Demographie und Demokratie
Vortrag auf dem 3. Demographiekongress der Sächsischen Staatsregierung,
TU Chemnitz, 10. Dezember 2010
I. Demokratie, Republikanismus und gesellschaftlicher Zusammenhalt
Wo je Demokratie (oder ihre auf die gesellschaftlichen Eliten beschränkte Form des Republikanismus) entstand, dort zeigten sich folgende Empfindungen:
- Wir sind eine politische Gemeinschaft, und zwar nicht nur faktisch, sondern auch, weil wir es so auch wollen („Gesinnungsnation“) – gleich ob wir Athens Polis, Roms Republik sind, oder eine freie Stadt wie Florenz, Venedig oder Hamburg
- Wir wohnen nicht einfach zufällig auf dem gleichen Territorium und müssen deshalb gemeinsame Regeln des Zusammenlebens haben, sondern wir teilen eine gemeinsame Kultur, die wir für wertvoll halten und auch künftig erhalten wollen: wir als Römer, Venezianer oder Hamburger!
- Wir sind nicht einfach nur unterschiedliche Leute, sondern wir haben etwas gemeinsam, was uns von anderen unterscheidet und zu einem Volk macht (uns als Athener gegenüber Spartanern oder gar den Makedonen; oder uns als „the people of the USA“ im Unterschied zu den Untertanen des englischen, französischen oder preußischen Königs); und als solches Volk stehen wir nicht über oder unter anderen Völkern steht, sondern in deren Mitte, und das auf Dauer.
- Und weil politische Gemeinschaft, gemeinsame Kultur und Streben nach Fortführung des Bewährt-Überkommenen alle verbindet, ist es eine gute Idee, alle – die dazugehören wollen und können – an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten zu beteiligen: alle attischen Männer mit Bürgerrecht, alle Florentiner der das Gemeinwesen tragenden Familien – oder alle Deutschen.
Entlang solcher Empfindungswelten und Denkfiguren entsteht Republikanismus als „gemeinsame Sorge um die res publica“ sowie Demokratie als politische Ausdrucksform der Nation. Von daher ist auch klar, wie der (auch bevölkerungsmäßig im 19. Jh. expandierende) Nationalstaat mit Demokratie zusammenhängt.
Vor Hintergrund dieser politisch-kulturellen Selbstverständlichkeiten in der Geschichte der europäischen bzw. von europäischen Ursprüngen geprägten Demokratie ist es schon etwas Erstaunliches und neue Probleme Schaffendes, wenn sich folgende Dinge ereignen oder eintreten:
- Beträchtliche Teile eines Volks und zumal seiner Eliten erachten die sie bisher zusammenhaltende Kultur als nebensächlich, als durch mancherlei Missbräuche entwertet und – gerade aufgrund wachen geschichtlichen Bewusstseins – als letztlich peinlich und deshalb überwindenswert. Das ist ohne Zweifel – nach den Traumata von I. und II. Weltkrieg sowie des Holocaust – jahrzehntelang in Deutschland so gewesen. Dann freilich liegen einige Anschlussgedanken und Anschlusspraxen nahe:
- Wie weit soll man überhaupt an seiner Kultur festhalten? Wäre es nicht viel besser, sie zu ergänzen, zu erweitern und zu relativieren durch Einfügung möglichst vieler und schöner Elemente anderer Kulturen, so dass man innerhalb einer „multikulturellen Gesellschaft“ dann nach Goethes berühmter Maxime leben kann: „Und was der ganzen Menschheit zugeteilt / will ich in meinem Innern selbst genießen!“
- Wie wichtig ist es dann überhaupt, sein Volk auf Dauer zu stellen, etwa durch eine Bevölkerungspolitik, die auf biologische Reproduktion oder auf allenfalls gemächliches Schrumpfen ausgeht, oder durch eine Integrationspolitik, welche die Stiftung kultureller Gemeinsamkeit zum Ziel hat – wonach italienische oder irische Amerikaner in erster Linie Amerikaner und erst in zweiter Linie eben auch Italiener oder Iren sind; oder wonach man in unserem Land viel lieber „türkische Deutsche“ als „deutsche Türken“ sieht?
- Gerade die Eliten eines Volks verstehen dessen Eigentümlichkeiten weniger als Teilhabe an einer gemeinsamen Kultur (wenn auch gewiss einer vielschichtigen und aus verschiedenen Wurzeln entstandenen) denn nur noch als Befolgen gemeinsamer Rechtsregeln, was im Alltag durch Sprechen einer gemeinsamen Sprache (letztlich: egal welcher) erleichtert wird. Genau das ist die Grundhaltung vieler sich liberal, fortschrittlich und links verstehender Deutscher hinsichtlich des für unser Land wünschenswerten Patriotismus und der anzustrebenden Integrationspolitik: Nichts Weiteres könne man an gemeinsamer Kultur in Deutschland verbindlich machen als die deutsche Umgangssprache und die deutsche Verfassung. Freilich fragt man sich dann, ob es wohl keine deutsche Kultur gegeben habe, bevor das Grundgesetz in Kraft trat (1949 im Westen, 1990 im Osten), oder ob diese seither ganz wertlos geworden sei. Das nach Art sich als fortschrittlich verstehender Eliten und Mitbürger zu sehen, legt wiederum besondere Anschlussgedanken und Anschlusspraxen nahe:
- Wenn uns nicht mehr zu verbinden braucht als das deutsche Grundgesetz und die je nach Bevölkerungsmehrheit gemeinsame Sprache, dann ist es doch ganz egal, wer auf einem Territorium zusammenlebt – solange man sich nur untereinander verständigen kann und an gemeinsame Spielregeln hält. Schrumpfen des einen Bevölkerungsteils ist dann überhaupt kein Problem, solange ein anderer nur wächst und jene Lücken füllt, die der schrumpfende hinterlässt.
- Und eigentlich ist das Leben ohnehin umso schöner, je mehr unterschiedliche Kulturen und sie tragende Gruppen von Menschen auf diesem Territorium zusammenleben. Also soll es eine Art „Leitkultur“ dann gerade nicht geben und ist Einwanderung grundsätzlich zu begrüßen („Lasst uns mit diesen Deutschen nicht allein!“). Hingegen ist eine Assimilation der Einwandernden an die bisherige Mehrheitsbevölkerung und deren Kultur gerade nicht wünschenswert, ja vielleicht sogar „ein Verbrechen“, wie – eben in Deutschland – der türkische Ministerpräsident formulierte.
Dafür, sich als Teilhaber eines Gemeinwesens, als Bürger einer im Wortsinn „politischen“ Gemeinschaft zu verstehen, und gerade nicht als „Kunde“ eines sozialtechnologischen Institutionengefüges, ist nun aber die Grundlage ein kulturelles Zusammengehörigkeitsgefühl ebenso wie die Empfindung, man selbst stehe im das eigene Leben übergreifenden Generationenzusammenhang eines bestimmten Volks, und zwar eines Volks, das sich gerade dann über eine gemeinsame Kultur definiert, wenn gemeinsame Abstammung nachrangig ist. Gerade ein solches Gefühl aber besteht in Deutschland vielfach nicht, und um so weniger, je mehr in den Bereich der sich fortschrittlich und „links“ verstehenden Mitbürger hineingeht. Eben das aber schafft für den in Deutschland bestehenden Zusammenhang von „Demographie“ und „Demokratie“ sehr besondere, ja sehr schwierige Rahmen- und Handlungsbedingungen. Sie darf man nicht ignorieren, wenn man wirklich verstehen will, wie man unserem demographischen Problem mit den Mitteln der Demokratie beikommen kann.
II. Demokratie und ihre demographischen Grundlagen
Ist es eigentlich schlimm, wenn einer Demokratie zwar nicht die Demokraten, sehr wohl aber die Bürger ausgehen? Natürlich lässt sich ohne eine Mindestanzahl von Leuten kein Staat machen, und somit auch kein demokratischer. Von diesem trivialen Sachverhalt sind wir in Deutschland aber trotz aller zunehmenden Unterjüngung einer obendrein abnehmenden Bevölkerung „ohne fremdkulturellen Migrationshintergrund“ noch weit entfernt.
Also reformulieren wir die Frage: Ist es eigentlich schlimm, wenn in einem demokratischen Land die Bevölkerungszahl abnimmt? Und schließen wir dem die Frage an: Ist es eigentlich schlimm, wenn sich in einem demokratischen Land die Zusammensetzung der Bevölkerung umstrukturiert? In den Antworten auf beide Fragen werden wir sowohl die Dramatik unserer Lage als auch realistische Ansätze zur Problemlösung erkennen.
Weil funktionierende Demokratien auch nach der „dritten Welle“ der Demokratisierung nicht die Mehrheit der Weltbevölkerung umfassen, ist es für einen Demokraten natürlich schade, wenn die Zahl derer abnimmt, die den Reiz von Demokratie aus eigenem Erleben kennen und einige demokratische Staaten als Leuchttürme einer ganz besonderen – und eben nicht universalen – politischen Tradition tragen. Nun braucht man dazu vielleicht gar nicht die Deutschen; es reicht, wenn anderswo viele Demokraten leben. Und manchem wird eine bevölkerungsmäßige Marginalisierung von Demokratie ohnehin nicht stören – wie etwa unsere chinesischen Partner.
Zum Problem für Demokratien wird also viel weniger die Bevölkerungszahl als vielmehr deren Schrumpfen, und zwar genau dann, wenn es sehr rasch erfolgt – und obendrein irreversibel ab dem Zeitpunkt, zu dem man angefangen hat zu glauben, da wäre wirklich ein Problem. Folgendes sind die hier wirkenden Zusammenhänge:
- Demokratien bezogen – so die historische Erfahrung – ihre Fähigkeit, Konflikte auszuhalten und gerade Verteilungskonflikte auch friedlich zu lösen, ganz wesentlich aus zwei Elementen:
- aus einer ob der Zukunft optimistischen Grundhaltung. Hingegen führten gesellschaftliche Ängste in den Demokratien der Zwischenkriegszeit recht umstandslos in die Polarisierung zwischen Kommunismus und Faschismen, letztlich in Bürgerkrieg und / oder Diktatur.
- aus zunehmendem gesellschaftlichen Reichtum, der sich verteilen ließ. Im demokratischen Athen war das einfache Volk denn auch die Kriegstreiberpartei – während die Aristokraten bremsten: Sie hatten unter den Bedingungen von Athens direkter Demokratie mehr zu verlieren als zu gewinnen.
Es ist nun aber vermutlich so, dass eine schrumpfende Bevölkerung in Verbindung mit dem Rückbau von Infrastruktur und mancherlei individuellen Sorgen ob der eigenen Altersversorgung aus sich heraus wenig Optimismus erzeugt. Vermutlich werden ebenso in einer aufgrund des Bevölkerungsrückgangs – abseits der global agierenden Unternehmen und ihrer Zulieferer – auch schrumpfenden Wirtschaft die finanziellen Mittel zur Dämpfung von Verteilungskonflikten ebenfalls zurückgehen. An dieser Stelle werden quantitative Entwicklungen durchaus zu einem qualitativen Problem für die innere Bestandskraft einer Demokratie. Beides fängt jetzt schon an, die Lage unserer deutschen Demokratie zu prägen.
- Insbesondere entstehen Zerrkräfte am demokratischen System in Wohlfahrtsstaaten wie dem unseren, in welchem – zumal in Ostdeutschland – ein großer Teil der Bevölkerung nur eine solche politische Ordnung für wünschenswert, ja legitim erachtet, welche soziale Sicherheit und ein gewisses Maß an sozialer Gerechtigkeit verwirklicht. Eine Demokratie mit solchermaßen sozialstaatlich akzentuierter Legitimität wird deshalb in ernsthafte Probleme geraten, wenn …
- die Zahl derer immer weiter steigt, die der Fürsorge des Wohlfahrtsstaates bedürfen,
- und die Zahl derer schrumpft, die für die weiterhin erforderliche Güterproduktion und zumal die zunehmenden Dienstleistungen zur Verfügung stehen
- und wenn zugleich die staatlichen Einnahmen aus Steuern und Sozialabgaben, aus denen man soziale Sicherheit finanziert, aufgrund des Bevölkerungsrückgangs schrumpfen.
Verschärft wird dieses Problem dadurch, dass in einer unterjüngten Demokratie jene das Übergewicht bei Wahlen haben, die von den Jüngeren Leistungen erwarten (und sie ihnen auch per Gesetz auferlegen können), welche in einer strukturellen und auf absehbare Zeit nicht aufzubrechenden Minderheitensituation sind. Für die Letzteren erleidet dann allein schon die Idee der Mehrheitsherrschaft Plausibilitäts- und Legitimitätseinbußen. Das lässt Demokratie erodieren. Einmal gestört, lässt sie sich aber nicht leicht wieder reparieren. Und tatsächlich ist es zum ersten Mal, dass Demokratien mit dem Problem konfrontiert werden, dass die Mehrheit der Wähler sich nicht in der aktiven Lebensphase befindet.
- Nicht zuletzt leidet auch der Glaube an die Vernünftigkeit der Prinzipien und Spielregeln pluralistischer Demokratie, wenn sie langfristig und objektiv erkennbare gesellschaftliche Krisen wie die – mitten in Friedens- und Wohlstandszeiten sich entwickelnde! – Unterjüngung einer freiheitlichen Gesellschaft nicht abwenden kann. „Vielleicht ist sie eben doch nur ein zeitweise lebensfähiges Sondermodell politischer Ordnung in Ausnahmephasen!“ – was die meisten chinesischen Intellektuellen und Politiker denn auch genau so unterschreiben würden.
III. Voraussetzungen nachhaltig integrierbarer Zuwanderung
Im Prinzip – freilich weniger in der Praxis, und zwar aus quantitativen Gründen – lassen sich derlei Schrumpfungs- und Unterjüngungsprobleme gewiss durch Zuwanderung in den Griff bekommen. Ist es also schlimm, wenn sich in einem demokratischen Land die Zusammensetzung der Bevölkerung umstrukturiert?
Die Antwort ist ein klares Nein – aber nur, wenn zugleich Folgendes gegeben ist bzw. erreicht werden kann:
- Die zuwandernde Bevölkerung füllt einfach die in einer schrumpfenden Gesellschaft sich auftuenden Lücken: durch zuwandernde Facharbeiter, Ingenieure, Ärzte, Lehrer – und, wie in der römischen Kaiserzeit, durch zuwandernde und Ordnungshüter. Was für die Romanen freilich nicht dauerhaft vorteilhaft war …
- Vorbedingungen dafür sind:
- eine Einwanderungspolitik, die sich sehr stark an den Interessen der aufnehmenden Gesellschaft und nur als Extra an humanitären Gesichtspunkten orientiert (wie etwa dem Familiennachzug, der in Deutschland die Masse der Einwanderung nach Ende des Anwerbestopps von Gastarbeitern bewirkte). Das heißt: Es darf zumal keine Einwanderung in die sozialen Sicherungssysteme erfolgen, sondern in jene Wirtschaftssektoren, die an Arbeitskräftemangel leiden.
- Einwanderungssteuerung so, dass sie vorwiegend aus kulturell ähnlichen Gesellschaften erfolgt (im deutschen Fall: aus Polen, Tschechien, Ungarn ….), so dass keine sonderlichen Integrationsprobleme hinsichtlich kultureller Tiefenschichten des Politischen entstehen (z.B. Religion, Rolle der Frau, Wert von Aufklärung und Bildung).
- Integrationspolitik, die auf Assimilierung für alle praktischen Zwecke angelegt ist. Das Integrationsziel sind dann nicht „deutsche Türken“, sondern „türkische Deutsche“. Und weil Deutschland immer schon sehr vielgestaltig und landsmannschaftlich geprägt war, macht es gar nichts, wenn sich den mannigfach unterschiedlichen Bayern und Hanseaten nun auch noch italienische, vietnamesische und türkische Deutsche mit starken Bindungen an ihre „Regionalkultur“ zugesellen.
Es ist nun aber leicht zu sehen, dass bis in die jüngste Zeit so gut wie keine dieser Vorbedingungen im Fall Deutschlands gegeben ist. Weil Einwanderungs- und Integrationsfragen in Deutschland in erster Linie als weltanschauliche Fragen und erst in dritter Linie als pragmatische Probleme behandelt werden, ist nicht einmal abzusehen, dass ebenso schnell eine Umsteuerung auf eine Einwanderungspolitik unproblematischer Art erfolgt, wie sich die aus unserer schrumpfenden und sich unterjüngenden Gesellschaft entstehenden Probleme für Wirtschaft und Gesellschaft vergrößern.
Im deutschen Fall zieht es deshalb Probleme nach sich, dass sich längst schon die Zusammensetzung unserer Gesellschaft umzustrukturieren begonnen hat – und wir recht ungewappnet dafür sind, mit den Folgen zurechtzukommen.
Es ist nicht allerdings nicht die Umstrukturierung der Gesellschaft selbst ein Problem. Diese kann sogar vorteilhaft sein, wie die folgenden Beispiele zeigen:
- Besiedelung Sachsens im Hochmittelalter durch Zuwanderer aus Thüringen und Franken in die Mark Meißen, im 12. Jh. beim „ersten Berggeschrey“ (Freiberg) aus dem Harz, im späten 15. Jh. beim zweiten, „Großen Berggeschrey“ (Schneeberg, Annaberg-Buchholz) – und seit 1990 wiederum Zustrom von vieler „Westdeutscher“, darunter auch nicht wenige Leistungsträger. Von alledem profitierte Sachsen.
- Jh.: Immigration von Polen aus den östlichen Teilen Preußens ins Ruhrgebiet, was dort Bergbau und die Schwerindustrie zur Blüte brachte
- Nach 1945: Integration von Millionen von Flüchtlingen und Heimatvertrieben, die sich integrieren mussten und dabei die Sozialstrukturen etwa Bayerns oder Schleswig-Holsteins aufbrachen und – zum Vorteil dieser Länder – modernisierten.
- Hingegen problematische Bilanz: „Gastarbeiterzustrom“ im Westen zwischen den ersten und letzten Gastarbeiterabkommen 1955 (mit Italien) und 1968 (mit Jugoslawien; Türkei: 1961), sowie bis zum Anwerbestopp von 1973 (Ölpreiskrise). Denn es gab keine auf Dauer beabsichtigte Integration, ebenso wenig bei den inzwischen nach Hunderttausenden zählenden Asylbewerbern und Bürgerkriegsflüchtlingen. Immerhin waren die „Gastarbeiter“ über den Arbeitsprozess integriert, während dergleichen den Asylbewerbern und Bürgerkriegsflüchtlingen vorenthalten wurde.
Allerdings war stets eine von zwei Bedingungen gegeben:
- Die Zuwanderung erfolgte in Phase des wirtschaftlichen Aufschwungs, und zwar als dessen mitverursachender Teil – so beim sächsischen „Berggeschrey“, so im Ruhrpott, und so bei den nach Westdeutschland kommenden „Gastarbeitern“. Das erlaubte es, in den ersten beiden Fällen die Zuwanderer dauerhaft zu integrieren – während daran im letzteren Fall gar nicht gedacht war und sich somit auch keine schlüssige Zuwanderungs- und Integrationspolitik mehr ergab.
- Die Zuwanderung erfolgte – nach 1945 – als Teil einer unabwendbaren Notsituation, und obendrein seitens von Leuten, die unzweifelhaft die deutsche Kultur teilten.
Obendrein handelte es sich nicht um Zuwanderung hinein in eine schrumpfende Gesellschaft, die zugleich ihres Selbstbehauptungswillens unsicher war. Das alles schuf jeweils ganz andere Rahmenbedingungen, als sie heute bestehen.
IV. Real- und Diskursprobleme in der deutschen Einwanderungsgesellschaft
Eben diese anderen Rahmenbedingungen erzeugen nun etliche Probleme für die deutsche Demokratie. Die bisherige Einwanderung seit den 1960er Jahren …
- war eine ohne Integrationsanspruch („Gastarbeiter“) bzw. ohne Eigennutz (Asylbewerber, Bürgerkriegsflüchtlinge … und deren weitere Aufenthaltsduldung)
- erfolgte vielfach hinein in die Sozialsysteme – nicht zuletzt auch wegen eines Arbeitsverbots etwa für Asylbewerber und Bürgerkriegsflüchtlinge zum Schutz des deutschen Arbeitsmarkts
- endete in einer Wirtschaftskrise mit seither nicht vergangener Massenarbeitslosigkeit (was zu Kristallisationspunkt der Befürchtung wurde: „Zuwanderer nehmen uns die Arbeitsplätze weg!“)
- war begleitet vom zunehmenden Verzicht vieler Deutscher darauf, selbst Kinder zu bekommen:
- Zusammentreffen der leichten Verfügbarkeit wirkungsvoller Verhütungsmittel mit der sexuellen Revolution, die gerade den folgenlosen Sex propagierte
- Schwinden des Leitbilds einer Mutterrolle für Frauen – hin zur ganz selbstverständlichen Eigen- und Fremderwartung, dass eine Frau nicht nur gut ausgebildet, sondern auch berufstätig ist
- Schwinden des Leitbilds lebenslanger Partnerschaft, mit der Folge, dass Kinder zu Risiken einer unabhängigen Fortsetzung der eigenen Biographie werden
- Ausrichtung des Preisgefüges auf kinderlose Doppelverdiener (DINKs), so dass Kinder zum Armutsrisiko werden
- Wahrnehmung angesichts der geburtenstarken Jahrgänge, dass nicht zu wenige, sondern zu viele Kinder / Heranwachsende das zentrale Problem wären
- Kokettieren mit „no future“ in den späten 1970er, frühen 1980er Jahren – nämlich wegen des „drohenden Atomkrieg“ und der „unabwendbaren ökologischen Katastrophe“ (damals vor allem: das Waldsterben)
- Empfindung einer – durch die Nazidiktatur und deren Folgen vor Augen geführten – Wertlosigkeit des deutschen Volkes und seiner Kultur, deren Weitergabe deshalb kein wichtiges, ja vielleicht auch gar kein sinnvolles Vorhaben mehr sei.
- vollzog sich, ohne dass es in Deutschland je eine breite, öffentliche, auch ergebnisoffene Grundsatzdiskussion über sie, über ihr Ziel und über ihre angemessenen Mittel gegeben hätte. Vielmehr wurde dieses Thema der schon ansässigen Bevölkerung von der politisch-medialen Klasse auf mehrererlei Weise entwunden:
- Union: Wir sind kein Einwanderungsland, folglich brauchen wir darüber auch nicht zu diskutieren!
- Linke: Wir sind doch faktisch ein Einwanderungsland, und das sollen die Leute einfach akzeptieren und nicht darüber lamentieren – und erst recht nicht, weil uns doch die entstandene Multikulturalität bereichert und hinter ihrer Abwehr faktisch bloß Chauvinismus und Rassismus lungern!
- Seit rotgrüner Koalition und Kurskorrektur der Union: „Jetzt ist ohnehin nichts mehr zu machen; wir müssen auf den eingeschlagenen Pfaden vorangehen!“
Obendrein verbreitete sich folgende Sichtweise: Wenn „das Volk“ nun seinerseits die Einwanderungs- und Integrationspolitik quasi-plebiszitär zum Thema macht, dann benimmt es sich eben schlecht! Dann wird es vom größten Teil der politischen Klasse und Öffentlichkeit „eben zu Recht“ mit Vorwürfen überzogen – statt dass man seine Sorgen ernstnimmt: So geschah es Ende 1980er/frühe 1990er Jahre beim Wählen der Republikaner (oder anderer xenophober Parteien); so 1999 wegen der Wahl der hessischen CDU nach einem um das rot-grüne Staatsbürgerschaftsrecht gelagerten Wahlkampf; und so wird es gewiss auch in Zukunft noch manches Mal kommen.
Zwar sind in Deutschland aus allen diesen Gründen die Themen Demokratie und Demographie aufs engste miteinander verknüpft, doch eben in einer sehr unerfreulichen Weise miteinander verbunden. Tabus politischer Korrektheit schlossen lange Zeit die Erörterung der faktischen Zuwanderungspolitik vom legitimierenden öffentlichen Diskurs aus, wobei die Sarrazin-Debatte im Grunde den „Kipp-Punkt“ darstellte: Wer hier Probleme thematisiert, macht sich politisch-öffentlich unmöglich. Zugleich wurden wurden alle Gedanken an eine aktive Bevölkerungspolitik durch Tabus politischer Korrektheit unterbunden: in den späten 1970er Jahren, als die jetzige Unterjüngung sich abzuzeichnen anfing, durch „Gegenaufklärung“ unter Regie des Kanzleramtes; grundsätzlich durch Rekurse auf die Nazi-Bevölkerungspolitik und ihr Mutterkreuz; sowie durch Herabsetzung einer weiblichen Rolle als Mutter sowie von Familien als Stätten gerade auch der Reproduktion eines Volkes.
Genau jene Ressentiments gegen Zuwanderungspolitik, Zuwanderungspolitiker und – leider – auch Zuwanderer, die angesichts eines so verblendet und eskapistisch vermiedenen Nicht-Führens einer Zuwanderungs- und Integrationsdebatte entstanden sind, prägen leider durchgehend und wohl mehr und mehr jene politisch-kulturelle Situation, in der sich nun unserer Demokratie unausweichlich das Thema „Demographie“ stellt. Es wird schwer sein, mit solchen Erblasten konstruktiv umzugehen.
Bildquelle: http://www.genial-drv.de/DE/01_demographischer_wandel/01_wandel_in_deutschland/wandel_in_deutschland_node.html