Migration und die Dialektik des Sozialen

Migration und die Dialektik des Sozialen

Wohl auch viele Sozialdemokraten haben ihren Augen nicht getraut, als sie die Passagen des GroKo-Sondierungspapiers zur Migration lasen. Jedenfalls zeigte sich beim Sonderparteitag am letzten Sonntag vielfältiger Widerstand gegen jene Absichtserklärungen.

Zwar scheint es sich eher um Widerstand aus den Reihen der Funktionäre und der Jusos zu handeln als um Widerstand aus den Reihen der Masse der SPD-Mitglieder oder gar von SPD-Wählern. Viele von den letzteren wanderten bei den letzten Wahlen gerade wegen der migrationspolitischen Position der SPD zur AfD ab. Doch hinter jenen Vorbehalten liegt ein viel größeres Problem als die Geburtswehen einer derzeit sehr problematischen Koalition.

Es handelt sich nämlich um die Schwierigkeiten, die Linke ganz allgemein mit der Zuwanderung und ihren Nebenwirkungen haben. Dieses Problem der Linken ist um so schwerer zu lösen, als es aus gutem Willen und lobenswerten Grundsätzen entstand. Ich habe es im Leitartikel der letzten Ausgabe der „Jungen Freiheit“ erörtert („Die Dialektik des Sozialen. Die Einstellung der Linken zur Migration ist voller Widersprüche. Merkt sie das endlich?“, in: Junge Freiheit, 4/18, 33. Jg., 19. Januar 2018, S. 1). Leichten Zugriffs willen dokumentiere ich diesen Text auch nachstehend.

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Dialektik ist sexy: Das eine ist richtig, sein Gegenteil auch, und was aus solcher Spannung entsteht, bringt uns voran. Vor allem Linke stehen auf solches Denken. Es bei der Klärung sinnvoller Politik auszuhalten, kann aber schwerfallen. Das erlebt die Linkspartei derzeit beim Streit um ihre Haltung zur Migration.

In bester linker Tradition wünschen die einen Gerechtigkeit überall, also das Ende der internationalen Klassengesellschaft mit ihren Reichtums- und Staatengrenzen. Eine Politik von „no borders, no nations“ soll es den „Verdammten dieser Erde“ (Frantz Fanon, 1961) erleichtern, nicht nur Asyl und Schutz vor Kriegen, sondern schlicht ein besseres Leben zu finden; nämlich durch selbstermächtigtes Zuwandern in die Quasi-Paradiese des Kapitalismus. Alle Ankommenden gelte es willkommen zu heißen und – ohne neorassistischen Druck auf Assimilation – in multikulturelle Gesellschaften zu integrieren.

Andere Linke, allen voran die kluge Sahra Wagenknecht, merken aber, dass der – ganz wesentlich von Sozialisten und Sozialdemokraten erstrittene – europäische Sozialstaat an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit gerät, wenn die Anzahl der in ihm Anspruchsberechtigten durch Zuwanderung immer größer wird. Sie erkennen auch, dass Verteilungskonflikte entstehen zwischen der geringverdienenden, auf Hartz IV angewiesenen oder niedrig berenteten alten Unterschicht sowie der neuen Unterschicht von Asylsuchenden, Kriegsflüchtlingen und Wirtschaftsmigranten. Ihnen entgeht nicht, dass bei immer mehr Europäern die Bereitschaft schwindet, grenzenlose Solidarität zu üben mit ausbildungsmäßig wenig kompatiblen, oft kulturell nicht sonderlich kompromissbereiten Neubürgern. Und weil sich unsere anziehungsstarken Sozialstaaten nun einmal im Gehäuse von weitgehend demokratisierten Nationalstaaten befinden, ahnen viele Linke mit aufkeimendem Entsetzen, dass Sozial- und Nationalstaatlichkeit zwei Seiten derselben Medaille sein könnten – und Rechte das anscheinend eher sowie wählerwirksamer als sie entdeckt haben.

Die nämlich propagieren: Gerade auch im Interesse der sozial Schwachen müssen Grenzen sozialstaatlicher Anspruchsberechtigung gezogen werden, und zwar nicht innerhalb eines Landes, sondern zwischen Ländern mit unterschiedlichen Standards sozialer Gerechtigkeit. Grenzenlosigkeit hingegen nützt nur dem internationalen Kapital; und das Aufgehen von Nationalstaaten in supranationalen Gebilden spielt denen in die Hände, welche im Hintergrund die Strippen ziehen. Auch wollten diese durch Gängelung von Nationalstaaten jenen Einfluss verringern, den deren Völker bei (Protest-) Wahlen und (Sach-) Abstimmungen entfalten können.

Sich all dem zu widersetzen, ist nun aber ein Herzensanliegen gerade der Linken: In gut regierten Staaten will sie einzutreten für Demokratie und sozial schwache Mitbürger, sowie kämpfen gegen den internationalen Kapitalismus mit Globalisierung und Neoliberalismus als seinen Lieblingskindern. Doch anscheinend vertreten das, was dabei zielführend wäre, Rechtspopulisten derzeit überzeugender als die Linke: Migrationsbegrenzung, Stärkung der Nationalstaaten durch Rückbau supranationaler Kompetenzen, Ausbau von direkter Demokratie. Zudem erscheint es auch mehr und mehr Linken als allzu riskant, den Nationalstaat aufzugeben und weltweite Migration ohne kontrollierbare Grenzen zu ermöglichen. Jedenfalls zeigen Wählerwanderungsanalysen, dass – quer über Europa – viele ehedem Linke derzeit ihre Stimme rechten Parteien geben. Als Gegenreaktion entsteht das Projekt einer „neuen Linken“ im Dienst gerade auch besorgter Bürger im eigenen Land.

Soviel Realdialektik war schon lange nicht mehr. Nationalismus und Sozialismus finden wieder zusammen; und unter „echten Linken“ haben jetzt ausgerechnet die Idealisten, nicht die Materialisten die Nase vorn: Vom ideologischen Überbau her wird nämlich dekretiert, was im Dienst möglichst grenzenloser Migration die ökonomische Basis herzugeben hat. Hingegen bleibt weitgehend unbeachtet, was „Tragik der Allmende“ heißt: die Übernutzung öffentlicher Güter, d.h. von solchen, deren Gebrauch man niemandem vorenthalten kann.

Ein besonders wertvolles öffentliches Gut sind nun aber die Lebensverhältnisse in Europa. Sie reichen von weitgehender Sicherheit im öffentlichen Raum bis zur solidarischen Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzmininums, und sie bieten eine gut funktionierende technische, soziale und kulturelle Infrastruktur für ein ziemlich gutes Leben. Von alledem profitieren nicht nur wir, sondern auch Touristen, Geschäftsreisende sowie Asylsuchende und Geflüchtete aus vielen Teilen der Welt. Doch das alles geht nur solange gut, wie man sich an die bekannte Witzformel über die richtige Größe einer Gemeindekirche hält: Wenn nicht alle hineingehen, dann gehen alle hinein; wenn freilich alle hineingehen, gehen nicht alle hinein!

Sehr viele Linke wollen von dieser Binsenweisheit aber nichts wissen. Von ihnen gibt es im Westen noch viel mehr als im zusammenbruchserfahrenen und deshalb realistischeren Osten. Ein wirklich guter Dialektiker würde die Übernutzung öffentlicher Güter als Antithese zum globalen Gerechtigkeitsstreben ernstnehmen und nach einer pragmatischen Politiksynthese von Sozial- und Nationalstaatlichkeit samt internationaler Solidarität suchen. Doch anscheinend finden sich die besten Dialektiker inzwischen nicht mehr auf der Linken, sondern in der politischen Mitte.

 

Bildquelle: https://www.google.de/search?hl=de&gl=de&biw=1082&bih=500&tbs=isz%3Al&tbm=isch&sa=1&ei=u1hoWrOZCpDQwAKy1Im4BA&q=dialektik&oq=dialektik&gs_l=psy-ab.1.0.0l3j0i30k1l2j0i5i30k1l3j0i30k1j0i24k1.76485.76485.0.79430.1.1.0.0.0.0.295.295.2-1.1.0….0…1c.1.64.psy-ab..0.1.292….0._OJDBWhNLKo#imgrc=jsQ1JdQ5GoF0WM:

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