Was in Deutschland schiefläuft
„Neukieritsch“ und die Grenzkontrollen
Zwei Meldungen stachen aus den Nachrichten vom Sonntag heraus. Auf den ersten Blick haben sie wenig miteinander zu tun. Doch unterirdisch sind sie miteinander verbunden. Tatsächlich ist an ihnen am wichtigsten, worum es in beider Tiefenstruktur geht.
Erstens wurde im südlich von Leipzig gelegenen Neukieritsch ein Anschlag auf jenes Gebäude verübt, in dem die sächsische LINKE ihren Parteitag abhielt. Behinderung der ordnungsgemäßen Arbeit einer Partei, verbunden mit Hass auf politische Gegner, dürfte das Motiv gewesen sein. Derlei ist menschlich niederträchtig und politisch verwerflich. Unsere Demokratie ist nämlich auf starke Parteien gegründet, ja sie lebt nachgerade davon, dass Parteien ihre Aufgaben erfüllen: sich mit der Bevölkerung vernetzen und deren Ansichten aufgreifen; politische Programme erarbeiten und öffentlich vorstellen; ihre Amtsinhaber und Kandidaten wählen; frei um Stimmen werben. Wer dergleichen zu verhindern versucht, ist aufzuspüren; wer dabei Straftaten verübt, gehört bestraft.
In der Tiefenschicht politischer Kultur zeigt sich hier – einmal mehr – die folgende Verrohung, ja krankhafte Störung unserer Demokratie:
Man begnügt sich nicht damit, gegnerische politische Positionen mit Argumenten zu bekämpfen und für alternative Positionen in fairer Konkurrenz zu werben, sondern man versucht, den politischen Gegner überhaupt daran zu hindern, missliebige Positionen zu erarbeiten, diese in die Öffentlichkeit zu tragen und obendrein zu personalisieren. Man geht also nicht wie gegen eine rivalisierende Fußballmannschaft in einen geregelten Streit, sondern bekriegt einen Feind. Derlei fiel nicht vom Himmel, sondern wurde zu einer „progressiven Selbstverständlichkeit“ im „Kampf gegen rechts“, zur „reaktionären Selbstverständlichkeit“ im „Kampf gegen Fremdvölkische und Volksverräter“. Freiheitliche Demokratie aber beruht nicht auf Freund/Feind-Beziehungen, sondern auf dem diskursiven – und allein in der Wahlkabine zu entscheidenden – Ringen zwischen Gegnern, die einander als Mitbürger und Menschen respektieren. Voraussetzung dafür sind freilich auch Positionen, die man respektieren kann. Das aber sind alle (!), die mit den Prinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung vereinbar sind.
Leider ist es inzwischen zu spät, den Anfängen jener Verrohung zu wehren. Doch wir können, Neukieritsch und andere schlimme Fälle vor Augen, auf diesem für unsere Demokratie verhängnisvollen Weg einhalten, ja umkehren. Und Diskussionen darüber, „wer angefangen hat“, dürfen ruhig aufgeschoben werden bis zum Tag, da wieder unvergiftetes politisches Streiten üblich ist.
Die zweite herausstechende Meldung von gestern war die, dass Deutschland wieder Grenzkontrollen einführt – ganz deutlich in der Absicht, den Zustrom an Bürgerkriegsflüchtlingen, Asylbewerbern und sonstigen Migranten in unser Land deutlich zu verringern. Schwerlich kann jene Wendung noch markanter ausfallen, die nun Deutschlands Einwanderungspolitik im Vergleich mit jenem Tag genommen hat, da auch die Bundeskanzlerin (mit freilich viel weniger emphatischen Worten) in den Ruf eingestimmt hatte: „Say it loud, say it clear: refugees are welcome here!“ – wenigstens, falls sie aus Syrien kommen oder dies, für des Arabischen Unkundige, glaubhaft versichern. Ob nun mit Erleichterung, gemischten Gefühlen oder Zorn aufgenommen: Diese Wendung folgte auf eine Woche, in der sich Deutschland wieder mochte wie schon lange nicht mehr und sich gar nicht genug freuen konnte über jedes dahingehende Lob unserer Willkommenskultur, an solchem deutschen Wesen könne die Welt wohl doch genesen.
Sind seit gestern nun Rassismus und Ausländerhass zu Leitlinien der Politik unserer Koalition aus Union und SPD geworden? Müssen nun wohl alle Bewohner von Lichtdeutschland hinaus auf die Straße, nämlich zum Protest gegen diesen Anschlag unserer Regierung auf die Wertgrundlagen der EU? – Vielleicht wäre es besser, in der Tiefenschicht jener Meldung über die Einführung von Grenzkontrollen den folgenden Zusammenhang zu erkennen:
Es setzt zwar das Grundrecht auf Asyl keine Obergrenze der Einwanderung nach Deutschland; sehr wohl tut dies aber das mit gegebenen Ressourcen Machbare. Deshalb ist in den letzten Wochen, ganz in deutscher Tradition, wieder einmal Idealismus in Widerstreit damit geraten, wie die Welt nun einmal wirklich funktioniert. Wenn sich das aber so verhält: Wie weise ist war dann, sich erst einmal in eine regulative Katastrophe hinein – oder zumindest an deren Rand – zu begeben, um unter dem Druck der Wirklichkeit dann eben doch zu tun, was man unter dem Sog von Idealen zunächst einmal entrüstet abgewiesen hatte? Und wie klug war es wohl, jenen Leuten erst einmal mit Lächerlichmachen, Verachtung und Ausgrenzung zu kommen, die eben früher als andere empfunden haben, dass die Politik unser Land da in eine Sackgasse steuert? Die sich zunächst nur Sorgen machten, inzwischen aber mehr und mehr wenig hilfreicher Empörung über unsere politisch-mediale Klasse hingeben?
Genau an dieser Stelle hängen nun aber die Tiefenschichten dessen zusammen, was in jenen beiden Meldungen berichtet wurde. Wir sind nämlich dabei, in idealistischer Absicht redliche Diskussionen über unsere unterschiedlichen Problemsichten, Prioritätensetzungen und Politikvorstellungen durch Ausgrenzung von Andersdenkenden oder durch Anschläge auf Anderswollende zu ersetzen. Wie gut auch immer das gemeint sein mag: Am Ende wird Polarisierung, Gewalttätigkeit, Verlust des freiheitlichen Charakters unseres Gemeinwesens stehen.
Noch haben wir Zeit, den Streit darüber, wie wir den längst eingesetzten Wandel unserer Gesellschaft gestalten sollten, auf andere, bessere, richtige Weise zu führen. Noch – doch wohl nicht mehr lange. Nutzen wir also diese Zeit, und verbinden wir – endlich – Gutwilligkeit mit Vernunft, eigenes Engagement mit Respekt vor anderen, Idealismus mit Beachtung jener Zusammenhänge, die sich unserer Verfügung entziehen!
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