Glanz und Elend politischer Korrektheit
Am 30. November 2015 fand im „Lindengarten“ (Quality Hotel Plaza Dresden) eine Vortragsveranstaltung statt mit dem Titel „Wer bestimmt, was gesagt werden darf – und worüber geschwiegen werden muss?“ Referenten waren Thilo Sarrazin und ich. Während Thilo Sarrazin – anders, als im Veranstaltungstitel angekündigt – die zentralen Thesen seines Buches „Deutschland schafft sich ab“ vortrug und mit Herausforderungen aktueller Einwanderungs- und Integrationspolitik verband, hielt ich mich ans gestellte Thema und sprach über „Glanz und Elend politischer Korrektheit“. Aufgrund eines mir vielfach bekundeten Interesses an meinem Vortrag gebe ich nachstehend jenes Vortragskonzept wieder, anhand dessen ich – natürlich in freier Formulierung – referiert habe.
Werner J. Patzelt
„Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage“ (Goethe, Faust I)
Glanz und Elend politischer Korrektheit.
I. Ein richtiger Grundansatz!
- Gut: korrekte Kleidung, korrektes Auftreten, korrektes Kommunizieren – und kluges Denken. Das alles sind zivilisatorische Errungenschaften. Man darf sie nur nicht missbrauchen (wie Rotwein, Zigarren, Autos …)
- Konfuzius: „Wenn die Worte nicht stimmen, dann ist das Gesagte nicht das Gemeinte. Wenn das, was gesagt wird, nicht stimmt, dann stimmen die Werke nicht. Gedeihen die Werke nicht, so verderben Sitten und Künste. Darum achte man darauf, daß die Worte stimmen. Das ist das Wichtigste von allem.“
Deshalb Versuch, für die richtigen Sitten (= Tugenden) oder für eine richtige Ordnung in Staat und Gesellschaft auch dadurch zu sorgen, dass man „die Worte richtigstellt“.
II. „Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage“ – wenn man es mit einem guten Grundsatz übertreibt!
Formen einer fatalen taktischen und strategischen (Über-) Nutzung jenes richtigen allgemeinen Grundsatzes:
1. „Deine Sprache verrät Dich!“ …
… und mit so einem wie Dir will ich – und sollte jeder gute Mensch – nichts zu schaffen haben wollen! Also: Kommunikationsverweigerung, Ausgrenzung …
2. Bemühen, politisch Andersdenkenden bereits ihre Begriffe zu verpönen und ihr Vokabular zu entziehen.
Die Folgen sind:
- Der Gegner wird schon beim Beschreiben und Kartieren von Phänomen, über die er reden will, machtlos gemacht, und beim Bewerten erst recht: Er muss sich nun auf meine Begriffe einlassen!
Beispiel: Regelungstatbestand § 218 StGB: Inanspruchnahme des Rechtes auf Selbstbestimmung über das eigene Leben vs. Tötung eines ungeborenen Menschen.
Beides stimmt – doch zwei ganz verschiedene Seiten desselben Sachverhalts treten in den Blickwinkel. Wer seine Sichtweise – über seine Begriffe – durchsetzt, der gewinnt im politischen Streit.
- Alsbald lässt sich zur durch kommunikative Macht stabilisierten Wirklichkeit nur noch eine affirmative Haltung einnehmen (d.h. eine, die das Bestehende für gut befindet und gegen Alternativen verteidigt), doch keine kritische mehr (also eine, die das Bestehende hinterfragt und es überwindende Alternativen erkundet).
Damit wird eine wesentliche Errungenschaft der 1968er-Revolution zurückgebaut: nämlich die Möglichkeit einer hinsichtlich der bestehenden Verhältnisse kritischen Theorie. Und das ist schade – weil derlei in einen unsensiblen, machtgestützten Konservatismus führt, der nicht mehr in der Lage ist, politisches Handeln neuen Umständen anzupassen.
3. „Wirklichkeitskonstruktive Politik“ / „politics of reality“
(hierzu ausführlich: Patzelt, Grundlagen der Ethnomethodologie, München 1987, S. 115-124)
Was nachstehend beschrieben wird, lässt sich an vielen entweder vergangenen oder künftigen Fällen der Ausgrenzung und des „Fertigmachens“ Andersdenkender, Anderssprechender oder Andershandelnder an mannigfaltigen Einzelbeispielen nachvollziehen.
- Die dafür verwendeten Techniken beginnen mit dem Verzicht darauf, sein eigenes Denken in Frage zu stellen und jene Zusammenhänge überhaupt nachvollziehen zu wollen, die den besorgten, vielleicht auch schon empörten Andersdenkenden wichtig sind.
- Schon weiter ist man mit solcher Ausgrenzung, wenn es als Zeichen besonderer Sachkompetenz gilt, alles das „wegerklären“ zu können, was den Auszugrenzenden überhaupt für ihre Sorgen Anlass gibt. Dann nämlich kann man sich über deren „offensichtlich unbegründeten“ Ängste lustig machen oder diese als „bloß vorgeschoben“ ausgeben – und die „eigentlichen Gründe“ in zweckgerecht düsteren Farben malen.
- Noch mehr ist erreicht, wenn dem Gegner ihm wichtige Begriffe weggenommen sind oder zumindest deren öffentlicher Gebrauch unterbunden ist. Dann lassen sich jene Unterscheidungen und Bewertungen, auf die es den Besorgten oder Empörten ankommt, nur noch gegen unmittelbar erhobenen Widerspruch vortragen – und setzt den Gegner allein schon seine Wortwahl ins Unrecht.
- Die nächste Stufe des Ausgrenzens ist erreicht, sobald man seinen Gegnern Etiketten anheften kann, von denen „jeder weiß“, dass sie jemanden als einen „schlechten Menschen“ ausweisen.
- Am besten beginnt man mit der Einschätzung als „notorischer Querulant“ oder als „Ewiggestriger“.
- Ansonsten eignet es sich für solche „strategische Etikettierung“ in Deutschland besonders gut, wenn man jemanden als „Rechtspopulisten“, als „Faschisten“ oder – neuerdings populär – als „Rassisten“ hinstellen kann.
- Und wenn am Auszugrenzenden allzu wenig direkt erkennbar Übles auffällt, hilft meist die Rede vom „Extremismus der Mitte“ weiter.
- Wer solche Schellen trägt, kann anschließend mit großer Plausibilität um seine öffentlichen Redechancen gebracht werden. Einem Rechtspopulisten oder Rassisten darf man doch wirklich „keine Bühne bieten“; also gehört er nicht mehr als gleichberechtigter Gesprächspartner in Talkshows (außer als Krokodil, dass zum allgemeinen Gaudium verprügelt wird) – und natürlich auch nicht mehr auf Diskussionspodien oder an Rednerpulte!
Perfekt ist es, wenn der Auszugrenzende sich nicht nur Blößen gibt, die dies alles rechtfertigen, sondern wenn er auf solchen Ausgrenzungsdruck auch noch so reagiert, dass er seine Außenseiterrolle eben annimmt und sich trotzig immer mehr ins Unrecht setzt.
Das Ausgrenzen kann aber noch viel weiter gehen:
- Anzustreben ist es, den Abweichler vor einen „virtuellen Gerichtshof“ zu bringen – etwa: ihn in einer Talkshow „fertigzumachen“ und den Videoclip, auf dem er eine schlechte Figur macht, dann auf Youtube zu stellen.
- Vielleicht kann man dem Auszugrenzenden auch ein echtes staatsanwaltliches Ermittlungsverfahren anhängen; es wird schon etwas hängenbleiben!
- Das Ziel ist erreicht, wenn der Auszugrenzende als „nicht mehr ernstzunehmen“ gilt, nicht mehr als ein „redlicher Fachmann“, ja vielleicht nicht einmal mehr als ein „akzeptabler Mitbürger“ angesehen wird.
- Und auf dem Weg zu diesem Ziel ist es besonders nützlich, den Auszugrenzenden als die Erscheinungsform eines für die Allgemeinheit gefährlichen Typs darzustellen, also gar nicht mehr als eine konkrete Person ernstzunehmen.
- Dann nämlich richtet sich das Ausgrenzungsverlangen nicht mehr gegen einen – unter anderen Umständen vielleicht gar halbwegs sympathischen – Mitmenschen oder sein Tun, sondern ….
- gegen das Böse schlechthin sowie gegen dessen Verkörperung im Feind.
- Das erlaubt dann auch schwer zu entkräftende Ansprüche auf eigene moralische Überlegenheit.
- Und zum erfolgreichen Abschluss gelangt solches Ausgrenzen, wenn der Gegner sich aus der Öffentlichkeit zurückzieht, von einem Amt zurücktreten muss oder von seinem Arbeitgeber gekündigt wird, in einer Diktatur vielleicht eingesperrt oder exiliert, womöglich auch umgebracht wird – und er in einer Demokratie wenigstens keine Chancen mehr besitzt, bei Wahlen eine nennenswerte Stimmenanzahl zu erreichen.
- Alle diese Ausgrenzungsschritte lassen sich im Übrigen aufs Beste mit Häme gegenüber „den Bösen“ und mit sich selbst feiernden symbolischen Aktionen „der Guten“ abrunden.
- Achtung:
- Es ist unaufgeklärte, gerade deshalb aber höchst verletzende Kinderart, solche Verfahren zu verwenden, ohne zu wissen, was man da mit welchen inhumanen Nebenwirkungen tut.
- Und es wäre kindisch, die mitunter fiese Verwendung dieser Methoden samt deren oft schädlichen Nebenwirkungen einfach deswegen zu bestreiten, weil man sie selbst einsetzt – und sei es für einen guten Zweck.
Das alles vor Augen, dürfte klar sein:
- Wenn es darum geht, eine freiheitliche politische Kultur gegen ihre Gegner zu verteidigen, ist derlei Ausgrenzung zwar höchst angebracht, also: im Kampf gegen Extremisten, d.h. Leute, welche die freiheitliche demokratische Grundordnung beseitigen wollen (nämlich: „eine Ordnung, die unter Ausschluss jeglicher Gewalt- und Willkürherrschaft eine rechtsstaatliche Herrschaftsordnung auf der Grundlage der Selbstbestimmung des Volkes nach dem Willen der jeweiligen Mehrheit und der Freiheit und Gleichheit darstellt. Zu den grundlegenden Prinzipien dieser Ordnung sind mindestens zu rechnen: die Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, vor allem vor dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung, die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung, die Verantwortlichkeit der Regierung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Unabhängigkeit der Gerichte, das Mehrparteienprinzip und die Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition.“)
- Doch wenig vorteilhaft sind solche Methoden, wenn es nicht um Extremisten geht, sondern einfach um Andersdenkende, oder wenn in erster Linie ergebnisorientierte Problemlösungspolitik – statt symbolischer Ausgrenzungsveranstaltungen – vonnöten wäre. Auch in Troja half ja Kassandras Ausgrenzung nicht jenem Übel ab, vor dem sie warnte: dass nämlich, im hölzernen Pferd versteckt, Griechen in die Stadt eindrängen ….
III. Gefährdungen unserer Demokratie aufgrund von „Übernutzung“ politischer Korrektheit
Derlei falsches Handeln führt zu Folgendem:
- Der politische Diskurs wird prä-kritisch vermachtet.
Achtung: Das ist nie ein Problem für die Mächtigen oder die Verwalter „diskursiver Hegemonie“ – sehr wohl aber eines von Andersdenkenden ohne solche Hegemonialmacht. Deshalb muss im Zweifelsfall die Losung hier lauten: „Friede den Hütten – Krieg den Palästen!“
Hält man es anders, so entsteht Konservatismus ohne grundsätzlichen Reformwillen – zufrieden mit der Aufrechterhaltung seiner Machtstrukturen. Das aber ist schlecht für die immer neu erforderliche politische Einstellung auf neue Herausforderungen – und somit für ein Gemeinwesen und dessen Gemeinwohl.
- Unterbindet man weitgehend die Möglichkeit, selbst definierte Probleme in selbst gewählter Sprache vorzubringen, so wird einer pluralistischen Demokratie gerade die Quelle ihrer Lernfähigkeit und Legitimität entzogen, d.h. einer allgemein geteilten Vermutung, diese politische Ordnung bestehe zu Recht.
Es nutzt aber nichts, wenn solcher Legitimitätsglaube nur wie ein Lippenkenntnis vorgebetet oder wie eine potemkinsche Fassade nur vorgeblendet wird. Vielmehr muss Legitimität stets aufs Neue kommunikativ in Geltung gehalten werden – und eben das misslingt, wenn man Kommunikationsfreiheit nicht mehr als die Freiheit des Andersdenkenden und Anderssprechenden akzeptiert sowie praktiziert. Unterbleibt dass, so beeinträchtigt man die Stabilität und Liberalität einer politischen Ordnung.
Aus allen diesen Gründen sollten wir …
- den vernünftigen Leitgedanken von „politischer Korrektheit“ selbst vertreten und ihm auch folgen, nicht zuletzt durch eigenes gutes Beispiel: ehrliches, um wechselseitiges Verstehen bemühtes Reden; Unterlassen von verletzender Sprache; Verzicht auf arrogante Kampf- oder Prunksprache
- uns durch Tun oder Lassen gegen alle Versuche wehren, dass man so vernünftigen Grundsatz, sich um zivilisatorische Korrektheit (oder auch: korrekte Zivilisiertheit) zu bemühen, zum Schaden unserer Demokratie rein diskussionstaktisch bzw. zu bloßen Machtspielen einzusetzen.
Andernfalls tut man nämlich nicht nur so manchem Ausgegrenzten Unrecht, sondern auch dem Anliegen politischer Korrektheit selbst. Diese braucht also ein vernünftiges, von gutem Willem geprägtes Mittelmaß. Andernfalls steht man vor der Wahl zwischen Sittenlosigkeit und Tyrannei – und beides gilt es zu vermeiden!
Bildquelle: http://www.cicero.de/sites/default/files/field/image/gauck_und_der_tugendfuror.jpg