Die Anschläge in Paris. Ursachen und Folgerungen
Wie umgehen mit dem islamistischen Terror?
Es tut weh, an die Opfer der Pariser Terroranschläge vom letzten Freitag zu denken. Tiefes Mitleid wird jeder fühlen, dem die Angehörigen der vielen Söhne und Töchter, Eltern und Verwandten, Freunde und Bekannten in den Sinn kommen, an denen sich jene bittere Einsicht bewahrheitete, die in christlichen Landstrichen Deutschlands und Europas anfangs November mit den folgenden Worten Martin Luthers in Erinnerung gerufen wird: „Mitten in dem Leben sind wir vom Tod umfangen“. Doch in Schmerz und Mitleid mischen sich Zorn und Sorge, wenn wir an die Weise denken, in der da Hunderte umgebracht und verletzt wurden – an ihren Seelen nicht minder als an ihrem Leib. Wer da nicht schicksalsergeben bloß zusehen will, kommt an zwei Fragen nicht vorbei. Sie lauten „Warum?“ und „Was tun?“
I. Worauf wir uns einstellen müssen
Die Pariser Terroranschläge vom 13. November 2015 stehen in einer langen Tradition. Sie beginnt nicht erst am 11. September 2001, mit Madrid (2004) und London (2013) als den bekanntesten in Westeuropa vollzogenen Folgeverbrechen. „Assassinen“ – wovon sich die französischen und englischen Begriffe für Attentate ableiten – ist denn auch der Name für eine schiitische Bewegung, die bereits zwischen dem 11. und 13. Jh. in Syrien und Persien durch Mordanschläge Furcht zu verbreiten suchte. Und Israelis kennen derlei „Märtyrerakte“ seit Jahrzehnten. Was so lange schon währt, wird unter weiterbestehenden Umständen gewiss nicht rasch enden. Wir Europäer tun deshalb gut daran, uns für längere Zeit auf ebenso schlimme Erfahrungen einzustellen, wie man sie in Israel macht.
Wir tun daran umso besser, als unsere freiheitliche Lebensart gerade Selbstmordattentätern eine Vielzahl leicht angreifbarer Ziele bietet. Die anscheinend innerhalb des „Stade de France“ geplanten Sprengstoffanschläge, gelingendenfalls ein Millionenpublikum zu Hause bis ins Innerste erschreckend, wurde wohl nur durch die Wachsamkeit von Ordnern verhindert. Doch werden wir es wirklich übers Herz bringen, Theaterbesuchen oder dem Einlass zu Weihnachtsmärkten und Volksfesten eine Sicherheitskontrolle wie bei Fußballspielen vorzulagern? Und falls ja: Für wie lange? Wir werden also zwischen Mut und Unterwerfung zu wählen haben – und unsere Lebensart sichernde Handlungsweisen von solchen zu unterscheiden haben, die ihrerseits genau das gefährden dürften, was wir erhalten wollen. Letzteres geht nicht ohne ein angemessenes Verständnis der Ursachen solchen Terrors. Denn keine Therapie wird gelingen, wenn die ihr zugrunde liegende Diagnose fehlerhaft ist.
II. Drei Ursachengefüge
Bei Terroranschlägen wie jenen in New York, Madrid, London und Paris kommen mindestens drei Ursachenstränge zusammen, die sich von Fall zu Fall in schwer vorherzusagender Weise verschlingen und verstärken.
Erstens sind da die Konflikte zwischen der arabischen Welt und „dem Westen“, als dessen nahöstlicher Vorposten Israel wahrgenommen wird. Deren Schubkräfte gehen zurück auf die demütigenden Erfahrungen der arabischen Länder, die nicht nur im Zug der osmanischen Expansion unter – immerhin islamische – türkische Oberherrschaft geraten waren, sondern seit Beginn des 19. Jh. mitsamt dem Osmanischen Reich auch noch die waffentechnische, wirtschaftliche und kulturelle Überlegenheit des „ungläubigen“ Westens erleben mussten. Die einstigen Eroberer der nahöstlichen, nordafrikanischen, ja sogar iberischen Teile des Römischen Reiches, die später im Verband des Osmanischen Reiches nicht nur in die Machtstellung des Oströmischen Reiches eingerückt waren, sondern – bis hin zur zweimaligen Belagerung Wiens – vom Südosten her starken Druck auf Europa ausgeübt hatten: Sie waren nun Objekte europäischer Großmachtpolitik geworden, Schachfiguren insbesondere Frankreichs und Englands, mit bis heute recht unnatürlich wirkenden Grenzen.
An solcher Demütigung änderte nichts, dass an die Stelle europäischer Mächte seit über einem halben Jahrhundert die USA getreten sind. Nicht besser macht die Empfindung demütigender Ohnmacht gerade heute, dass kaum ein Erzeugnis moderner Technik in der arabischen Welt ohne ausländische Lizenzen hergestellt werden kann, sondern gerade bei seiner Verwendung die Überlegenheit westlicher Errungenschaften vor Augen führt. Der Märchenglanz der Ölstaaten ist denn auch nur auf Geld für begehrte Bodenschätze sowie auf westliches Können gebaut. Der versuchte Wiederaufstieg der arabischen Völker nahm deshalb die Form des – inzwischen auch durch „Petrodollars“ genährten – Kampfs „gegen den Westen“ an, zumindest eines Kampfes gegen dessen Vorherrschaft in der eigenen Weltgegend. Und seit der Westen seine Grenzen nicht mehr zu sichern versteht, wird dieser Kampf verständlicherweise auf dessen eigenes Gebiet getragen. Westliches Eingreifen in die Machtpolitik des Irak, Libyens oder Syriens motiviert dazu erst recht, solange es Ressourcen nur zum Zerstören, nicht aber zum Neuaufbau einbringen kann.
Zweitens verband sich das zu Beginn des 20 Jh. unabweisbar gewordene, höchst widerwillige Eingeständnis, nach Jahrhunderten eines – aus der römischen Antike ererbten! – kulturellen Vorsprungs vor dem Westen nunmehr diesem unterlegen zu sein, mit folgender Ursachenfeststellung: Gerade weil Teile der Eliten nicht an den Lehren des Propheten und seiner Nachfolger festgehalten, sondern sich auf westliche Rechtsvorstellungen und Wirtschaftsweisen eingelassen hätten, wären die Grundlagen der eigenen Stärke unterhöhlt worden. Politische Machtlosigkeit war somit eine Folge der Vernachlässigung des Islam als einziger und selbstverständlicher Grundlage der eigenen Gesellschaft und Kultur. So entstanden ab dem zweiten Viertel des 20. Jh. Bewegungen wie die Muslimbruderschaft als Vorhut einer politischen Erneuerung – und zwar einer solchen, die eine gute Gesellschaft auf die Grundlage eines auch wieder politisch ernstgenommenen Islam stellen wollte. Dass wenige Jahre später das sowohl religiös nicht-muslimische als auch politisch westliche Israel im seit der arabischen Eroberung islamisch beherrschten Palästina zu einer Erfolgsgeschichte an Wohlstand und Macht wurde, ja 1967 mit der Jerusalemer Altstadt auch noch einige der Heiligen Stätten des Islam in seine Hand bekam, entwickelte sich erst recht zum Giftstachel im Leib der arabisch-islamischen Völker.
Der Kampf gegen jene „Ungläubigen“, die – in Gestalt der sowjetischen Armee 1979 – Afghanistan besetzt hatten und in Gestalt von US-geführten Allianzen später ebenfalls nach Afghanistan sowie in den Irak eingedrungen waren, ja obendrein – und befeuert von der als „Sieg westlicher Ideen“ missverstandenen „Arabellion“ – die in Libyen und Syrien funktionierenden arabischen Staaten zerbombten, motiviert erst recht dazu, im eigenen Glauben die Rechtfertigung und motivierende ethische Überhöhung des wie aufgezwungen wirkenden anti-westlichen Kampfes zu suchen. Auf diese Weise verband sich Religion, ebenso wie einst während der arabischen und osmanischen Expansion, mit der Anwendung militärischer Gewalt.
Letztere wird einfach nur angepasst auf die heutigen Umstände, die beim Kampf gegen den technisch weiterhin überlegenen Westen auch in der Offensive nach einer „asymmetrischen Kriegführung“ verlangen und auf diese Weise Kriegshandlungen von Terroranschlägen allenfalls entlang westlichen Kriegsvölkerrechts ununterscheidbar machen. Der „Islamische Staat“ ist – wie einst Al-Qaida und heute auch Boko Haram – nur eine heutige Erscheinungsformen dessen. Wenn in islamistischen Bekennerschreiben von einer „gesegneten Attacke“ die Rede ist, „die Allah ermöglichte“ und bei der „Soldaten des Kalifats“ den Krieg in eine der „das Banner des Kreuzes in Europa“ tragenden Hauptstädte „der Abscheulichkeit und der Perversion“ trugen, um Allahs „Feinde [zu] erniedrigen“ und „Angst in die Herzen der Feinde in ihrem eigenen Land“ zu bringen: dann sollte man dies also nicht einfach für blumige arabische Rhetorik halten, sondern für eine ehrliche Darstellung der verfolgten Absichten.
Drittens sind durch Einwanderung in nicht wenigen westlichen Staaten muslimische Minderheiten entstanden. Dies geschah im Wesentlichen seit der zweiten Hälfte des 20. Jh. und somit in Zeiten, als für die Mehrheit der westlichen Kultur-, Medien- und Politikeliten Religion mehr und mehr als eine politisch nicht sonderlich in Rechnung zu stellende Privatsache galt, von der man möglichst wenig Aufhebens machen solle, zumal sie ohnehin jegliche breitere gesellschaftliche Bedeutung bald verlieren werde. Also begegneten Einwanderergruppen, in deren Herkunftsländern sich gerade ein gegen den Westen gerichtetes Neuaufleben des Islam vollzog, solchen europäischen Gesellschaften, die sich möglichst religionsfrei zu machen versuchten und auf derlei „Entsorgung des Gestrigen“ oft auch noch ziemlich stolz waren. In diesen Völkern hielten die meisten den Islam denn auch für eine ebenso ihre eigenen Gestaltungsansprüche aufgebende Religion, wie man das inzwischen vom hergebrachten Christentum gewohnt war. Nicht wenige Christen sympathisierten umgekehrt mit dem Islam als seelisch verwandter Ausdrucksform des Religiösen, während sich ein Teil der säkularisierten Bevölkerung Europas vom Islam allein schon aufgrund von dessen emotionaler Anziehungskraft als selbstbewusster Religion bedroht empfand.
Solche Orientierungslosigkeit hinsichtlich einer sich neu ausbreitenden Religion verband sich außerdem mit großen Mängeln der Einwanderungs- und Integrationspolitik westlicher Staaten. In Frankreich und im Vereinigten Königreich verdankten sich solche Mängel durchaus nicht geringer kultureller Arroganz: Jeder vernünftige Mensch werde ohnehin die Überlegenheit der französischen oder britischen Kultur erkennen und sich deshalb anpassen; also gäbe es keinen vernünftigen Grund für Sorgen ob der bisherigen und der künftigen Einwanderung. In Deutschland wirkte hingegen – mit freilich gleichem Effekt – eine Mischung aus Ignoranz und kollektiver Ich-Schwäche. Erst rief man türkische Gastarbeiter ins Land und wollte nicht wahrhaben, dass aufgrund des von Mitmenschlichkeit gebotenen Familiennachzugs eine Parallelkultur von Netzwerken entstand, die von Deutschland kaum mehr als Arbeitsplätze und Sozialleistungen brauchten. Später war man dann sehr stolz darauf, als reiches Land eine unbegrenzte Zahl Asylbewerber aus aller Herren Länder aufnehmen zu können und – vor wenigen Jahrzehnten noch eine geächtete Nation – zum sich selbst gefallenden moralischen Vorbild des Westens aufzusteigen. Zugleich zweifelte man so sehr am Wert, ja überhaupt am Bestehen einer „deutschen Kultur“, dass man jeden Anschein einer „illegitimen Zwangsgermanisierung“ vermeiden wollte. Also gedachte man allenfalls die eigenen Verfassungsprinzipien und die Landessprache mit den Zuwanderern zu teilen, sie ansonsten aber kulturell nicht zu behelligen – und schon gar nicht mit einer „Leitkultur“ ihres neuen Aufenthaltslandes.
Das alles führte in manchen europäischen Ländern zu vielerlei zwar nicht wirklich beabsichtigter, doch in der gelebten Alltagskultur sich eben einspielender Absonderung zwischen großen Teilen der zugewanderten und der einheimischen Bevölkerung. Es wuchs einfach nicht zusammen, was nicht zusammenwachsen wollte – und aus der Warte mancher auch gar nicht zusammenwachsen sollte. Schmerzliche Ausgrenzungserlebnisse widerfuhren zumal der zweiten Generation von Eingewanderten, die dank oft gut beherrschter Landessprache besonders fein zu empfinden vermochten, dass ihr Dazugehörenwollen sich am weiterbestehenden Für-fremd-gehalten-Werden brach. Und wo – wie vielfach in Frankreich, doch auch in Deutschland – die Elterngeneration kaum mehr aufgebaut hatte als eine Unterschichtenexistenz, verbanden sich alsbald soziale Konflikte mit ethnischen und kulturellen Konflikten. Aus ihnen entstand in der dritten Generation nicht selten eine Art trotziger Rückbesinnung auf die – unter Muslimen: gerade auch religiösen – Eigentümlichkeiten ihrer Herkunftskulturen.
Das Feuer einer aus Entfremdungserfahrungen genährten Religiosität schlug dann aber oft genug Funken auch noch im ausgetrockneten Unterholz der – zumal nach dem Abklingen des Sozialismus als Ersatzreligion – ziemlich transzendenzfrei gewordenen westlichen Gesellschaften. Recht schadlos war dies dort, wo in derlei Sinnlücken etwa buddhistische Orientierungen drangen. Anders verhielt es sich, wo der auf ganz andere Sinnhorizonte ausgerichtete Islam innere Stärke und biographische Tröstung in Aussicht stellte. So entstand – und zumal unter Jugendlichen, die auf der Suche nach Lebenssinn und Lebensaufgaben sind – eine Fanatikerszene, in der sich Attentäter finden. Je nach Betrachtungsweise gelten sie dann als Märtyrer oder als Terroristen.
Zu welchen Giftgewächsen diese drei Wurzeln von islamistischer Gewalttätigkeit jeweils führen werden, lässt sich nicht vorhersagen. Doch wir müssen davon ausgehen, dass da noch vielerlei wachsen und auf seine Umwelt einwirken wird. Was wäre in dieser Lage von jenen zu tun, denen unser Europa mit seiner bis heute entstandenen Kultur am Herzen liegt?
III. Was tun?
Wir sollten uns nicht auf radikale, ja ihrerseits extremistische Lösungswege begeben, die beschreitend wir genau die Grundlagen unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnungen zerstörten. Auf diesen Wegen dächte man zunächst an einen Aufnahmestopp für alle muslimischen Asylbewerber oder Flüchtlinge, am Ende an die Ausweisung aller in unseren Ländern befindlichen Muslime – so wie es nach 1492 auf der iberischen Halbinsel die spanischen Könige mit den Juden hielten, und dann im 20. Jh., mit noch schlimmerem Ende, die Nazis bei ihrer „Lösung der Judenfrage“. Für eine Übergangszeit würde man Internierungslager einrichten, wie einst die USA während des Zweiten Weltkriegs für ihre japanischen Landsleute. Das alles mag funktional plausibel sein, ist aber ethisch schändlich – zumindest solange, wie wir jene Prinzipien nicht aufgeben wollen, auf die wir als Erben von Christentum und Aufklärung stolz sein können.
Wir sollten uns auch nicht allzu lange mit Planungen dafür beschäftigen, die Ursachen von islamistischem Terrorismus in den arabischen Ländern zu beseitigen – also mit Versuchen, von außen her dort Bürgerkriege zu beenden oder stabile Staaten aufzubauen. Es ist zwar nicht so, dass dies ein an sich schon verfehlter Politikansatz wäre. Doch wenn dem Wollen nicht das Können entspricht, entsteht nicht selten Schlimmes – und öfter noch rein Symbolisches, das eigenen Handlungsmöglichkeiten fortan erst recht schadet. Also sollten wir uns hinsichtlich dessen ehrlich machen, was wir außerhalb Europas mit realistischen Erfolgsaussichten leisten können.
Fremde Länder zu befrieden oder wenigstens zu deren erhofftem Vorteil politisch umzugestalten, schafften die Europäer allenfalls zu Zeiten ihrer großen Überlegenheit, also im Hochimperialismus. Auch die auf Europas Spuren wandelnden amerikanischen Versuche von weltweiter Nationenbildung, Demokratiegründung und polizeiartiger Friedensstiftung scheiterten inzwischen. Unter den heutigen wie künftigen Möglichkeiten asymmetrischer Kriegsführung wird derlei erst recht misslingen. Das erlebte nicht nur die US-geführte „Koalition der Willigen“ im Irak, sondern auch das sich um so viel klüger dünkende Deutschland beim im ISAF-Verbund unternommenen Vorhaben, in Afghanistan ein stabiles Staatswesen zu errichten.
Wir tun deshalb gut daran, zwei Sachverhalte einzusehen, die unsere Handlungsmöglichkeiten eng begrenzen. Wir sollten sie darum bei der Planung unserer Außenpolitik beherzigen. Einesteils fehlen den europäischen Staaten aufgrund ihrer demographischen Entwicklung sowie der Abschaffung allgemeiner Wehrpflicht auf Dauer jene Bodentruppen, mit denen allein sich Staatsgewalt gegen Widerstand aufrichten und sichern lässt. Andernteils fehlt dem Westen – und zumal den europäischen Ländern – für ein dauerhaftes militärisches Engagement auch die innenpolitische Durchhaltefähigkeit. Die unvermeidlichen „hässlichen Bilder“ nämlich, über Fernsehen und Internet rasch verbreitet, lassen verlässlich jede leicht begeisterte Hilfsbereitschaft in Sehnsucht nach bedingungsloser Neutralität umschlagen. Deshalb wirken sie bereits als in Rechnung zu stellende politische Möglichkeit abschreckend. Nichts anderes hat der jüngste Streit um die Sicherbarkeit nationaler Grenzen angesichts von nach Deutschland drängenden Flüchtlingsströmen gezeigt. Geld allein aber, des Westens bequemes Aushilfsmittel, wird auch in der Zukunft kaum mehr bewirken als die jahrzehntelange Wirtschafts-, Militär- und Entwicklungshilfe der Vergangenheit – nämlich korrupte Strukturen in den unterstützten Staaten, obendrein von außen her auferlegte innerstaatliche Machtverteilungen, gegen die immer wieder Teile der Bevölkerung revoltieren und auf diese Weise zerstören, was im Kleinen trotz allem erreicht werden konnte.
Zielführend wird deshalb allein die folgende Mehrfachstrategie sein.
Erstens müssen wir erneut unsere Grenzen sichern, um wieder die Kontrolle darüber zu erlangen, wer in unsere Länder kommt und sich dort aufhält. Solange kein wirksamer Schutz der EU-Außengrenze möglich ist, müssen subsidiär wieder verlässliche Sicherungsmaßnahmen der innereuropäischen Staatsgrenzen durchgeführt werden. Das darf die Befestigung von Grenzabschnitten einschließen. Ohne derlei Sicherungsmaßnahmen wird das Vertrauen der Bevölkerung in unsere Staaten und in deren Regierungen unterhöhlt werden, wird sich der Bedrohung durch Terror auch noch innenpolitische Instabilität hinzugesellen, und wird das Bestehen der gestellten Herausforderungen erst recht schwer werden.
Zweitens müssen alle in Europa auftretenden Attentäter identifiziert und – falls ihre Anschläge überlebend – festgenommen sowie streng bestraft werden. Milde ist unangebracht, denn für derlei Gewalthandlungen gibt es in freiheitlichen, demokratisch regierten Gesellschaften nicht die mindeste Rechtfertigung. Außerdem müssen die jeweiligen Staatsschutzbehörden in die Lage versetzt werden, wirksame Aufklärungsarbeit in jenen Milieus und Regionen zu betreiben, in denen die Wahrscheinlichkeit eines Entstehens terroristischer Aktivitäten besonders groß ist. Das alles wird nicht nur erhebliche Gelder für Personal und Aufklärungsmittel verlangen, sondern auch ein großes Maß an Bereitschaft, mit Misslingendem und Lästigem zu leben.
Drittens müssen wir die Fehler unserer Integrationspolitik abstellen. Nicht die Aufnahme und Beherbergung von Geflüchteten darf das vorrangige Ziel sein. Richten müssen sich alle Anstrengungen vielmehr auf eine möglichst vollständige Integration von Zugewanderten mit Bleiberecht in die Staatsvölker jener Staaten, in denen sie Sicherheit oder ein besseres Leben suchen. Es hat sich keineswegs bewährt, für einen Großteil der Zugewanderten ein Leben im Schwebezustand zwischen Bleiben und Gehen zu ermöglichen. Folglich muss entschlossene Integrationspolitik mit einer ebenso entschlossenen Rückführungspolitik verbunden werden. Zwar soll niemand gezwungen werden, sich in jene Gesellschaft zu integrieren, in die er einst gelangt ist, oder die Staatsbürgerschaft jenes Landes anzunehmen, in dem er auf Dauer lebt. Doch es sollte auch nicht länger geduldet werden, dass Menschen in einem Land leben, in dem sie durch ihre Lebensführung anzeigen, dass sie nicht wirklich zu dessen Gesellschaft gehören wollen.
Viertens müssen wir uns davor hüten, die drei Wurzeln des uns zu Recht sehr besorgt machenden islamistischen Terrorismus weiter zu nähren. Außenpolitisch verlangt das nach einer defensiven Politik, die nie über unsere realen Machtmöglichkeiten hinausgeht. Innenpolitisch fordert uns dies ein Bündnis mit jenen europäischen Muslimen ab, die – darin gerade nicht in der Haupttraditionslinie ihrer Religion stehend – ihren Glauben mit der Überzeugung zu verbinden trachten, dass die freiheitliche demokratische Grundordnung und die westliche Kultur ihrerseits sehr wertvolle Güter sind, die man keineswegs um einer in ganz anderen Umständen ausgeprägten Religion willen gefährden darf. Konkret münden muss das allenthalben in die gesellschaftlichen und politischen Unterstützung liberaler Muslimverbände, in den Gebrauch der jeweiligen Landessprache bei Predigten in den Moscheen, in Deutschland obendrein in die flächendeckende Einführung eines der staatlichen Aufsicht unterstellten muslimischen Religionsunterrichts an allen staatlichen Schulen für Kinder islamischen Glaubens. Das wiederum setzt die Ausbildung von auch mit unseren Verfassungsprinzipien vertrauten Religionslehrern an öffentlichen Universitäten voraus. Begleitend müssen durch geeignete Aufklärungsarbeit alle Versuche abgewehrt werden, aus der Tatsache islamistischen Terrors Abneigung gegen alle Muslime wachsen zu lassen.
Gelingt es uns nicht, auf diese Weise die für unsere freiheitliche Lebensart gewinnbaren Muslime an unserer Seite im Kampf gegen den islamistischen Terrorismus zu haben, so werden wir in einen Bürgerkrieg zwischen Kultureuropäern und Europafeinden geraten. In dessen Verlauf werden dann für sehr viele Europäer alle jene radikalen, gar extremistischen Lösungsmöglichkeiten der „Muslimfrage“ plausibel werden, die ethisch schändlich sind. Eine solche Entwicklung aber sollten wir unter Inkaufnahme selbst großer Risiken zu vermeiden versuchen.
Bei alledem gilt es, mit einer gewissen alltäglichen Tapferkeit sowie mit ruhigem Stolz an den kulturellen Eigentümlichkeiten Europas nicht nur festzuhalten, sondern diese – samt einer sie tragenden mutigen Grundhaltung – auch an die nachrückenden Generationen weiterzugeben. Das wird nach durchaus weniger nachlässigen Bildungsanstrengungen verlangen, als wir sie uns und unseren jungen Leuten während der letzten Jahrzehnte zugemutet haben. Zum auf diese Weise Weiterzugebenden und in Geltung zu Haltenden gehören nicht nur die mühsam genug errungenen Werte von mit Augenmaß genutzter Freiheit und keineswegs prinzipienloser Toleranz, von materieller Rechtsstaatlichkeit und durch eigene Beteiligung lebendig gehaltener Demokratie, von praktizierter Achtung sowohl vor jeder Religion als auch vor dem persönlichen Verzicht auf Religion. Sondern dazu gehören ebenfalls die einfach „nur so“ gewordenen, oft recht zufälligen, gerade darin aber allein zu unserem Weltteil gehörenden Züge Europas. Diese reichen von der Verwurzelung unserer Kultur in der griechisch-römischen Antike sowie in den von Ägypten über Syrien und Anatolien bis nach Persien reichenden Kulturen der Alten Welt über die Prägung unserer Kultur durch das – zumal im germanischen Einflussbereich zunächst so stark barbarisierte – Christentum sowie über deren tiefgreifende Umprägungen durch Renaissance und Aufklärung bis hin zu unserer heutigen – oft auch widersprüchlichen – Praxis von Nachhaltigkeit, Sozialstaatlichkeit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Ganz konkret gehören zu dieser Kultur auch die Unterscheidung von religiösem Bekenntnis und politischer Gestaltungsbefugnis, die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie die Hinnahme sexueller Vielfalt.
Dies alles muss nicht nur in familiären und gesellschaftlichen Bildungsprozessen sowie im öffentlichen Reden im Bewusstsein gehalten und mit immer wieder neuer Leuchtkraft versehen werden. Sondern derlei muss auch als gelebte Praxis unseren Alltag prägen – und zwar gerade dann, wenn Terroranschläge eine Abkehr von bisherigen kulturellen Errungenschaften als den weniger riskanten, den bequemeren Weg erscheinen ließen. Gewiss sollten wir immer wieder prüfen, ob wir richtige Ansätze nicht manchmal zu weit getrieben haben – und wie wir weiterer Fehlentwicklung wehren könnten, etwa dort, wo wir als Folgen von Freiheit Drogenkriminalität, sexuelle Ausbeutung und eine Verwahrlosung öffentlicher Räume erkennen. Doch grundsätzlicher Verzagtheit ob unseres Lebensstils und seiner Grundsätze dürfen wir uns nicht hingegeben. Wenn wir nämlich jenes große Erbe, das unser Europa in der Welt so wunderbar macht, nicht in jeder Generation neu erwerben und gerne pflegen, so werden unsere alten Städte zu zwar hübsch hergerichteten, doch als wirklicher Lebensraum aufgegebenen Freiluftmuseen. Deren Umwohner werden dann immer weniger kulturellen Selbstbehauptungswillen besitzen. Dessen Überreste aber zersprengt leicht eine anhaltende, von außen nach Europa getragene Gewalttätigkeit. Und vom Terrorisieren kann sich unter solchen Umständen leicht aufs Erobern umorientieren, wem nach dem heutigen „Goldenen Apfel“ – wie die Türken einst die Kaiserstadt Wien nannten – als Siegesbeute verlangt.
Um ein Europa, das seinen freiheitsfeindlichen Gegnern durch furchtgeleitete Selbstbarbarisierung ähnlich geworden wäre, muss es nicht einmal schade sein. Für ein Europa, dass sich aus Schwäche aufgäbe, gilt Ähnliches. Doch nichts zwingt uns auf einen der beiden Wege. Wir haben schlicht eine Doppelherausforderung anzugehen: Schutz aufbauen gegen Angriffe auf uns – und jene innere Stärke an den Tag legen, von der die Wirksamkeit aller äußeren Abwehrmaßnahmen abhängt. Von beidem aber können wir voller Zuversicht sagen: Ja, wir schaffen das!
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