Familienpolitik und Elternwahlrecht
Bis vor wenigen Jahrzehnten galt es als bestmöglicher Lebensentwurf, Kinder zu haben und sie in Familien zu erziehen. Beides ist auch heute noch ziemlich normal. Dennoch gilt derlei in weiten Teilen der Öffentlichkeit als eher altmodisch, als ein mehr und mehr „überholtes Modell“ des Zusammenlebens. Zwar wünschen sich die meisten jungen Leute immer noch Kinder und Familie. Aber sie verwirklichen diesen Wunsch dann großenteils doch nicht. Anscheinend fällt es vielen schwer, den „passenden Zeitpunkt“ oder halbwegs „passende Umstände“ für die Gründung einer Familie mit Kindern zu finden. Kinder und sie umsorgende Familien könnte eine Gesellschaft allerdings gut brauchen, zumal dann, wenn sie ansonsten gerne „Nachhaltigkeit“ zu einem ihrer überwölbenden Ziele macht. Jedenfalls ahnen wir, dass ohne genügend Kinder und junge Leute uns alsbald Zukunftslust und Kreativität fehlen werden – und profanere Dinge wie Arbeitskräfte und wirtschaftsförderliche Nachfrage ohnehin.
Angesichts des Fehlens eigener Kinder auf eine Zuwanderung von Eltern mit Kindern zu setzen, also klassische „Peuplierungspolitik“ zu betreiben, bringt gewiss dünn besiedelten Ländern große Vorteile. Einwanderungspolitik, zumal wenn nicht gut auf die Bedürfnisse des aufnehmenden Landes ausgerichtet, zieht aber in bereits volkreichen Ländern etliche soziale Spannungen und erhebliche Integrationsprobleme nach sich. Nicht nur in Deutschland, sondern auch in Frankreich und Großbritannien, in Schweden und in Italien ist derlei unverkennbar. Deshalb bietet sich Einwanderungspolitik nur als Ergänzung, doch nicht als grundsätzliche Alternative zu einer solchen Politik an, die auf ausreichend viele Kinder in gut zusammenhaltenden Familien ausgeht. Also zurück nach gestern?
Abschied von Familien?
Es ist eine geschichtlich wiederkehrende Mode, zur eigenen Lebenszeit etwas Neues nicht nur entstehen sehen, sondern an ihm auch selbst mitwirken zu wollen. So geht es heute der Familie. Mit „traditionelle Familie“ wird etikettiert, was nicht nur am Schwinden ist, sondern um das es auch nicht schade wäre; und neue Formen des Zusammenlebens gelten nicht einfach nur als neu, sondern obendrein als erstrebenswert, da irgendwie besser. Familie ist heute, wo Generationen zusammenleben und Verantwortung füreinander übernehmen. Für eine solche Familie ist es ganz gleich, ob der Generationenverbund durch Zeugung und Geburt, durch Adoption oder durch vertragsartige Verhältnisse zustande kommt. Ebenso ist es egal, ob im Mittelpunkt einer solchen Familie jene heterosexuellen Beziehungen stehen, aus denen in der Regel auch ohne medizinische Hilfsmittel Kinder hervorgehen, oder homosexuelle Beziehungen, die ohne (faktische) Adoption oder ohne assistierte Fortpflanzung es schwerlich schaffen, einen Generationenverbund aufzubauen.
Das alles ist sicher auch Familie im heutigen Verständnis. Ist das alles aber auch in gleicher Weise Familie? Und mit gleicher Nachhaltigkeit?
Zu den Merkwürdigkeiten heutiger Diskurslagen gehört, dass einesteils Nachhaltigkeit, Ökologie und Biologie eng zusammengedacht und zusammengebracht werden, dass andernteils aber der Blick auf biologische Befunde für problematisch, ja für unzulässig erklärt wird, sobald es um Zusammenhänge zwischen Biologischem und Sozialem bzw. Kulturellem geht. Besonders deutlich ist das in der Genderforschung. Diese will großenteils einen dicken Trennstrich zwischen biologischem Geschlecht und soziokulturell konstruiertem „Gender“ ziehen. Darin gleicht sie Hausbesitzern, welche die oberirdischen Teile ihrer Gebäude ganz unabhängig von deren unterirdischen Fundamenten zu verstehen und zu verändern versuchen. Nur weniger deutlich, doch nicht minder folgenreich ist solches Verlangen nach „Trennstrichen“ zwischen Biologischem und Soziokulturellem beim Blick auf Generationenverbünde. Bei ihm ist es inzwischen sehr verpönt, auch das zur Kenntnis zu nehmen, was die Soziobiologie über den Zusammenhang zwischen Verwandtenselektion und Altruismus herausgefunden hat, oder die Populationsökologie über den Zusammenhang zwischen der Hervorbringung von Nachwuchs und der künftigen Ausgestaltung jener ökologischen Nische, in der bislang ein Generationenverbund besteht. Tatsächlich schwand über der Erkenntnis, dass durchaus nicht „Blut und Boden“ bestimmen, wer wir sind und was wir tun sollten, mittlerweile auch die Bereitschaft zur Einsicht, dass Gene und Umwelt sowie beider Zusammenwirken ebenfalls beim soziokulturellen Evolutionsprozess unhintergehbare Faktoren dessen sind, was wir sein und wie wir nachhaltig handeln können.
Familienpolitische Folgerungen
Also wäre es nicht unangebracht, unter den vielen Ausprägungsformen von Familie jene besonders wichtig zu nehmen und zu schützen, die als einzige für eine nachhaltig bestandsfähige Gesellschaft unverzichtbar ist. Das ist vor allem jener Generationenverbund, der auf solcher sexueller Fortpflanzung beruht, die in der Regel ohne weitere Hilfsmittel auskommt. Zu allen anderen Formen von Familie steht diese eine Ausprägung im Verhältnis von Zentrum und Umgebung, von Kerngeschäft und Extras, von Pflicht und Kür. Kaum einer wird im Allgemeinen die Kür, das Extra, die Umgebung als irgendwie „abgewertet“ empfinden, wenn zugleich auf die Wichtigkeit der Pflicht, des Kerngeschäfts oder des Zentrums verwiesen wird. Es gibt keinen guten Grund, dies beim Blick auf Familien anders zu halten.
Dann aber erkennt man: Auf Adoption oder assistierte Fortpflanzung gegründete Generationenverbünde, desgleichen jene Partnerschaften, die um homosexuelle Beziehungen herum gebildet werden, sind ihrer selbst willen wertzuschätzende und deshalb rechtlich gerade nicht als „Abweichung“ zu behandelnde Einzelformen von Familien. Doch sie brauchen im gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang den sich auch ohne weiteres Zutun sich fortpflanzenden Generationenverbund als „Zentrum“, als „Kerngeschäft“ und, in dieser Hinsicht, auch als „Pflichtaufgabe“ einer Gesellschaft, wenn diese – doch freilich: nur wenn diese – mitsamt ihren kulturellen und zivilisatorischen Errungenschaften Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte überdauern will. Im Übrigen muss es durchaus nicht auf Abwege führen, wenn man einen solchen, Jahrhunderte überspannenden Generationenverbund ein „Volk“ nennt.
Wo ein Volk mit den Mitteln der Politik sich selbst regiert, spricht man meist von „Volkssouveränität“. Und weil „herrschen“ auf Griechisch „krateîn“, das Volk aber „demos“ heißt, redet man von „Demokratie“ dort, wo ein Volk sich einen von ihm gewünschten Staat schafft und diesen dann, direkt oder indirekt, gemäß pluralen, von konkurrierenden Gruppen getragenen Interessen ausgestaltet. Rasch liegen dann freilich zwei Fragen nahe. Erstens: Welche Interessen der um private Güter konkurrierenden Gruppen soll ein Staat bevorzugt berücksichtigen, wenn er auf Nachhaltigkeit ausgeht? Und zweitens: Wie lassen sich mit den Mitteln der Demokratie gerade jene Interessen durchsetzungsfähig machen, die dem öffentlichen Gut der Nachhaltigkeit dienen? In Bezug auf Familien wird eine plausible Antwort auf diese Fragen wohl mit folgender Überlegung beginnen können:
Menschen haben gewiss jedes Recht, über die Art ihres Zusammenlebens sowie über das Ob und Wie ihres eigenen Beitrags zu Generationsverbünden frei zu entscheiden. Doch weil nicht alle Arten von Generationsverbünden gleich viel zur Nachhaltigkeit einer Gesellschaft beitragen, hat der Staat jenen Generationsverbünden besonders günstige Umstände zu schaffen, welche die natürliche Reproduktion des Staatsvolkes ermöglichen. Deutlicher formuliert: Es gibt überhaupt keinen anderen überzeugenden Grund für eine rechtliche oder steuerliche Privilegierung von Familien als den, dass allein auf – natürlicher oder assistierter – sexueller Reproduktion bzw. auf Adoption beruhende Generationsverbünde einem Volk seine demographische Nachhaltigkeit von innen her sichern können. Die Interessen von Generationsverbünden sind deshalb viel klarer im Einklang mit jenen öffentlichen Interessen, die man gemeinhin das „Gemeinwohl“ nennt, als es die Interessen kinderloser Eheleute bzw. Partner je sein können. Diese letzteren steuerlich zu privilegieren, läuft auf letztlich ungerechtes Umverteilen knapper Staatsmittel hinaus. Hingegen liegt es ganz auf der Linie einer umfassende Nachhaltigkeit anstrebenden Politik, die Interessen von Generationsverbünden wirkungsvoll durchsetzbar zu machen.
Die konkrete Aufgabe
Wie aber kommen wir zu einer Politik, die es erleichtert, vielfach gehegte Kinderwünsche ins Gründen von Familien münden zu lassen? Wie führen wir verlässlich jene Veränderungen herbei, die unsere Gesellschaft wieder zu einer nachhaltig bestandsfähigen machen könnten? Wie wäre es möglich, Generationengerechtigkeit gerade mit den Mitteln der Demokratie sichern?
Am besten fragen wir zunächst, warum wohl unser Steuerrecht, warum unser Rentensystem, warum die rechtlichen Regelungen unserer Arbeitswelt es so wenig attraktiv machen, Kinder zu haben und Familien zu gründen. Nach einigen Zwischenschritten wird man wohl auf die folgende Antwort kommen: Es bringt für die politischen Parteien, ihrerseits die zentralen Akteure unserer Demokratie, keinerlei Mehrwert, mittels der von ihnen angebotenen und durchgeführten Politik die Geburt und Erziehung von Kindern in Familien zu honorieren. Entsprechend sehen die Regelungen unserer Arbeitsverhältnisse, unser Steuerrecht und unser Rentensystem aus.
Wie aber könnten wir dem Interesse unserer Gesellschaft an demographischer Nachhaltigkeit mehr Nachdruck verleihen und die Wünsche vieler junger Leute nach günstigen Umständen für Kinder und Familien besser erfüllen? Wie ließe sich das zumal in einer – uns unabwendbar bevorstehenden – Demokratie bewerkstelligen, in der die Älteren nicht nur einen immer größeren Bevölkerungsanteil ausmachen, sondern – dank überdurchschnittlicher Wahlbeteiligung – auch besonders großen Nachdruck hinter ihre Anliegen setzen können? Und welche Maßnahmen wären dienlich, um die jetzt schon abzusehenden Verteilungskonflikte zwischen der schrumpfenden Zahl von Erwerbstätigen und der wachsenden Anzahl von Versorgungsempfängern in dauerhaft demokratieverträglicher Weise lösbar zu machen?
Der Lösungsweg
Natürlich verbietet es sich aus ethischen und verfassungsrechtlichen Gründen, Älteren ihr Wahlrecht einzuschränken. Also muss man den Jüngeren größeres politisches Gewicht verschaffen. Eben das ist ein Motiv für die Absenkung des Wahlalters. Sie führt freilich in eine Sackgasse. Zwar finden sich einige Gründe für ein aktives Wahlrecht ab 17, 16, 15 Jahren usw. Doch irgendwann sinkt die Plausibilität der Annahme, auch sehr junge Leute könnten, dank ihres Wahlrechts, zu unserer Demokratie beitragen. Dem Zehnjährigen sollte in der Wahlkabine wohl ein Erwachsener die Hand führen, und beim Kleinkind kann das gar nicht anders sein. Dann aber möchte man doch lieber gleich über ein höchstpersönliches Elternwahlrecht zugunsten noch nicht wahlberechtigter Kinder nachdenken.
Tatsächlich würden für die politischen Parteien sehr stark veränderte Politikanreize gesetzt, wenn auch noch die Stimmen der nicht wahlberechtigten Kinder sozusagen „auf den politischen Markt“ kämen. Dann wäre es nämlich für alle Parteien höchst attraktiv, auf möglichst viele Stimmen derer auszugehen, die Kinder haben. Erst recht gilt das für die aufziehenden Zeiten großer Wählerfluktuation und eines sich aufsplitternden Parteiensystems. Selbst kleinere zusätzliche Stimmenanteile können dann nämlich dafür entscheidend sein, ob man regieren darf oder opponieren muss, ins Parlament gelangt oder machpolitisch drittklassig bleibt.
Familienfreundliche Politik
Unter solchen Umständen aber entstünde rasch ein intensiver Parteienwettbewerb um solche Politik, die auf spürbare Verbesserungen der Arbeits-, Steuer- und Rentenverhältnisse derer ausgeht, die Familien gründen, Kinder in die Welt setzen und diese so erziehen, dass eine Gesellschaft mitsamt ihren Errungenschaften nachhaltig bestehen kann. Angesichts regelmäßiger Wahlen käme es obendrein zum ganz unausweichlichen Druck darauf, solche Politik nicht nur anzukündigen, sondern auch wirkungsvoll umzusetzen. Als Folge all dessen würden schon binnen weniger Jahre für Familien mit Kindern deutlich bessere rechtliche, wirtschaftliche und soziale Rahmenbedingungen geschaffen. Unter so veränderten Umständen wäre durchaus zu erwarten, dass alsbald viel mehr junge Leute als heute ihren Wunsch nach Kindern und Familie verwirklichten. Also dürften dann wieder die Geburtenanzahlen soweit ansteigen, dass wir uns um die Nachhaltigkeit unserer Gesellschaft keine Sorgen mehr machen müssten. Und jene Gerechtigkeit, die Vorbedingung für soziale und politische Nachhaltigkeit ist, würde zwischen den Generationen dank völlig gleichen Stimmengewichts zwischen allen Bürgern mit gleicher Staatsangehörigkeit immer wieder neu ausgehandelt und hergestellt. Das ginge umso leichter, als Kinderzahlen, die zu einem konstant bleibendem Bevölkerungsaufbau führen, auch große Chancen dafür bieten, dass die Wirtschaftskraft eines Landes – genährt aus Innovation und Nachfrage – sich nicht mindert und deshalb ausreichend Mittel zu einer ansehnlichen Versorgung der Älteren verfügbar macht.
Elternwahlrecht
Was also wäre konkret zu tun? Wir bräuchten eine Regelung dahingehend, dass elterlich Sorgeberechtigte für jedes ihnen (gemeinsam) anvertraute Kind einen weiteren Wahlschein ausfüllen dürfen.
Natürlich gibt es dagegen verfassungsrechtliche Bedenken. Nun ist aber Verfassungsrecht kein Naturgesetz, kann also – gute Gründe vorausgesetzt – auch geändert werden. Und oft gibt es selbst unter fortgeltendem Verfassungsrecht offene Wege, die nur deshalb noch nicht beschritten wurden, weil keiner sie gesucht hat. Motiviert vom Streben nach Generationengerechtigkeit, können zwei Überlegungen eine solche Suche gut anleiten.
Erstens bestehen Wahlrechtsgrundsätze gerade der Demokratie willen. Der Grundsatz „Eine Person – eine Stimme“ sollte einst sicherstellen, dass niemand von demokratischer Teilhabe ausgeschlossen würde. Das führte zum Ende von Wahlrechtsschranken aufgrund von Einkommen, Geschlecht oder Hautfarbe. Wäre es wohl sinnvoll, ausgerechnet mit diesem Grundsatz nun den Ausschluss eines großen Teils des Staatsvolkes zu rechtfertigen, nur eben mit Verweis auf dessen Lebensalter? Zweitens prägt das Eintreten von Eltern oder Sorgeberechtigten seit jeher viele Lebensbereiche von Kindern und Heranwachsenden, nämlich solange, bis diese selbst die volle Rechts- und Geschäftsfähigkeit stufenweise erlangt haben. Also müsste dem höchstpersönlichen Elternhandeln zugunsten ihrer Kinder nur ein weiterer Lebensbereich angefügt werden, nämlich mit einem gut durchdachten höchstpersönlichen Elternwahlrecht zugunsten noch nicht wahlberechtigter Kinder.
auch erschienen auf: http://atkearney361grad.de/debatte/demographie/elternwahlrecht-streben-nach-generationengerechtigkeit/
Bildquelle: http://www.klinik-krankenhaus.de/gesundheits-news/37758pn_bild1_Foto_djd_MV_Versand.jpg