Regierung unter Lerndruck
Was für schöne Ziele hatte sich Deutschlands Ampel-Regierung gesetzt – bei den Erneuerbaren Energien, bei der CO2-Neutralität, bei der „wertebasierten Außenpolitik“! Dem guten Beispiel dieser moralischen Großmacht sollten dann auch andere Länder folgen. Doch keine drei Monate nach Regierungsantritt kam das Rendezvous mit der Wirklichkeit. Zwar wollten viele Deutsche lang nicht glauben, die entlang der ukrainischen Grenze zusammengezogenen Truppen Russlands sollten wirklich dazu dienen, nach der Krim und kleineren Gebieten in der Ostukraine auch noch ein ganzes Land zu unterwerfen. Doch beim Zusammentreffen von Wirklichkeit und Illusionen siegt stets die Wirklichkeit. Wer hingegen Illusionen hegt, wird unter Lerndruck gesetzt. Wie derzeit Deutschlands Regierung.
Die Grünen, jahrzehntelang so stolz auf ihren Pazifismus, wurden besonders rasch zu Realpolitikern. Sie lernten am Fall der Ukraine, dass Waffen schlicht nötig sind, um den Verlust von Freiheit abzuwenden oder Frieden durch Abschreckung zu sichern. Russlands bedrohliche Hinweise aufs eigene Nuklearpotential hatten sie überdies fühlen lassen, dass Abschreckung sehr wohl funktioniert. Die Liberalen, einst versessen auf das Finanzministerium zur Sicherung von Haushaltdisziplin, fanden plötzlich nichts dabei, gewaltige neue Schulden aufzuhäufen, um die Bundeswehr vielleicht doch wieder einsatzfähig zu machen. Und der SPD-Kanzler sprach bei seiner „Wende-Rede“ vor dem Bundestag plötzlich vom „nationalen Interesse“ Deutschlands. Dieses hatte man jahrzehntelang in den Schatten von Multilateralismus und universellen Werten gerückt. Kein Wunder, dass er diese Rede mit kaum jemandem abgestimmt hatte. Nur der erwünschte Überraschungseffekt machte nämlich jene sprachlos, die den deutschen Nachkriegs-Pazifismus weiterhin ernstnahmen und sich so sehr gewünscht hatten, die Ampel-Koalition werde den klassischen grün-sozialdemokratischen Kurs der Merkel-Regierungen fortsetzen – nur eben entschlossener. Und die Regierung insgesamt, die aus klima- und energiepolitischen Gründen den Preis für fossile Energien hatte hochsetzen wollen, beschloss nun teure Ausgleichsleistungen angesichts wirklich stark steigender Preise.
Doch seit sich die innenpolitische Schockstarre löst, rumort es in der Koalition. Teile der SPD-Fraktion bremsen den Kanzler immer wieder aus. In der FDP sorgt man sich über den Fortbestand einer finanzpolitischen Reputation der Partei. Und bei den Grünen überlegt man, wann jener Vertrauensvorschuss wohl aufgebraucht wäre, mit dem Deutschlands Medien seit langem diese Partei begleiten.
Derweil versucht die Union, sich als Opposition neu zu orientieren. Sie nutzt es aus, dass sich Kanzler Scholz von ihr Macht borgen muss, um überhaupt seine Politik durchsetzen zu können. Geschickt mischt sie dabei mit, einstige Fehler der deutschen Russland- und Energiepolitik eher der SPD anzukreiden als der langjährigen Kanzlerin Merkel. Die nämlich hatte sich die CDU untertan gemacht und innerlich gespalten. Das wirkt in der Union bis heute nach.
Ansonsten ist bezeichnend, dass viele Christdemokraten nun dem SPD-Kanzler das Durchhalten wünschen. Es soll sich aus der Untergrabung seiner Autorität durch die eigenen Leute bloß keine politische Dynamik dahin entwickeln, dass aus der Ampel-Koalition eine Jamaika-Koalition werden müsste. Dann nämlich würde das gesamte pazifistisch-linke Potential Deutschlands gegen einen CDU-Kanzler mobilisiert. Diese Truppen kann aber wirklich nur eine SPD-geführte Regierung in Schach halten. Auf solche Weise ist Deutschland aber wieder in der Lage, dass eine linke Regierung rechte Politik macht. So tat das einst Kanzler Schröder mit der Agenda 2010, und zwar zum Nutzen unseres Landes. Doch wird auch Kanzler Scholz Deutschlands Nutzen mehren, und welchen Preis wird er – samt der SPD – dafür zahlen müssen?
Ursprünglich erschienen bei „Hallo Meinung“ am 26. Mai 2022