Beobachtungen zur Präsidentenwahl
Gemeinhin gilt das Amt des Bundespräsidenten als politisch nicht sonderlich bedeutend. CDU und CSU waren sogar bereit, es der Grünen-Politikerin Göring-Eckardt anzuvertrauen. Diese hat außer Jahrzehnten als Berufspolitikerin nur ein abgebrochenes Theologiestudium und einige Jahre als Vorsitzende der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland vorzuweisen. Die seitens der Union in Aussicht gestellte Wahl von Frau Göring-Eckardt sollte gleichsam die Morgengabe sein für die fest eingeplante, vom Großteil der Bundes-CDU nachgerade ersehnte Koalition mit den Grünen.
Es kam anders, und zwar nicht nur beim Ausgang der Bundestagswahl. Der bisherige Amtsinhaber erklärte nämlich frühzeitig, er wolle seine Tätigkeit als Bundespräsident fortsetzen – und Chancen auf das Kanzleramt vermochte sich die Union ohnehin nicht zu erarbeiten. Also war auch keine Brautgabe für die Grünen fällig. Die gingen ihre eigene Wunschkoalition mit der SPD ein, unterstützt – wohl zu deren langjährigem Schaden – von der FDP. Die Union aber geriet in die Opposition.
Bis heute weiß diese Partei nicht, ob das eher durch Angela Merkels Politik oder durch allzu glaubensschwache Bekenntnisse zur Kanzlerin verschuldet wurde. Entsprechend unschlüssig ist die Union darüber, was sie weiterhin politisch wollen soll. Auf Distanz zur SPD und zu den Grünen gehen, obwohl diese Parteien doch genau Angela Merkels Politik energischer denn je fortzusetzen versuchen? Oder auf Konfrontationskurs gehen – also für doch nicht so ganz richtig zu erklären, was man früher als alternativlos hinstellte? Bayerns CSU-Anführer versucht es jedenfalls mit „heute so, morgen anders“ und ruiniert dadurch das Restvertrauen in seine Staatskunst.
Was aber hat diese Orientierungslosigkeit der Union mit der Wahl des Bundespräsidenten zu tun? Sehr viel – zumindest in der Wahrnehmung eines jeden, der politikstrategisch zu denken vermag. Dafür muss man freilich auch größere geschichtliche Zusammenhänge kennen als die der Tagespolitik.
Als im März 1969 der SPD-Bundesjustizminister Gustav Heinemann zum dritten Bundespräsidenten gewählt wurde, verkündete er selbst, es habe sich mit seiner Wahl „ein Stück Machtwechsel“ vollzogen. Vollendet wurde dieser Machtwechsel durch die Bundestagswahl im Herbst des gleichen Jahres. Bei der befreite sich die SPD aus der Vormacht der CDU-geführten Großen Koalition des Kanzlers Kiesinger. Es begann die sozialliberale Ära unter den Kanzlern Brandt und Schmidt.
Natürlich hat sich auch durch die letzte Bundestagswahl ein Stück Machtwechsel vollzogen. Nun sind alle bundespolitisch dauerhaft hervorgehobenen Machtpositionen in der Hand von Sozialdemokraten. Das sind die Ämter des Bundespräsidenten, des Bundestagspräsidenten und des Bundeskanzlers. Das Amt des Bundesratspräsidenten, seinerseits Stellvertreter des Bundespräsidenten, wechselt jährlich, wird also in absehbarer Zeit auch wieder von Nicht-Sozialdemokraten ausgeübt werden. Und der Präsident des Bundesverfassungsgerichts sollte seine Institution ohnehin nicht parteipolitisieren lassen.
Deutschlands Machtwechsel hin zur SPD, völlig legitim in einer Demokratie, war von der Union natürlich hinzunehmen. Immerhin hat sie ihn durch ihre unzulängliche Politik selbst verursacht. Dass somit das Amt des Bundespräsidenten weiterhin von einem Politiker besetzt würde, der den Sozialdemokraten und Grünen erwünscht war, stand somit ganz außer Zweifel. Dafür sorgt allein schon die Zusammensetzung der Bundesversammlung, bestehend aus allen Bundestagsabgeordneten und aus einer gleich großen Anzahl von Personen, die von den deutschen Landesparlamenten proportional zu den dortigen Sitzverteilungen gewählt werden. In der den Bundespräsidenten wählenden Bundesversammlung spiegelt sich also einfach die Implosion von CDU und CSU.
Musste die Union daraus aber wirklich ableiten, dass es wünschenswert wäre, gerade keinen eigenen Zählkandidaten für die Bundespräsidentenwahl aufzustellen? Gefunden hätte sie sicher jemanden. Es ist ja tatsächlich eine Ehre, als Kandidat für das Präsidentenamt aufgestellt zu werden und – in normalen Zeiten – in so manchen Fernsehsendungen sich mit den Kandidaten oder Kandidatinnen anderer Parteien so zu präsentieren, dass möglichst gutes Licht auf einen selbst und auf die vorschlagende Partei fällt. Das ist zwar diesmal nicht so, weil der mediale Bannfluch gegen die AfD natürlich auch deren Kandidaten trifft – selbst wenn dieser der CDU angehören sollte. Doch wofür ist es eigentlich ein Zeichen, dass die Union keinen eigenen Bundespräsidentenkandidaten aufstellte, sondern erklärte, dass sie einfach dem Vorschlag von Sozialdemokraten und Grünen folgen wolle?
Wenn der jetzige Bundespräsident so unumstritten wäre wie einst Richard v. Weizsäcker, in dem die Mehrheit der Deutschen damals eine Idealbesetzung für unser höchstes Staatsamt sah, dann hätte kaum jemand den Verzicht auf eine Gegenkandidatur kritisiert. Doch Weizsäckers Charisma hat Frank-Walter Steinmeier durchaus nicht, und in den Reihen der Union wird er klar weniger geschätzt als der einst von den Sozialdemokraten nachgerade geliebte CDU-Präsident v. Weizsäcker. Es wäre also nicht auf eine Majestätsbeleidigung hinausgelaufen, wenn die Union einen eigenen – und absehbar die Präsidentenwahl verlierenden – Kandidaten aufgestellt hätte. Auch trotz Gegenkandidatur wäre der wiedergewählte Präsident Steinmeier das unbestritten legitime Staatsoberhaupt aller Deutschen geblieben.
Wovon zeugt es also, dass die Union keinen Gegenkandidaten aufstellte? Klar davon, dass die Partei nicht weiß, was sie will. Dass sie nicht in der Lage war, eine eigene Vision von Deutschland durch die Auswahl eines eigenen Präsidentschaftskandidaten zu personalisieren. Davon, dass die Union sich auch nicht zutraute, in den Monaten nach der Niederlage bei der Bundestagswahl irgendwelche Zeichen zu setzen, die sie von der SPD jenes Bundespräsidenten unterscheidbar machten, der lange Zeit neben einer CDU-Kanzlerin mitregierte. Das wiederum kam auch davon, dass die CDU noch keinen neuen Vorsitzenden hatte und sich gar nicht vorstellen mochte, Merkels Alternative Merz werde tatsächlich von einer großen Mehrheit der Parteimitglieder gewünscht – oder würde von jenen Funktionären, die ihn zweimal durchfallen ließen, einen Monat vor der Bundespräsidentenwahl mit nachgerade stalinistischer Mehrheit zum neuen CDU-Vorsitzenden gemacht. Kurzum: Der Verzicht auf einen eigenen Kandidaten bei der Bundespräsidentenwahl war eine inhaltliche Bankrotterklärung der Union. Sie war ja auch bankrott – und sie ist es, bei Lichte besehen, immer noch.
Kein Wunder, dass diese Bankrotterklärung vielen Unionsmitgliedern missfiel, die sich von einer nunmehrigen Oppositionspartei ein anderes Zeichen erhofft hätten als eine weitere Unterwerfungsgeste gegenüber den Wünschen der rot-grünen Medienmehrheit. Erst recht ist es kein Wunder, dass die AfD eine Chance sah, die Union in ihrer strategischen Jämmerlichkeit vorzuführen. Natürlich hat die AfD jedes Recht, einen Kandidaten für das höchste Staatsamt aufzustellen; und je klüger und moralisch besser und politisch erfahrener ein AfD-Kandidat ist, eine umso bessere Figur kann er für die ihn vorschlagende Partei machen. Auch gibt es selbstverständlich keine Verpflichtung, nur ein Mitglied der eigenen Partei als Kandidaten für das Präsidentenamt aufzustellen. Und gewiss haben überparteiliche Kandidaturen in unserem Land derzeit einen gewissen Reiz, weil ja nicht wenige so tun, als wären die Parteien das größte Übel in der Politik – und nicht Unvernunft, Heuchelei und Böswilligkeit.
Also ist nichts daran zu kritisieren, dass die AfD das jahrzehntelange CDU-Mitglied Max Otte zum Kandidaten machte und damit einen erfolgreichen Wirtschaftsmann aufstellte, der obendrein – nach dem Cicero-Ranking – weiterhin zu den einflussreichsten Intellektuellen Deutschlands gehört. Und weil bei Max Ottes Kandidatur der AfD nichts vorzuwerfen ist, braucht es nun auch keine Verteidigungsreden seitens der AfD – so, als mache ihr jemand das Recht streitig, eine Alternative zu Frank-Walter Steinmeier anzubieten.
Zu kritisieren ist freilich das für die AfD antretende CDU-Mitglied. Es ist schon so, dass es eine Ehre ist, für die anstehende Präsidentenwahl nominiert zu werden. Doch war das Verhalten Ottes gegenüber der WerteUnion fair, die auf parteipolitische Korrekturen der Union ausgeht, und zu deren Bundesvorsitzenden Max Otte sich gegen etlichen Widerstand vor einiger Zeit hat wählen lassen? War denn nicht absehbar, dass die WerteUnion jeglichen Einfluss in der Union verliert, wenn ihr eigener Vorsitzender gegen alle Parteibeschlüsse mit der AfD in höchst exponierter Weise zusammenwirkt und solchermaßen die Behauptung beglaubigt, die WerteUnion wäre ein AfD-Fanclub? Waren solche Folgen Max Otto wohl egal? Was besagte das dann über sein Pflichtverständnis? Und kann jemand von Ottes intellektueller Statur wirklich den naiven Glauben hegen, mit seiner Kandidatur für die AfD würde er die Union zwingen, nun doch noch einen eigenen Kandidaten aufzustellen?
Max Otte wird in der Bundesversammlung wohl keine Stimme von Unionsabgeordneten erhalten, und womöglich auch nicht alle Stimmen der AfD. Aber der AfD ist es gelungen, sowohl die Orientierungslosigkeit der noch nicht wieder Fuß fassenden Union vorzuführen als auch jene zu schwächen, die einem weiteren Abdriften von Unionswählern hin zur AfD entgegenwirken wollten. Nun, nach Diskreditierung der WerteUnion durch ihren eigenen Vorsitzenden, muss die Unionsführung das schon selber tun – und ist eben doch zerstritten wie zuvor, ob sie sich lieber weiterhin als der bestmögliche Brautgemahl der Grünen aufführen oder als deren Ex geben soll.
Also wird die Bundespräsidentenwahl genau drei Gewinner haben: Frank-Walter Steinmeier, SPD und Grüne – sowie die AfD. Beeindruckende Ergebnisse zeitigt er also, der „Kampf gegen rechts“!
Erschienen am 13. Februar 2022 auf „Hallo Meinung“ und ist als Podcast unter dem folgenden Link verfügbar: https://youtu.be/jk5jiwEA8ZQ