Was ist Konservatismus?

Was ist Konservatismus?

Nachstehend findet sich ein Vortrag dieses Titels, den ich morgen bei einer Studentenverbindung in Köln halten werde. Sich als fortschrittlich empfindende Beobachter der Kölner Szene haben ihn gleich auch als den eines „Rechzskonservativen [sic] und Orban-Lobbyisten [sic]“ ausgemacht. Wie es um die Belesenheit und Tatsachenkenntnis solcher Leute steht, kann jeder einerseits anhand meines Buchs „Ungarn verstehen. Geschichte, Staat, Politik“ (München 2023: Langen Müller Verlag, 476 S.) ausfindig machen, und andererseits anhand des nachstehenden, auch schon publizierten Vortragstextes (Was ist Konservatismus – gerade heute?, in: Joachim Klose / Norbert Lammert, Hrsg., Balanceakt für die Zukunft. Konservatismus als Haltung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2019, S. 245-253).

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Zeitgemäßer Konservatismus

I. Von der Schwierigkeit, ein Konservativer zu sein

Mit dem Konservatismus hat es nur leicht, wer als dessen Gegner auftritt. Der nämlich steht für das gute Neue und gegen das schlechten Alte. Wofür aber steht, wer konservativ ist – es jedoch nicht bei einer Art Gefühl bewenden lassen will, sondern ausdrücklich zu sagen versucht, was er für richtig hält?

Der Ort des Konservativen scheint nämlich der „verlorene Posten“ zu sein, seine Truppe die murrende Nachhut. Noch jedes Gelände, das Konservative einst zu sichern versuchten, wurde inzwischen ja aufgegeben, wenigstens in Deutschland: die Monarchie, die Bindung des Staates an die Religion, die Liebe zum eigenen Land als inneres Bedürfnis, die Wehrpflicht als Ehrendienst, die Ehe als Verbindung allein von Mann und Frau, die Familie mit mindestens drei Kindern als Leitbild, Realitätsorientierung und praktizierte Rationalität als politische Grundnormen. 

Der Konservative von heute ist womöglich der Fortschrittliche von gestern oder vorgestern. Weshalb dann aber nicht gleich zu den Guten gehören, denen die neue Zeit ohnehin rechtgibt? Warum sich in der Fortschrittsdialektik auf die unbefriedigende Rolle der „These“ einlassen, wenn man unter dem Druck der „Antithese“ doch absehbar zur „Synthese“ werden muss – und als solche dann auch nur das immer wieder traurige Schicksal erfährt, niemals für Endgültiges zu stehen, doch auch nie für Neues?

Bereitwillig abfinden wird sich mit einer Rolle als bloßes Widerlager von Fortschrittseuphorie wohl nur, wer vor allem im Tradieren des Bestehenden seine Aufgabe sieht. Doch begeistern wird eher die Rolle des Reaktionärs, den auch verlorene Feldzüge freuen können, weil er nun einmal gerne kämpft. Doch jener Konservative, der gerade kein Reaktionär und viel mehr als ein Traditionalist sein will: Der hat es wirklich nicht leicht. Kein Wunder also, dass zum Konservativsein oft die sanft resignierende Melancholie gehört. 

II. Zur überkulturellen Grundhaltung des Konservativen 

Vielleicht aber neigt zu solcher Melancholie auch nur jener, der sein Konservativsein in allzu kurzer Perspektive betrachtet. Das ist jene, die nicht über die Französische Revolution und die Reaktionen auf diese zurückreicht. Denn längst vor dem Aufkommen seines heutigen Begriffs in Auseinandersetzung mit jener Revolution und ihren Umständen entstand Konservatismus immer wieder als abwehrende Reaktion auf solche Neuerungen, von denen man die Abkehr vom Bewährten oder den Aufbruch in allzu unsichere Gefilde befürchtete. Tatsächlich ist schon die römisch-republikanische Abneigung gegen die bloße „rerum novarum cupido“, gegen die „geschichtsvergessene Neuerungssucht“, ein authentischer Ausdruck der konservativen Grundhaltung. Spiegelbildlich drückt sich die gleiche Haltung aus in der – bis weit in die römische Kaiserzeit reichenden – Hochschätzung des „mos maiorum“, also im Sich-Aneignen und Befolgen der so erfolgreich handlungsleitenden „Sitten der Vorfahren“. Und im alten Ägypten wird wohl dasselbe Grundgefühl fassbar im Prinzip der Ma’at, sozusagen der gleichgewichtigen Achtung von Gerechtigkeit und Wahrheit bei einer die Weltordnung sichernden Lebens- und Staatsführung. Vergeht man sich dagegen bei Politik, Rechtsprechung und Kulthandlungen, so droht „isfet“, der Zerfall von Ordnung und soziokultureller Harmonie. 

Diese lange und kulturübergreifende Tradition von Konservatismus scheint recht vergessen zu sein. Der „kurze“ Blick auf die Entstehung von Konservatismus pflegt meist zu enden bei den intellektuellen und politischen Reaktionen auf die Aufklärung und auf den ihr entsprossenen politischen Liberalismus. Tatsächlich entstand die ins Heute reichende Entwicklungslinie des Konservatismus in den Positionsnahmen zur Französischen Revolution. Wer sich gegen deren Ideen, Praxis und Folgen stellte (wie Edmund Burke in England, oder Joseph de Maistre und François de Chateaubriand in Frankreich), verstand sich nicht selten als ein Befürworter zumindest von tragenden Prinzipien und bewährten Strukturen der dieser Revolution vorausgehenden Gesellschafts- und Staatsordnung. Zum Gegner hatte man somit die „Progressisten“, die Verächter der Tradition, die Parteigänger „bloßer Ideen“, jene Utopisten und Revoluzzer, die von „rein ausgedachten“ Prinzipien zu risikoreichen Gesellschaftsexperimenten verleitet wurden. Und also befehdeten Konservative damals die Anhänger von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, später die Befürworter von Republik, Demokratie und Frauenwahlrecht. Tatsächlich kämpften sie gegen viele Ideen, deren Verwirklichung den heutigen Konservativen ganz selbstverständlich und auch lieb ist. 

Bei vielen europäischen Konservativen geht der selbstvergewissernde Blick aber durchaus bis zum Mittelalter zurück. Aufrechtzuerhalten gilt es dann jenes „christliche Abendland“, das aus den barbarischen Jahrhunderten seit der Völkerwanderung hervorging, sich in der Renaissance seine säkularen antiken Wurzeln neu erschloss und über das Aufkommen von empirischer Wissenschaft, Aufklärung und industrieller Revolution zur zeitweiligen globalen Vormacht aufstieg. In diesem christlichen Abendland prägte das Christentum, welches auf den Dualismus von Weltlichem und Geistlichem gegründet ist, unsere Staatlichkeit so tiefgreifend, dass bis zum Aufkommen von zunächst Säkularismus sowie Laizismus und jetzt eben des politischen Islam die auch in Europa stets prekäre Spannungsbalance zwischen Religion und Politik wie eine „selbstverständliche Synthese“ empfunden wurde, nicht aber als ein grundsätzlicher Widerstreit der Eigenlogiken von Politik und Religion. In einem so ausgestalteten Sozial- und Denkraum kann dann das Schrumpfen christlicher Religiosität als Gefahr für das soziokulturelle und institutionell Erreichte gelten und liegt die Empfindung nahe, wenigstens das kulturelle Erbe des Christentums gelte es aufrechtzuerhalten, wenn schon der es einst schaffende Glaube am Erlöschen sei.

Doch wer dergleichen als ein Konservativer unternimmt, muss das Christentum schon um seine revolutionäre Dimension verkürzen und dessen Glauben weitgehend zur amts- oder volkskirchlichen Gewohnheit abschleifen. Ganz im Widerspruch dazu hatte nämlich der frühchristliche Theologe Tertullian völlig recht mit seinem Hinweis, Jesus habe sich nicht „die Gewohnheit“ genannt, sondern „die Wahrheit“; und damit habe er seine Anhänger auf eine kritische Distanz zu aller bloßen Tradition verpflichtet. Deshalb tun christliche Konservative gut daran, immer wieder im Neuen Testament Matthäus 22, 21 zu bedenken. Jesus sagt dort, man müsse zwar Gott geben, was Gottes sei – doch eben auch dem Kaiser, was des Kaisers wäre. Und das meint: Die Politik ist – anders als etwa im traditionellen Islam – gerade nicht zu reduzieren auf eine Anwendung religiöser Vorschriften in weltlichen Zusammenhängen, sondern Politik hat auch gottgewollt (!) einen eigenen Zuständigkeitsbereich des Gestaltens mit recht eigener Funktionslogik. Das ebenso schlichte wie schwierige Kernanliegen von Politik ist nun aber, wie einst Thomas Hobbes so überzeugend vor Augen führten, nichts anderes als die Errichtung, die Festigung und die Sicherung politischer Ordnung. Auf Italienisch heißt diese „lo stato“, auf Deutsch „der Staat“; und Niccolò Machiavelli fügte dem noch die Einsicht hinzu, dass derlei Ordnungssicherung mitunter auch den Einsatz fragwürdiger, ja verbrecherischer Mittel verlange.

Konservativen liegt zwar nichts an Unmenschlichkeit, sehr wohl aber viel am Fortbestand von Ordnung. Also denken sie gerne her vom Staat und loben ein Handeln gemäß dessen Räson. Doch als Christen beherzigen sie am besten dann auch noch die wichtige Einsicht aus dem Johannesevangelium 18, 36, wonach das Reich Gottes eben nicht von dieser Welt ist. Somit müssen sich gerade konservative Parteien, die zugleich christlich sein wollen, auf einen Spagat einlassen. In der Bergpredigt (Matthäus 5-7) zeigt sich ja eine Zielrichtung der Lehre Jesu, die alle Gewohnheiten und bestehenden Zustände umzustürzen vermag. Also kann Politik gemäß jenen Worten Jesu nur ein Revolutionär machen – und keineswegs jemand, der im Wesentlichen die Grundstruktur der jeweiligen „civitas terrena“ (Augustinus) aufrechterhalten will, solange diese sich bei der Sicherung halbwegs guter Ordnung unter oft ziemlich üblen Menschen bewährt. Weil aber solche Ordnungssicherung immer schon wichtig war, muss es gerade nicht wundern, dass es den Konservatismus im Grunde längst gab, bevor das Christentum in der Geschichte erschien.

Allerdings entstand durch diese, für das „christliche Abendland“ zutiefst prägende Religion genau jener Denk- und Sozialraum, in dessen ganz besonderer transzendenten Einbettung sich bis heute sehr viele Europäer gut geborgen und darum der Bewahrung des Bewährten verpflichtet empfinden. Doch ganz anders fühlt sich das Christentum für konservative Chinesen an, deren – bis heute konfuzianische – Zivilreligion ganz der harmonischen Stabilität verpflichtet ist. Und wieder anders empfinden das Christentum konservative Muslime, deren Staatsverständnis sich mit dem christlichen Dualismus heftig reibt. Hingegen verbinden in Europa viele mit dem Konservatismus weiterhin das ausdrückliche Eintreten für jenes Christentum, das – abgesehen vom Reformpapsttum des 11. Jahrhunderts oder vom Umbruch der Reformation – im Abendland noch jedes „ancien régime“ mittrug und deshalb von Europas jeweiligen Revolutionären immer wieder bekämpft wurde. Im Grunde verstehen sich heute viele Konservative als modernitätsskeptische Kulturchristen. Womöglich mehr als viele meinen gleichen sie darin jenem juste milieu des alten Israel, dem jener Jesus aus Nazareth ziemlich ungeheuer vorkam, der alles Etablierte in Frage stellte. Ein solcher christlicher Konservatismus erweist sich in vergleichender Perspektive dann als eine rein europäische Geisteshaltung und Politiktradition. Die aber wird mit dem Wegfall der einst ihre Entfaltung prägenden Frontstellungen – freiheitliche Republik gegen Obrigkeitsstaat, Aufklärung und Wissenschaft gegen Religion – zur Antwort ohne Frage, zum Habitus ohne haltungsverlangendes Problem.

III. Zum Kern von Konservatismus

Weiterhin erkennt man als Kern von Konservatismus eine teils pragmatische, teils grundsätzliche Skepsis gegenüber – wie es manchem scheint – „nur ausgedachten“ Gestaltungsmöglichkeiten und „rein erfundenen“ Veränderungsnotwendigkeiten kultureller, gesellschaftlicher und politischer Wirklichkeit. Im Grunde ist Konservatismus wirklich nichts anderes als ein ganz besonderes Verhältnis zur Wirklichkeit. Es einzunehmen, läuft auf die folgende dreifache Entscheidung hinaus: Ja, es braucht immer wieder Wandel des Bestehenden, und es lohnt, sich auf Neues einzulassen; zur rechtfertigen hat sich aber nie das bestehende Bewährte, sondern stets das behauptet Bessere; und mit allen Veränderungen geht man nach dem Prinzip des Lernens aus vorsichtigen Versuchen und redlich untersuchten Irrtümern um.

Allerdings war nicht selten – und ist oft weiterhin – eine konservative Grundhaltung auch das Ergebnis einer Desillusionierung angesichts unerwarteter Folgen zunächst begrüßter Neuerungen. Im Grunde setzt sich dann an die Stelle des selbstbewusst-zukunftsfreudigen Konservatismus jener drei Entscheidungen der verklemmte oder verhärtete Konservatismus dessen, der einst „gut gemeint“ mit „gut getan“ gleichzusetzen versuchte. Fortschritt empfindet man dann leicht als einen bedauerlicherweise unternommenen Schritt fort vom eigentlich gar nicht so Schlechten, welches man besser hätte bewahren sollen. Auf diese Weise hängt bis heute in verwickelten Wirkungsketten die Lebenserfahrung von Erwachsenen recht stark mit Konservatismus zusammen – und die ideenbegeisterte Jugendzeit mit dem Habitus von Fortschrittlichkeit.

Besonders folgenreich ist, dass Konservatismus und Fortschrittlichkeit, sofern nicht reflexiv-dialektisch auf einander bezogen, aufgrund ihrer inhärenten Denk- und Antriebsstruktur sehr leicht sehr weit auseinanderstreben. Eine fortschrittliche Haltung rankt sich meist um zündende Ideen, mitunter um eine ganze Weltanschauung, und sie beruht auf dem stolzen Glauben, mit Vernunftgründen könne man die Richtigkeit oder zumindest die Überlegenheit der eigenen Position überzeugend darlegen. Das macht „Theoriearbeit“ zur Quelle intellektueller Freuden und untersetzt politische Initiative mit Siegeszuversicht. Konservatismus ist hingegen oft nicht viel anderes als die präreflexive Bekundung von Zufriedenheit mit bestehenden Zuständen sowie die Ablehnung ihrer Veränderung. Das freilich schafft angesichts von Wandel Verlustängste, wappnet nicht für Argumentationsgefechte, macht Intellektuelle suspekt und jegliche Avantgarde verdächtig. Zur Grundhaltung des Konservativen wird dann die Defensive, zu jener des Fortschrittlichen die Offensive. Mit deren Schwung aber siegt es sich leichter – gleich ob in Talkshows, bei Wahlen oder im Ringen zwischen Revolution und Konterrevolution.

Schnell zeigt sich allerdings, dass beim Konservatismus eben doch mehr mitschwingt als der Wunsch nach Bewahrung dessen, was man eben schätzt. Fühlt nicht ein Grüner, dass er durchaus „kein Konservativer“ ist, schon gar kein Konservativer sein will, selbst wenn sein Trachten klar danach geht, ja keine genveränderten Pflanzen zuzulassen, das Erdklima stabil zu halten, keine Art mehr aussterben zu sehen und nur rückholbare Technik zu erlauben – was alles ganz gewiss den Tatbestand des Konservatismus erfüllt? Und wie könnte hierzulande jemand umgekehrt „ein Konservativer“ sein, wenn er an die Stelle der deutschen Kultur, die so oft als entwertet oder gar als nicht existent hingestellt wird, eine multikulturelle Gesellschaft setzen will? Oder wenn er die im Wortsinn von Natur aus zu uns Wirbeltieren gehörende Geschlechterdifferenz samt wechselseitiger Anziehung von männlichen und weiblichen Lebewesen für eine ganz beliebige sexuelle Option hält? Wer möchte sich im Übrigen „konservativ“ nennen lassen, wenn er die Errungenschaften der Arbeiterbewegung mit dem Stimmzettel oder gar gewaltsam verteidigt, also kämpft gegen „Reaktion“ und „Neoliberalismus“? Was macht es somit aus, ein Konservativer nicht nur – von außen besehen – zu sein, sondern sich als solcher auch zu fühlen

Diesbezüglich bestehen „subjektiv Konservative“ meist darauf, dass Konservatismus letztlich doch das Festhalten an ganz bestimmten – und eben nicht jedweden – Inhalten meine. Also könne ein richtiger Konservativer sogar zum echten Revolutionär werde, falls nämlich jene Inhalte, für die er steht, lange Zeit öffentlicher Anerkennung entzogen, ihrer Prägekraft beraubt waren – es jetzt aber Chancen auf deren neuerliche Inkraftsetzung gibt, die sich genau dann nutzen ließen, wenn man sich nur aktiv in ihren Dienst stellte. Konservatismus wird dann zur proaktiven Alternative des status quo. Und an entsprechenden Inhalten führen Konservative meist drei an: das Akzeptieren eines größeren Ordnungszusammenhangs, in den der einzelne Akteur einfügt ist und den er mitzutragen hat; das Festhalten an Hierarchie, welche Ordnungsstrukturen sowohl hier und jetzt verbürgt als auch der Zukunft aufzuprägen erlaubt; und bereitwilliges Lernen aus jenen Erfahrungen, die einem – selbst wider Willen – unabdingbare Ordnungszusammenhänge und Hierarchien vor Augen führen. Dies im Blick, erweisen sich die Französische Revolution und die von der Aufklärung angestoßene Säkularisierung als gewaltige Provokationen, die systematisch als „Konservatismus“ auszuformulieren veranlassten, was zuvor nur ein auf amorphe Weise sich auszudrückendes Grundgefühl von eingepasstem Lebens und angepasster Daseinsbewältigung war. 

So besehen, wird aber sehr deutlich, dass die dialektische Bezugnahme auf Aufklärung und Revolution eben doch eine rein europäische Engführung konservativer Selbstverständigung ist. Und deshalb erweist es sich als unzulänglich, Konservatismus allein am europäischen Gewahrwerden der genannten drei Elemente konservativen Denkens zu verankern. Als jener größere Ordnungszusammenhang, in den der Konservative alles Handeln einbetten will, muss ja nicht allein der vom Christentum geglaubte „göttliche Heilsplan“ für die Welt vorgestellt werden, sondern er kann auch – wie im Taoismus – die Ordnung der Natur sein. Und ordnungssichernde Hierarchie muss auch nicht nur die institutionelle Hierarchie des europäischen Staates oder der christlichen Kirchen sein, sondern sie kann sich auch aus den konfuzianischen Lehren zur Unterordnung des Jüngeren unter den Älteren, des Schülers unter den Lehrer ergeben – oder aus der islamischen Vorstellung, Gott habe über das Wort und die Praxis seines Propheten der Welt ein für allemal gezeigt, wie das „Haus des Friedens“ zu sichern und auszudehnen sein. Obendrein kann das, was mit „Lernen aus der Erfahrung“ gemeint ist, den Horizont der Schöpfer des europäischen Konservatismus weit übersteigen und sich vom universellen Algorithmus der Evolution belehren lassen. Dann aber zeigt sich: Wandel im Generationenwechsel ist ganz natürlich und bringt immer neue Spannungen zwischen Systemen und ihren Umwelten in dynamische Fließgleichgewichte; doch Wandel vollzieht sich eben nicht unter willkürlich zu schaffenden Umständen und auch nie nicht in beliebiger Gestaltungstiefe und Richtung. Aus diesem evolutionären Blickwinkel unterscheiden sich „Konservative“ und „Fortschrittliche“ dann aber weniger in ihren jeweiligen Inhalten als vielmehr darin, wie umsichtig sie beim politischen Handeln mit Inhalten umgehen.

IV. Konservative Inhalte für heute und morgen

Zwar kann man den Konservatismus weiterhin als eine letztlich dem Evolutionsprozess abgeschaute Methode auffassen, mit der – bewährte Ordnungsstrukturen, funktionierende Hierarchien und bereitwilliges Lernen im Sinn – auf neue Herausforderungen reagiert wird. Diesbezüglich brächte es noch heutige Konservative beim Debattieren mit ihren Gegnern weiter, wenn sie sich – wie einst Helmut Schmidts SPD – die von Karl Popper seit den 1940er Jahren entfaltete Sozialtheorie des Kritischen Rationalismus aneigneten. Gestützt auf wuchtige Argumente dieses großen Intellektuellen könnten sie dann jederzeit vortragen, dass die zentrale Methode einer nachhaltig ihre Errungenschaften bewahrenden Politik, und somit das wichtigste Werkzeug konservativen Strebens, die Gewohnheit schrittweisen Lernens durch Versuch und Irrtum ist, und zwar geleitet von der Bereitschaft, sich durch konkrete Erfahrungen viel gründlicher belehren zu lassen als durch noch so redlich aufgegriffene theoretische Argumente. Alsbald würde sich auch leicht erschließen, dass sich auf genau diesem Weg gerade die Leitidee des Konservatismus verwirklichen lässt: nämlich die Hege und Pflege einer „geprägten Form, die lebend sich entwickelt“, wie das Goethe einst im ersten der „Urworte orphisch“ formulierte.  Liebe zu bewährten Traditionen, Respekt vor den sie tragenden Werten, der Blick stets auch zurück in die Geschichte und nicht nur nach vorn: Das alles passt bei einer solchen Haltung bestens zum Versuch, Überkommenes und Übernommenes durch Weiterentwicklung auch für neue Generationen und Zeiten nutzbar und hilfreich zu machen. „Konservativ-fortschrittlich“ nannten sich deshalb nicht wenige Konservative schon im 19. Jahrhundert.

Doch es braucht Politik schon mehr als nur eine Methode, wenn sie – was Aristoteles einst ihr Ziel nannte – „gutes Leben“ ermöglichen will. Sie braucht genau dafür taugliche Inhalte, die es dann freilich auch methodisch ins Werk zu setzen gilt. Diesbezüglich lässt sich mit dem folgenden Begriffsdreieck angeben, wofür heutiger Konservatismus sinnvollerweise stehen sollte.

An der linken Spitze dieses Dreiecks steht „gerechte Ordnung“. Einesteils geht es hier um Recht und Ordnung, die zentralen Elemente jenes stabilen Zustands gesellschaftlicher Verhältnisse, die man in der italienischen Renaissance „lo stato“ nannte und woraus unser heutiger, allen Konservativen so wichtiger Staatsbegriff wurde. Doch es geht dabei nicht einfach um irgendeine machtgestützte Ordnung, so wertvoll diese angesichts der stets drohenden Gefahr von Bürgerkrieg und Staatszerfall auch sein mag. Denn Recht und Ordnung werden nur dann auf Dauer bestehen, wenn sie als gerecht empfunden werden. Dazu aber trägt am verlässlichsten bei, dass Recht und Ordnung so, wie in einem konkreten Staat verwirklicht, auch tatsächlich gerecht sind. Also ist Konservatismus ist nur unter den Bedingungen von Gerechtigkeit eine wirklich stimmige Haltung – und ist das Verlangen nach Gerechtigkeit keine sozusagen linke oder utopistische fixe Idee, über die sich ein Konservativer besserwisserisch mokieren dürfte.

An der Spitze jenes Dreiecks steht „Nachhaltigkeit“ oder – in leicht anderer Betrachtungsweise – „aufrechterhaltbare Entwicklung“. Das ist gleichsam der konservativste aller Wünsche eines Konservativen. Es sollen nämlich dem, was besteht und bewährt ist und sich gleichwohl weiterentwickelt, gerade im Lauf seiner Weiterentwicklung nicht die tragenden Grundlagen zerstört werden. Konkret geht es hier um demographische Nachhaltigkeit, um fiskalische Nachhaltigkeit, um energetische Nachhaltigkeit, um ökologische Nachhaltigkeit und um kulturelle Nachhaltigkeit. Das alles wird konkret auf sämtlichen Politikfeldern, die ein moderner Staat zu bestellen hat. Konservatismus darf deshalb nie einer bloß aufgesetzten Maske gleichen, sondern muss alles Entwerfen und Aushandeln und Umsetzen von politischen Konzepten prägen. 

Und an der rechten Spitze des Dreiecks steht „Patriotismus“. Der Begriff kommt vom lateinischen Wort „patria“. Es bezeichnet das Vaterland, die Heimat. Dort wächst man auf, schlägt ganz unbemerkt Wurzeln, fühlt sich zugehörig. Oder dort zog man einst hin, schlug dann bewusst Wurzeln und fühlt sich seither zugehörig. Wer aber eine solche „patria“ besitzt, der möchte dort meist auch ein gutes Gemeinwesen bestehen sehen. Nicht selten will man selbst zu dessen Gedeihen beitragen; und genau eine solche Bereitschaft sowie die aus ihr folgende gemeinsinnige Tätigkeit meint der Begriff des Patriotismus. Anders formuliert: Das, was uns wirklich, und gerade unter großen Zerrkräften zusammenhalten kann, ist nichts anderes als Patriotismus. Auch jeder Einwanderer kann zum Patrioten seines neuen Landes werden, denn beim Patriotismus kommt es niemals auf die Herkunft an, sondern allein auf das Zusammenwirken im Dienst einer gemeinsamen Zukunft.

Heutige Konservative denken ohnehin meist so. Sie haben deshalb viel weniger Probleme als Linke oder Grüne, Patrioten nicht nur zu sein, sondern sich auch so zu nennen. Und in der Regel werden sie ebenfalls die folgenden Inhalte eines zeitgemäßen, aufgeklärten deutschen Patriotismus teilen: Es geht um einen auf unsere freiheitliche demokratische Grundordnung bezogenen Verfassungspatriotismus; dieser wird konkret im politischen Handeln und Sprechen aus einem Gesamtverständnis der deutschen Geschichte und Kultur heraus, das mehr als die zwölf Jahre des deutschen Faschismus und die daraus zu ziehenden Lehren umfasst; es gehört zum Patriotismus der Deutschen die Verbundenheit mit ihrer jeweiligen Heimatregion, die innere Bindung an deren Mundart, Landschaft und Bräuche, was unter den Einwanderern auf lange Zeit deren innere Bindung an ihre Herkunftsländer einschließen wird; und es äußert sich Patriotismus in einer nicht nur tatkräftig ins Werk gesetzten, sondern immer wieder in ganz selbstverständlicher, gerade auch mittels der Staatssymbole Weise bekundeten Zuneigung zum eigenen Land und zu dessen Leuten, konkret zu Deutschlands Kultur und zu den Geltungsansprüchen dieses Landes als einer freiheitlichen, demokratischen und friedliebenden Nation. 

Gerechte Ordnung, Nachhaltigkeit und Patriotismus: Das alles zusammen macht gerade heute, im Zeitalter von neuen Verteilungskonflikten, angesichts des Wachstums unserer Spezies an die Grenzen der ökologischen Tragfähigkeit unseres Planeten sowie unter den gewaltigen Herausforderungen von Migration und Integration einen gegenwartsangemessenen und zukunftsträchtigen Konservatismus aus. Ihn sollten wir nun, jeder entlang seiner Kompetenzen, auf konkretes politisches Gestalten hin konkretisieren. Und wer das dann mit kluger Umsicht tut, der muss sich zu keiner Zeit sich angegriffen fühlen, wenn ihn ein anderer einen Konservativen nennt. Er steht nämlich – ohne Bewährtes zu vernachlässigen – schlicht an der Spitze von umsichtigem Fortschritt hin zu besseren Zuständen. 

Literaturhinweise

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Patzelt, Werner J.: Die „linksradikale BRD“. Positionen der Fortschrittler von gestern sind nicht selten die der Konservativen von heute, in: Sächsische Zeitung v. 8. Juni 2018

Schildt, Axel: Konservatismus in Deutschland. Von den Anfängen im 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 1998 (Beck)

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Walter, Franz: Konservatismus, Göttingen 2015 (Vandenhoeck & Ruprecht)

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