch Schaden, dass man zumal dessen dreisten, kurzsichtigen, mitunter auch übelwollenden Gegnern argumentierend in den Weg tritt? Und schädigt es die Demokratie nicht viel mehr, wenn man ihre Kritiker sich selbst überlässt – und sich dann hilflos wundert, wenn sie mit Opfergehabe ihresgleichen anziehen?
Zweitens: Hat wohl politischer Diskurs als einzige Aufgabe, Demokraten in ihrer demokratischen Gesinnung zu bestärken? Muss man nicht eher auf die hinreden, die am Abgleiten an die Ränder oder in den Radikalismus sind? Hat man nicht gerade in der Auseinandersetzung mit solchen Mitbürgern klarzumachen, was die Inhalte des Werte-, Verfahrens- und Ordnungskonsenses unserer pluralistischen Demokratie sind? Wo die akzeptablen Grenzen politischen Wollens, Redens und Tuns liegen? Und warum genau dort?
Drittens: Erfüllt nicht die Diskursverweigerung gegenüber Populisten oder gar Radikalen nachgerade den Tatbestand der politischen Feigheit? Des Desertierens aus den Reihen derer, die unsere wehrhafte Demokratie zu verteidigen haben – und zwar nicht in bloßer Simulation solchen Kampfs bei ungestörten Reden vor zustimmungswilligem Publikum, sondern Aug in Aug mit deren teils gutgläubigen, teils wütenden Gegnern?
Wer sich also nicht von geistiger Bequemlichkeit oder politischer Hasenherzigkeit leiten lässt, sondern – ausgehend von den Prinzipien unserer freiheitlichen Demokratie – seine Pflichten als stolzer Bürger unseres guten Gemeinwesens systematisch bedenkt, der kann wohl zu keinem anderen Schluss kommen als dem: Natürlich muss man auch mit Populisten reden – und zwar gerade dann, wenn man möglichst viele von ihnen wieder für den wünschenswerten, nämlich auf Sachargumente gegründeten politischen Streit zurückgewinnen will! Dann freilich darf man Populisten auch nicht wie Feinde behandeln, also wie Extremisten. Populisten sind schlicht Andersdenkende oder Schlichtdenkende, die ihre Freiheit dahingehend ausleben, dass sie – vom Standpunkt ihrer Gegner aus gesehen – sich sogar bei wichtigen Fragen halsstarrig und lautstark irren, ja obendrein lieber provozierende Fragen stellen als tragfähige Antworten auf sie geben.
Wer aber klug ist, der schließt nicht von vornherein aus, dass auch Populisten mit manchen ihrer Positionen auch durchaus Recht haben können, und zwar insbesondere dann, wenn sie in ziemlich breit gewordenen Repräsentationslücken agieren. Und wer weise ist, der erkennt außerdem die Fruchtbarkeit gerade solcher Fragen, für die es noch keine – oder zumindest keine unumstrittenen – Antworten gibt. Sieht man das aber so, dann ergeben sich schlüssig die folgenden Regeln für das Gespräch mit Populisten:
- Man soll sorgfältig hinhören, welche Sichtweisen, Sorgen, Ängste, Interessen und Wünsche die jeweils auftretenden Rechts- oder Linkspopulisten bewegen.
- Sodann soll man am Gehörten das Eingebildete vom Realen, das Phobische vom Rationalen, das Unbegründete vom Begründeten unterscheiden.
- Mit dem bloß Eingebildeten, Phobischen, Unbegründeten sollte man dann argumentativ-zurechtrückend, volkspädagogisch-aufklärerisch oder – wo nötig – demokratiesichernd-bekämpfend umgehen. Das entspricht im Grunde dem, was derzeit als alleinige (!) Reaktion auf Populismus aller Art empfohlen wird.
- Doch mit dem Realen, Rationalen und Begründeten am Bürgerprotest sollte man sich konstruktiv-politisch auseinandersetzen. Und das heißt: Politiker, Medien und Zivilgesellschaft sollten sich um wirksame sowie rational begründbare Lösungen realer Probleme bemühen, und sie sollten solche Anstrengungen auch klar kommunizieren.
Das alles läuft gerade nicht darauf hinaus, populistische Redeweisen nun selbst zu verwenden – sondern ganz darauf, populistische Demonstrationen und neue populistische Parteien über deren fallweises Aufflackern hinaus überflüssig zu machen. Wenn wir also den jeweils aufkommenden Populismus einfach als ein Warnsignal begreifen und problemlösend darauf reagieren, dann halten uns gerade Populisten dazu an, Störungen demokratischer Willensbildung und Entscheidungsfindung rasch zu beheben. Doch leider scheint es derzeit so zu sein, dass man den Populismus schon für das Problem selbst hält – und eben nicht für einen Hinweis auf die ihm zugrunde liegenden wirklichen Probleme.
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