Herausforderungen für Deutschland – und für Rotary

Herausforderungen für Deutschland – und für Rotary

Festrede zur 25jährigen Charterfeier des Rotary Clubs Leipzig-Zentrum am 13. August 2016, leicht redigiert

 

I. Heute wichtige Jahrestage: 1991 und 1961

Eigentlich ist es ein banaler Zusammenhang, dass das 25jährige Bestehen so manchen ostdeutschen Rotary-Clubs mit gut 25 Jahren deutscher Wiedervereinigung und mit mehr als 25 Jahren Friedlicher Revolution zusammenfällt. Doch diesen banalen Zusammenhang adelt, dass sich mit ihm eines der schönsten Ereignisse der deutschen Geschichte verbindet: die Wiedervereinigung unserer gespaltenen Nation, die Bewahrung des Erbes der Reichseinigung von 1871, der Aufbau einer funktionierenden Demokratie in ganz Deutschland. Und weil Demokratie eine aktive, hilfsbereite Zivilgesellschaft braucht, tun ihr gerade unsere Rotary-Clubs mit ihrer besonderen Mission gut: der Gesellschaft etwas vom eigenen beruflichen Erfolg zurückzugeben und sich ganz konkret in den Dienst des Gemeinwesens zu stellen.

Eine Feier, die in Deutschland an einem 13. August stattfindet, kann freilich nicht von einem anderen 13. August absehen, nämlich dem von 1961. Auch der Mauerbau hat heute sein Jubiläum. Fast drei Jahrzehnte lang stand die Mauer; doch gottlob nicht hundert Jahre lang, wie Erich Honecker einst meinte. Die Ursachen für den Bau und Bestand der Mauer fielen nämlich schon viel früher weg: der Wunsch der Sowjetunion, ihre territoriale Kriegsbeute zu behalten, und der Glaube an eine Überlegenheit des Sozialismus.

Der Rückblick auf die Ursachen und Folgen dessen, was sich da vor genau 55 Jahren in Berlin vollzog, lehrt mindestens zweierlei – und zwar ganz konkret auch uns, die wir als Rotarier ein wichtiger Teil unserer Gesellschaft sind. Die erste Lehre lautet: Politische Fehler wie die Zulassung des Aufstiegs der Nationalsozialisten, später dann der Angriff des nationalsozialistischen Deutschlands auf seine Nachbarn, rächen sich furchtbar – in diesem Fall nicht nur mit Millionen von Toten und mit dem Verlust eines Viertels des deutschen Staatsgebiets, sondern auch durch die Auslieferung Mittel- und Osteuropas an die kommunistische Weltanschauungsdiktatur, und obendrein durch all das menschliche Leid, das die Spaltung Europas und Deutschlands nach sich zog. Seien wir also wachsam gegenüber zweifelhaften politischen Weichenstellungen, fangen wir auch rechtzeitig mit Zweifeln am Sinn selbst populärer Politik an, und versuchen wir, politische Entwicklungen wirklich von ihrem möglichen Ende her zu verstehen, handzuhaben, ja nötigenfalls abzuwenden.

Und die zweite Lehre ist: In der Politik braucht es Geduld und innere Stärke, um schlechte Zustände nicht wie „richtige“ Zustände hinzunehmen, sondern sie gerade solange zu ertragen, wie sie sich objektiv nicht ändern lassen. Nie darf uns ein Arrangement mit einem allzu festen status quo um die Vision besserer Zustände bringen, schon gar nicht um tatkräftiges Neugestalten im Fall sich bietender Möglichkeiten – und zuvor nicht um die Bereitschaft, uns für Besseres die erforderlichen Mittel bereitzulegen. Im Fall der deutschen Wiedervereinigung ist die Überwindung eines unguten status quo gerade noch einmal gutgegangen. Doch auf solches Glück sollten wir uns bei den gegenwärtigen Herausforderungen durch Staatszerfall und Armutsmigration nicht verlassen. Gerade wir Rotarier, die wir etwas zum Gedeihen guter Gesellschaften beitragen wollen, tun also gut daran, nicht in die Bequemlichkeit der alten, gerade in der politischen Verzwergung glücklichen Bundesrepublik zu verfallen.

 

II. Deutschlands Lage im Inneren und in Europa

Jetzt sind nämlich die Zeiten andere. Beim Blick auf sie macht allerdings zunächst einmal der Rückblick auf die Friedliche Revolution, auf die deutsche Wiedervereinigung und auf die Wiedererlangung einer deutschen Gestaltungsrolle in Europa überaus dankbar und stolz – und zwar gerade dann, wenn man sich die Ruinen von Krieg und Diktatur sowie die einstige Paria-Rolle des zweifach besiegten Deutschlands vor Augen führt.

Dankbar und stolz macht zumal, dass inzwischen eine stabile gesamtdeutsche Demokratie entstanden ist. Freilich hat sie im Osten ein anderes Parteiensystem als im Westen, gibt es in den neuen Bundesländern eine viel geringere Parteibindung und entsprechend größere Wählervolatilität bzw. Protestwahlneigung als im Westen. Leider geht das alles in den neuen Bundesländern auch einher mit einer klar geringeren Verankerung von Systemvertrauen und pluralistisch-demokratischem Denken. Doch tatsächlich gibt es in ganz Deutschland unübersehbare Störungen in den Beziehungen zwischen der etablierten politischen Klasse und einem keineswegs vernachlässigbar kleinen Teil der Bevölkerung. Diese Spannungen wurden in den neuen Bundesländern bloß früher und deutlicher sichtbar als im Westen: unlängst durch PEGIDA in Dresden sowie durch recht hohe Stimmenanteile für die AfD in Thüringen und Sachsen-Anhalt, und länger schon durch die Stärke der ehemaligen PDS als der ursprünglichen ostdeutschen Protestpartei.

Obendrein wirkt der nach der Wiedervereinigung vollzogene ostdeutsche Elitentausch bis heute in der Weise nach, dass kulturelle, administrative und wirtschaftliche Elitegruppen immer noch überproportional oft aus dem Westen kommen. Das verstetigt mancherlei emotionale Verletzungen vieler Ostdeutscher durch die „westdeutsche Ostkolonisation“ seit der Wiedervereinigung. Solche Wunden brechen vor allem dann auf, wenn sich aktuelle politische Konflikte als kulturelle Konflikte ausmünzen, nämlich als solche zwischen – so eine verbreitete westdeutsche Sichtweise – den „aufgeklärten“ Westdeutschen und den „immer noch provinziellen“ Ostdeutschen. Die Spaltung der Dresdner Stadtgesellschaft um PEGIDA sowie die Spaltung Deutschlands überhaupt um die von PEGIDA so aufsehenerregend artikulierten Gesellschaftsprobleme unseres Landes sind dafür markante Fallbeispiele.

Dankbar und stolz macht im Übrigen auch, dass Ostdeutschlands Landschaften seit längerem durchaus blühen, wenngleich ein Erreichen westdeutscher Unternehmensgrößen und Ertragskraft auf Jahrzehnte hinaus ausgeschlossen zu sein scheint. Immerhin ist unter den von der Bevölkerung für wichtig gehaltenen Themen die Arbeitslosigkeit auch im Osten vom lange Zeit gepachteten ersten Platz klar nach unten abgerutscht. Jetzt liegen die Herausforderungen Deutschlands durch die Zuwanderung und durch eine ja nicht wie von selbst gelingende Integration der Eingewanderten an der Spitze der Sorgen.

Gerade für diese aufziehenden Probleme war man im transformationsgebeutelten und soziokulturell immer noch recht labilen Ostdeutschland klar früher sensibel als in den saturierten und mitunter recht selbstgefälligen Altbundesländern. Dort wollte man die Einwanderungs- und Integrationspolitik lange Zeit gerade nicht als ein aufziehendes Megathema deutscher Politik ernstnehmen. Vielmehr machte man sich lustig, oder empörte man sich, über jene zumal in Dresden demonstrierenden Ostdeutschen, die gleichsam zu dumm wären für die Einsicht, dass Einwanderung nach Deutschland doch keine Probleme nach sich ziehe, sondern uns vor allem bereichere sowie die wesentlichen Probleme unserer demographischen und wirtschaftlichen Entwicklung aufs Beste löse. Einmal mehr erwiesen sich aber – so ein einst bekannter Buchtitel – hier „Die Ostdeutschen als Avantgarde“.

Weitere Herausforderungen deutscher Politik ergeben sich daraus, dass Deutschland wieder zur Führungsmacht in Europa aufgestiegen ist. Unser Land ist – erstens – das verkehrs- und siedlungsgeographisches Zentrum der EU, nämlich mit unserer Lage genau in der Mitte zwischen West und Ost, zwischen Nord und Süd. Zweitens ist Deutschland eine Führungsmacht in der Eurozone, nämlich als Geldgeber und Bürge, desgleichen als Zuchtmeister in Haushaltsfragen. Als solcher findet Deutschland allerdings immer weniger Gehör. Inzwischen setzt man sich in der Eurozone nämlich über deutsche Mahnungen hinweg wie ein Heranwachsender über die Ratschläge seines bloßen Zahlvaters, der auch gar nicht mehr auf der Höhe der Zeit wäre. Drittens ist Deutschland europäische Führungsmacht bei der Bewältigung außenpolitischer Krisen, etwa im Fall der Ukraine oder beim Verhältnis zur Türkei.

Und viertens ist Deutschland EU-Führungsmacht bei der Ausgestaltung der europäischen Einwanderungs- und Integrationspolitik. Bei ihr aber ging Deutschland – und zwar ganz im Konsens zwischen seinen Eliten und einem Großteil der öffentlichen Meinung – im letzten Jahr absichtlich einen Sonderweg. Mit seiner Politik der damals nachgerade auf Dauer für alle Zuwanderungswilligen geöffneten Grenzen führte es sich auf als einzigartige moralische Großmacht, setzte dadurch andere EU-Staaten ethisch herab, löste Kopfschütteln bei manchen Freunden aus und erzeugte tiefgreifende Spannungen innerhalb der für unsere Außenpolitik so wichtigen Europäischen Union. Im Grunde handelte die deutsche Regierung wie ein Richter, nicht wie ein Politiker, nämlich nach politisch ganz ungeeigneten Grundsätzen wie „judex non calculat“ (d.h.: ein Richter schert sich nicht um die Kosten seiner Urteile) oder „fiat justitia et pereat mundus“ (also: Wir sorgen für Gerechtigkeit – selbst wenn das zur Auflösung der bestehenden Ordnung mitsamt vielen nachteiligen Folgen führt).

Widersprüche bei der auf allen diesen Handlungsfeldern geführten Politik Deutschlands ergaben sich nicht zuletzt daraus, dass unser Land zwar verlässlich guten Willen aufbringt, doch auf eine europäische Führungsrolle weder von seiner politischen Kultur her noch aufgrund seiner Traditionen eingestellt ist. Das war Deutschland schon im Kaiserreich nicht, als es – verursacht durch die törichte Annexion von Elsaß-Lothringen – Frankreich bei allen bündnispolitischen Überlegungen ausgrenzen musste, was eine nachhaltig stimmige Außenpolitik des Reiches verhinderte und den Ersten Weltkrieg als Urkatastrophe des 20. Jhs. mitverursachte. Später war der revanchistische und rassistische Führungsanspruch des nationalsozialistischen Reiches ohnehin ungeeignet für ein gedeihliches Miteinander in Europa. Und die BRD, aus alledem redlich Lehren ziehend, richtete sich dann als jene Zivilmacht, die allein sie fortan sein wollte, bequem im Windschatten der wirklich Großen ein.

Doch zu diesen gehört Deutschland in Europa inzwischen wieder selbst, während unsere wichtigen Partnerstaaten Frankreich und Großbritannien über Europa hinaus durchaus nicht mehr zu den wirklich Großen gehören.

Wiedergekehrt sind also alte geopolitische Herausforderungen. Doch geblieben ist eben auch die „ungeschickten Größe“ Deutschlands in der Mitte Europas. „Zu stark für ein Gleichgewicht der Kräfte, zu schwach für hegemoniale Führung“: Das ist die von Ludwig Dehio einst gefundene Formel dafür. Eben dieses Dilemma, nämlich zugleich zu stark zu sein für bloßes Folgen und zu schwach für wirkungsvolles Führen, prägt denn auch die Rolle unseres Landes beim Umgang mit jenem Migrationsdruck auf Europas Grenzen, der aller Wahrscheinlichkeit nach die Geschichte unseres Kontinents noch für viele Jahrzehnte prägen wird. Und den innenpolitischen Umgang mit dieser Rolle macht erst recht schwierig, dass es bei den migrationspolitisch zu erwägenden Sachverhalten klare Unterschiede bei ihrer Beurteilung durch Eliten und Bevölkerung gibt, desgleichen zwischen Ost- und Westdeutschen.

Weil wir Rotarier nun aber sowohl international als auch in unseren eigenen Grenzen einen Beitrag zum gesellschaftlichen Zusammenhalt zu leisten versuchen, kann uns gerade der Blick auf diesen Problemkomplex zeigen, wo wichtige rotarische Aufgaben während der kommenden zwei, drei Jahrzehnte liegen werden.

 

III. Tiefenschichten des gesellschaftlichen Streits um die Einwanderungs- und Integrationspolitik

Unscheinbar fingen viele heutige Probleme an mit der Zuwanderung von „Gast- und Vertragsarbeitern“. Die aber kamen nicht nur aus Spanien oder Italien, sondern besonders zahlreich aus kulturell eher fernstehenden Regionen der Türkei. Doch an dauerhafte Einwanderung dachte man in unserem Land damals nicht, betrieb deshalb keinerlei Integrationspolitik und erzeugte so viele der heutigen Probleme.

Das tut auch unser Asylrecht, das 1949 ja unter ganz anderen als den heutigen Umständen geschaffen wurde. Dass Deutschland je über das Asylrecht eine Sogwirkung entfalten könnte, lag angesichts der Trümmerberge von 1948/49 außerhalb jeden Vorstellungsvermögens; denn wer würde wohl im moralisch nicht minder als materiell ruinierten Deutschland Zuflucht suchen! Dank unseres wirtschaftlichen Aufstiegs, der Attraktivität unseres Sozialstaats sowie dem Staatszerfall anderswo entstanden aber um unser Asylrecht herum ganz unerwartete Wirkungen. Jetzt nämlich passt dessen grenzenlose humanitäre Absicht nicht mehr nachhaltig zu jenen praktischen Folgen, die das Asylrecht – zumal in Verbindung mit der Genfer Flüchtlingskonvention – nun einmal zeitigt. Drastisch traten uns diese Folgen zwischen dem Herbst 2015 und dem Frühjahr 2016 vor Augen. Einmal mehr begegneten wir damals jenen „unvorhergesehenen Wirkungen gut gemeinter Maßnahmen“, die das politische Handeln und dessen Grundsätze immer wieder peinigen.

Und da ist obendrein die demographische Entwicklung Deutschlands. Sie hat zu einer Unterjüngung unserer Gesellschaft und gerade nicht zu nachhaltiger Stabilität geführt. Zu dieser Entwicklung trug vieles bei, was unsere Gesellschaft nun freilich von innen her prägt und deshalb jene Entwicklung weiterhin antreibt. Nichts von alledem ist unbekannt. Da sind jene Empfängnisverhütungsmöglichkeiten, welche die Freude am Sex von der Last entkoppeln, für den – normalerweise durch Sex entstehenden – Nachwuchs zu sorgen. Da ist die veränderte Rolle der Frau, die zur erwarteten Quelle von Lebensglück in erster Linie die Ausübung eines bezahlten Berufs macht, nicht aber die – von Männern nun einmal nicht übernehmbare – Mutterschaft. Diese wird zur Zusatzoption, ist aber aus materiellen Gründen oft reizlos. Immateriell tragen zu solcher Reizlosigkeit auch unsere veränderten biographischen Leitbilder bei. Diese überlagen den – wie entsprechende Studien immer wieder zeigen – bei vielen jungen Leuten weiterhin bestehenden Wunsch nach einem Leben als „traditionelle Familie“ durch die gesellschaftliche Selbstverständlichkeit, eine als ansehnlich geltende Lebensführung brauche weitgehende Bindungsfreiheit sowie den Ausschluss des zentralen Armutsrisikos, nämlich: Kinder zu haben.

Vor diesem Hintergrund scheint unsere Gesellschaft nun auseinanderzudriften zwischen jenen ganz oben, die sich viele Kinder leisten können; jenen ganz unten, für die Kinder das Hartz IV-Einkommen in fühlbarer Weise aufbessern; und jenen Einwanderern, für welche die Vorstellung, maximal zwei Kinder wären der anzustrebende Normalfall, noch nicht verhaltensprägend geworden ist. Das Zusammenwirken all dessen führt, leicht ausrechenbar, zu einer Umschichtung in der Zusammensetzung der Bevölkerung unseres Landes. In deren Vollzug gerät die unseren Staat tragende und finanzierende Mittelschicht in jeder Hinsicht unter Druck. Der aber treibt sie den Populisten zu, derzeit vor allem denen von rechts.

Zu solchem „Druck nach rechts“ trägt auch die heute populäre ideologische Rationalisierung dieser demographischen Entwicklung bei. Die entfaltet sich zwischen einem geschichtspolitischen und einem politikhysterischen Pol. Der erste Pol trägt die Aufschrift „Kein Mutterkreuz, keine Herdprämie!“, der zweite die Warnung: „Man kann doch in diese schreckliche und ohnehin übervölkerte Welt keine weiteren Kinder setzen!“. Die erste Aussage empört jene, die weiterhin in Kindern und traditionellem Familienleben einen wichtigen Teil ihres Lebensglücks sehen; und die zweite Behauptung führt zur Frage, ob denn nicht gerade die jahrzehntelang agierende politisch-mediale Klasse an jenen Zuständen schuld sei, die angeblich davon abraten, ausgerechnet hierzulande noch Kinder in die Welt zu setzen. Beide Reaktionen zusammen aber wirken wie Wasser auf die Mühlen des Rechtspopulismus. Besser wäre es in dieser Lage wohl, man stoppte die Wasserzufuhr. Die meisten aber lassen sich auf den untauglichen Versuch ein, gerade die Mühlen gegen den weiterwirkenden Wasserdruck zu stoppen.

Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass die Ansätze unserer Zuwanderungs-, Integrations- und Familienpolitik nicht wirklich zusammenpassen. Dieser ungute Zustand aber entstand durch bequemes Treiben- und Gewährenlassen. Die Formel für das Treibenlassen lautete: „Wir sind kein Einwanderungsland; also brauchen wir auch keine Einwanderungs- und Integrationspolitik!“ Und die Formel für das Gewährenlassen klang so: „Je mehr Einwanderung und je mehr Multikulturalismus es in Deutschland gibt, umso ausgedünnter wird das Deutsche an Deutschland; und eben das ist gut für die Demokratie und für Europa, weil deutsch sein zu wollen, oder allein von Deutschen abzustammen, doch – wie die Geschichte gezeigt hat – sehr gefährlich ist!“.

Solche Positionen aber nähren sich vor allem aus dem Verzicht auf einen klaren Tatsachenblick, und sie verdanken sich ideologischen Vorlieben. Aus beiden Gründen zeitigen sie innenpolitische Konflikte, die heute unsere politische Kultur vergiften. Vor allem trugen sie zum Großwerden populistischer Systementfremdung bei und machen es nun sehr schwer, mit den Herausforderungen unserer Einwanderungs-, Integrations- und Bevölkerungspolitik vernunftgeleitet umzugehen.

Und in Deutschland werden diese Probleme noch dadurch weiter verschärft, dass sowohl die Erfahrungen mit der Zuwanderung als auch die offen gezeigte Wertschätzung deutscher Kultur in Ost- und Westdeutschland über Jahrzehnte durchaus verschieden waren. Das wirkt bis heute nach und macht Konflikte in Einwanderungs- und Integrationsfragen jetzt gerade auch zu solchen zwischen West- und Ostdeutschen – und in den neuen Bundesländern obendrein zu solchen zwischen der dort seit DDR-Zeiten ansässigen Bevölkerung und den aus dem Westen zugewanderten tonangebenden Eliten.

Bei diesen Konflikten gibt es inzwischen zwar weithin Konsens darüber, dass wir – aufgrund unserer demographischen Entwicklung – Zuwanderung brauchen. Doch es gibt keinen gesamtgesellschaftlichen Konsens über die Art der wünschenswerten Zuwanderung und über die aufzustellenden Regeln. Soll die Einwanderung sich nach den Interessen unserer Gesellschaft richten, also nach Deutschlands konkretem Bedarf an Humankapital, gesteuert etwa durch ein Punktesystem? Oder soll die Einwanderung sich richten nach den Interessen einer – aufgrund der anhaltenden Fluchtgründe – nach oben nicht ethisch schlüssig begrenzbaren Anzahl von Asylbewerbern und Bürgerkriegsflüchtlinge? Und soll wohl die Arbeitnehmerfreizügigkeit innerhalb der EU schlicht das Vorbild sein für Europas grundsätzliche Öffnung gegen einfach alle Armutsmigranten aus sämtlichen Teilen der Welt, also auf unabsehbare Zeit aus Afrika?

Erschwert wird die öffentliche Debatte über solche Fragen dadurch, dass wir uns – milde ausgedrückt – schwertun mit einer redlichen oder sachlichen Erörterung des Für und Wider von Positionen in der Bevölkerungs-, Einwanderungs- und Integrationspolitik. Wir hegen und pflegen nämlich eine Erregungs- und Empörungskultur, in der es ganz üblich ist, die Diskussionslandschaft mitsamt den Diskussionsteilnehmern schnell und praktisch folgenreich zu kartieren, nämlich nach ‚rechts vs. links‘, nach ‚fortschrittlich vs. rückschrittlich‘, ja überhaupt nach jenen Positionen, die ‚in Ordnung‘ sind, und jenen, die man – mitsamt ihren Vertretern – als ‚politisch inkorrekt‘ abzulehnen hat, ja aus dem öffentlichen Diskurs ausgrenzen muss.

Das alles hat umso mehr innenpolitische Brisanz, als sich sowohl bei der konkreten Kartierung solcher Positionen wie überhaupt bei der sozialen Rolle, welche die Gebote und Verbote politischer Korrektheit spielen, Ost- und Westdeutsche erneut unterscheiden. Was vielen Westdeutschen wie ein unproblematisches Einhalten etablierter, nicht weiter in Frage zu stellender politischer Hygieneregeln vorkommt, das empfinden viele Ostdeutsche – durch andere kulturelle Selbstverständlichkeiten geprägt – wie eine Wiederkehr realsozialistischen Meinungsdrucks, wie ein aufgezwungenes Neuaufleben von DDR-Duckmäuserei. Dabei verwundert, ja empört es viele Ostdeutsche, dass sich zu Anwälten politischer Korrektheit nicht selten solche Leute aufschwingen, die beim Blick auf die DDR selbstgefällig so tun, als wären sie in der SED-Diktatur gewiss zu Widerständlern geworden – obwohl sie nun, ausgerechnet unter den Bedingungen einer offenen Gesellschaft, sich so gar nicht zum Abweichen vom vorherrschenden Denken und Reden durchringen wollen. Wie sehr oder wie wenig derlei Einschätzungen im Einzelfall auch gerecht sein mögen, ist doch grundsätzlich klar: Wo zunächst einmal die Geßlerhüte politischer Korrektheit zu grüßen sind, nutzt man allzu wenig den Vorteil gerade von pluralistischer Demokratie, nämlich den Streit in der Sache, der auf wechselseitiges Lernen ausgeht.

Tatsächlich – und mit ganz beklagenswerten Folgen – ist es so weit gekommen, dass viele Bürger, zumal in den neuen Bundesländern, zutiefst empfinden, gerade in Einwanderungs- und Integrationsfragen werde vieles über ihre Köpfe hinweg entschieden und durchgesetzt. Dem gesellte sich inzwischen der Eindruck hinzu, zielgerichtete Kursänderungen ließen sich bei uns auch mit den Mitteln der Demokratie nicht herbeiführen. Denn einesteils verweigere die politische Klasse dem Volk auf Bundesebene sogar sinnvolle plebiszitäre Instrumente; und andernteils würde es als verwerfliche Radikalisierung hingestellt, ja auch durch soziale Ächtung bestraft, wenn man alternative Positionen verträte, falls diese rechts – und nicht wie üblich links – von der politischen Mitte lägen.

In Dresden wurde unter solchen Umständen ein trotziges „Wir sind das Volk“ zum Schlachtruf derer, die gegen eine aus ihrer Warte falsche Politik protestierten; und sie verkoppelten diesen Ruf mit systemkritischen Parolen wie „Volksverräter“ und „Lügenpresse“. Dass solche Empörung weit über Dresden hinaus Resonanz finden konnte, das bestürzt durchaus in einem Staat, der gerne eine Demokratie sein will und eine solche ja auch ist. Ganz offensichtlich läuft derzeit in unserem Land demokratiepraktisch einiges schief und kann sich zur Gefahr für unser freiheitliches Gemeinwesen auswachsen. Demokratische Legitimation entsteht nämlich nur aus redlicher Kommunikation; legitimierende Diskurse aber werden unterbunden, wenn man den Gegner – gleich ob man ihn in der politisch-medialen Klasse oder in Rechtspopulisten sieht – lieber ausgrenzt, als sich auf ernsthafte Diskussionen mit ihm einzulassen.

Das ist umso fataler, als jetzt doch Grundfragen unseres Landes zu erörtern wären, und zwar gerade solche, deren Beantwortung stark davon abhängt, welche Lehren man meint, aus der Vergangenheit unseres Landes ziehen zu sollen. Stark vereinfacht, geht es um Folgendes: Es gibt Dissens über das Integrationsziel, das wir den Zuwanderern setzen sollten; und dieser Dissens rührt her vom innerdeutschen Dissens darüber, welches Existenzrecht ein besonderes deutsches Volk oder eine besondere deutsche Kultur wohl haben könne. Aufs klarste erkennt man die Brisanz all dessen beim Versuch, zusammenpassende Antworten auf die folgenden Fragen zu finden:

  • Soll unser Land einfach ein „sicher Hafen“ sein, eine Art „Übergangswohnheim“ für notbedingt Heimatlose? Doch für wie viele kann Deutschland dann in der Praxis – und nicht allein in der normativen Theorie – ein solcher „sicherer Hafen“ sein? Wie lange auch wird unser Land als ein bloßes „Übergangswohnheim“ dienen, falls es nicht bald wieder zur Ausreise von einst Zufluchtsuchenden kommt?
  • Wenn aber Asylrecht, Flüchtlingskonvention und subsidiärer Schutz in den meisten Fällen zur dauerhaften Einwanderung samt Familiennachzug führen: Wie offen kann ein Staat, der sich in seinem bisherigen Zustand erhalten will, dann mit den Zuwanderungswünschen von Ausländern umgehen? Soll es wohl einfach ein Siedlungsrecht zuwanderungswilliger Leute geben, das diese – bei allgemeiner Migrations- und Niederlassungsfreiheit – ganz nach eigenem Ermessen ausüben?
  • Wünschen wir uns auf Dauer wohl eine multikulturelle Gesellschaft in dem Sinn, dass einander ansonsten fremd bleibende Bevölkerungsgruppen zwar – soweit nötig – durch gemeinsame Rechtsnormen und eine gemeinsame Sprache miteinander verbunden sind, dass sie ansonsten aber schlicht nebeneinander leben? Und wie wirken wir auf Konfliktfreiheit beim Nebeneinander hin, solange wir gerade kulturelle Differenzen und deren Bewahrung für besonders wichtig halten?
  • Will unser Land vielleicht anstelle anhaltender Multikulturalität und Multiethnizität eine Vermischung von „Biodeutschen“ und von „Deutschen mit Migrationshintergrund“ zu einem neuen und gerne zusammenhaltenden Staatsvolk? Falls ja: Wie integrieren wir dann die Zuwanderer so, dass sie sich auch gerne mit den bisherigen Deutschen vermischen, also gerade nicht unter sich bleiben wollen – samt vorrangiger Loyalität zum jeweiligen Herkunftsland? Zugespitzt: Integriert man Zuwanderer leichter durch das Angebot, ihre bisherige Staatsbürgerschaft beizubehalten, oder eher durch Drängen darauf, auch rechtlich nichts anderes als Deutsche zu sein?

Über Antworten auf diese Fragen hat unsere Gesellschaft bislang ebenso wenig zum Konsens gefunden wie über sinnvolle Integrationsmaßnahmen. Die einen meinen, das Bekenntnis zum Verfassungspatriotismus reiche aus, also das gemeinsame Praktizieren der „Zivilreligion“ unseres Landes. In welchem Verhältnis aber mag eine solche Zivilreligion zu einer sich selbst ernstnehmenden richtigen Religion wie dem Islam stehen? Andere hingegen meinen, wir sollten auch kulturellen Patriotismus kultivieren, also klären und einladend vor Augen führen, was das „Deutschsein“ ausmacht, ja vielleicht auch schön macht – nämlich von den kulturellen bis zu den wissenschaftlich-technischen Errungenschaften unseres Landes, ja bis hin zu dessen Geschichte, die eben nicht nur aus den zwölf Jahren des „Tausendjährigen Reiches“ besteht.

Zuspitzen lässt sich das alles auf die Frage, ob wir uns lieber „Türken in Deutschland“ oder „deutsche Türken“ wünschen sollten – oder eben „türkische Deutsche“. Meine eigener Wunsch, auf die Türken und auf jede andere zuwandernde Völkerschaft zu verallgemeinern, geht dahin, dass aus Einwanderern aus Syrien oder Afghanistan in der zweiten Generation dann syrische oder afghanische Deutsche würden, denen ihr Herkunftsland nicht weniger, doch auch nicht mehr bedeutet als weiland Frankreich den Hugenotten Preußens.

Ob dieser Wunsch eines Tages mehrheitsfähig wird, steht in den Sternen. Klar ist aber jetzt schon, dass es bei der Einwanderungs- und Integrationspolitik um nicht weniger geht als um Antworten auf die Frage, wer wir als Deutsche sind und – gerade als Staatsvolk des wichtigsten EU-Landes – auch in Zukunft sein wollen. Klar ist nicht minder, dass unsere deutsche Entscheidung folgenreich dafür sein wird, was überhaupt aus dem großartigen Projekt der Europäischen Union fortan werden kann. Denn es ist ja nicht ausgemacht, dass alle europäischen Staatsvölker unsere besonderen deutschen Einwanderungs- und Integrationsvorlieben teilen werden. Also kann gerade der Weg Deutschlands die EU auseinandertreiben, ja mag ausgerechnet jenes Land zum Sprengsatz der EU werden, das eben kein Nationalstaat mit einem besonderen Staatsvolk mehr sein wollte, sondern sich als Vorbild eines postnationalen Europas verstand.

 

IV. Was können wir Rotarier in einer solchen Lage leisten?

„Service above self“ ist seit unserer Gründung vor 111 Jahren unsere Leitidee, also der Dienst an unseren Gesellschaften über die Befriedigung unserer Privatinteressen hinaus. Wir wollen nicht einfach in unseren Berufen aufgehen, sondern – gerade als in unseren Berufen erfolgreiche Leute – jener Gesellschaft etwas zurückgeben, in deren Mitte wir doch wirklich gut leben. So steht das auch in unseren Selbstverständigungstexten, etwa im Handbuch für unsere Governors:

„Das Ziel von Rotary besteht darin, das Ideal des Dienens als Grundlage des Geschäfts- und Berufslebens zu fördern, indem seine Mitglieder:

  1. freundschaftliche Beziehungen entwickeln, um sich anderen nützlich zu erweisen
  2. hohe ethische Grundsätze im Geschäfts- und Berufsleben verwirklichen, den Wert jeder nützlichen Tätigkeit anerkennen und die berufliche Tätigkeit jedes Rotariers als Möglichkeit zum Dienst an der Gesellschaft würdigen
  3. das Dienstideal in der privaten, beruflichen und öffentlichen Tätigkeit jedes Rotariers verwirklichen
  4. Völkerverständigung und Frieden durch eine im Ideal des Dienens vereinte Weltgemeinschaft aus beruflich erfolgreichen Frauen und Männern fördern.“

Genau solches Verhalten braucht es ganz offensichtlich angesichts der innen- und außenpolitischen Herausforderungen unserer Gesellschaft. Und es triff sich sehr gut, dass gerade jene vier Fragen uns dabei eine gute Anleitung bieten können, die wir Rotarier uns im beruflichen und gesellschaftlichen Alltag ohnehin immer stellen sollten:

  1. Ist es wahr? – etwa: Ist wahr, was wir über die Chancen und Probleme unserer Zuwanderungsgesellschaft oder über Deutschlands Rolle in Europa glauben und deshalb auch in unserem beruflichen und privaten Umfeld vertreten?
  2. Ist es fair für alle Beteiligten? – etwa: Ist fair, wie wir einesteils mit den nach Deutschland Zuwandernden umgehen, andernteils aber auch mit jenen unserer Mitbürger, die sich angesichts des noch auf Jahrzehnte hinaus bestehenden Einwanderungsdrucks Sorgen machen? Und ist unser deutsches Verhalten fair gegenüber unseren Partnern in der EU?
  3. Wird es Freundschaft und guten Willen fördern? – etwa: Wird Freundschaft und guten Willen fördern, wie wir in unseren Städten und Gemeinden mit Zuwanderern, doch auch mit über die Zuwanderung besorgten Bürgern umgehen? Wird Freundschaft und guten Willen fördern, wie wir den Streit um die richtige Einwanderungs- und Integrationspolitik unseres Landes führen? Und welches deutsche Verhalten beim Ringen um die Einwanderungspolitik der EU wird in Europa weiterhin Freundschaft und guten Willen fördern?
  4. Wird es dem Wohl aller Beteiligten dienen? – etwa: Wird dem Wohl aller Beteiligten dienen, wie wir die bürgergesellschaftlichen und grenzüberschreitenden Probleme der Einwanderungs-und Integrationspolitik anpacken? Oder auf welche Weise wir mit politisch Andersdenkenden umgehen?

Beim Blick auf diese Fragen und auf die hinter ihnen liegende Gedankenwelt wird offensichtlich: Rotary hat weit mehr zu bieten als Wohltätigkeit und Geselligkeit. Seine Maximen – Wahrheit, Fairness, Förderung von Freundschaft und gutem Willen, Ausgehen auf das Gemeinwohl – sind vielmehr auch eine gute Richtschnur für vorbildliches politisches Handeln. Gäbe es Rotary noch nicht, fehlten unseren Gesellschaften somit die Prinzipien und die Praxis von Rotary, dann lohnte es sich sehr, dies alles endlich zu erfinden oder aufzubauen!

Glücklicherweise aber gibt es unsere internationale Vereinigung – und gibt es seit über einem Jahrhundert millionenfaches Handeln gemäß unseren Prinzipien. Wenn wir das Jubiläum eines unserer Rotary-Clubs feiern, dann feiern wir deshalb nicht einfach nur uns selbst. Vielmehr feiern wir die Umsetzung einer guten Idee in oft wirklich gute Praxis. Bei Ihrem Club hier in Leipzig hat das alles – neben dem gemeinsamen Engagement aller Rotarier bei der Polio-Bekämpfung und bei Wasserprojekten im globalen Süden – zur langjährigen und anhaltenden Unterstützung der Bahnhofsmission, einer Behindertenwerkstätte sowie eines Obdachlosenheims geführt. Das geleistet zu haben, darf stolz machen und zeitigt gewiss – neben anhaltendem gutem Willen – auch große Zuversicht, weiterhin unserem Gemeinwesen nützen zu können. Doch heute Abend wollen wir erst einmal festlich feiern!

 

 

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